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Die meisten Angehörigen schwiegen

In dem Buch "Die Belasteten" befasst sich der Historiker Götz Aly mit den Angehörigen von Menschen, die im Dritten Reich der Euthanasie zum Opfer fielen. Er wollte herausfinden, wie sie zu dem Vorgehen der Nazis standen und ob sie dagegen protestiert haben, sofern sie es wussten.

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich |
    "Liebe Mutter, Vater, Omi!
    Dein Paketchen und den Brief habe ich heute erhalten, freue mich sehr darüber, von zu Hause etwas zu hören. (...) Hier bin ich in der Schuhmacherei, ob sie mit mir zufrieden sind? Mache dir keine Sorgen, ich mache keine Dummheiten.
    Wenn Vater herkommt, so schreib mir vorher, damit ich wegen Ausgang fragen kann, vielleicht darf ich dann etwas länger bleiben. Bin neugierig, was der Landeshauptmann sagen wird, ehe Vater mich besucht, werde ich es wohl nicht erfahren.
    Wenn der Krieg zu Ende ist, wird man auch den Schleiher dieser Anstalten lüften, manchen wird dann vielleicht ein Licht aufgehen."


    Diesen Brief schickt der 18-jährige Walter Lauer am 7. April 1940 an seine Familie. Seit zwei Jahren ist er in der Heil- und Pflegeanstalt Scheuern in der Nähe von Koblenz. Er leidet an epileptischen Anfällen. Am 28. April 1941 wird Walter Lauer mit anderen Insassen nach Pirna-Sonnenstein deportiert. Er stirbt noch am selben Tag in der Gaskammer.

    Sein Brief erreichte die Eltern nicht, weil die Anstaltsleitung ihn in den Akten verschwinden ließ. Vor der Deportation bemühen sich die Eltern um ihren Sohn, wollen wissen, was mit ihm ist und möchten ihn zurückhaben. Doch ohne Erfolg. Ihnen wird lediglich mitgeteilt, ihrem Sohn werde nichts geschehen.

    Der Historiker Götz Aly hat den Brief von Walter Lauer in sein Buch mit aufgenommen. Wie auch viele andere Briefe und Zitate aus Patientenakten von Menschen, die der Euthanasie zum Opfer fielen.

    Für Götz Aly ist dieser Fall eher untypisch. Die meisten Familien von Behinderten, so schlussfolgert er aus seinen Recherchen, wollten nicht wissen, was mit ihren Kindern geschah, nachdem sie in die Anstalten gebracht wurden. Götz Aly vermutet:

    "Man kann annehmen, 80 Prozent der Menschen haben diese Morde hingenommen. Im Sinne von: Na ja, vielleicht war es besser so, wir wollen es nicht so genau wissen. Und der nationalsozialistische Staat hat diesen Angehörigen ein Angebot gemacht: Indem wir euch gefälschte Todesursachen mitteilen, also sagen, das Kind ist an Lungenentzündung gestorben oder der Erwachsene an Hirnschlag oder irgendwas, braucht ihr nicht genau zu wissen, dass er ermordet worden ist und ihr wollt das vielleicht auch nicht wissen. Und so kann man das Ganze im Halbdunkel halten."

    In der ersten Phase der sogenannten Euthanasie von Januar 1940 bis August 1941 werden etwa 70.000 behinderte Menschen getötet. Sie gelten als "Ballastexistenzen", die das Deutsche Reich nur unnötig Geld kosten und auch nicht mehr als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten. Nach öffentlichem Protest, besonders von den Kirchen, verbietet Hitler das Morden. Doch es wird weiter gemordet. Jetzt heimlich und viel mehr als je zuvor. Insgesamt werden von 1939 bis 1945 200.000 behinderte Menschen in Deutschland umgebracht.

    Götz Aly erinnert namentlich an viele dieser Ermordeten und beleuchtet auch die Situation ihrer Angehörigen.

    "Damals war das eine Schande, das hat die ganze Familie bedroht, weil der als erbkrank galt. Es hat die Lebenschancen, die Zukunftschancen der Familie gemindert. Es war Krieg, da haben Sie ganz andere Sorgen: Da denken Sie an den Sohn an der Front, an den Ehemann an der Front, an die Schwiegermutter in einer bombardierten Stadt, wie sie ihre Kinder über die Runden kriegen, ja. Dann ist es schwer, sich um einen Onkel, der in irgendeiner Anstalt 40 Kilometer weiter sitzt, zu kümmern."

    Dem Historiker Götz Aly geht es nicht darum, die Angehörigen zu verurteilen. Sondern herauszufinden, wie sie zur Euthanasie standen. Und ob sie gegen das Morden – sofern sie es wussten – protestiert haben.

    "Man hat auch untersucht inzwischen, wenn Menschen abtransportiert worden sind: 600 aus einer Anstalt kommen in eine Gaskammer und sind am nächsten Tag tot. Da haben sich im Fall dieser Deportierten nur etwa 120 Angehörige hernach erkundigt bei den Anstalten. Also mehr als 70 Prozent haben sich nicht einmal erkundigt. Und unter denen, die sich erkundigt haben, waren etwa 30 Protestschreiben. Das heißt, es waren rund sechs Prozent, die protestiert haben."

    Wobei der Protest durchaus erfolgreich sein konnte.

    "Wenn Angehörige sich auf die Hinterbeine gestellt haben und energisch gefragt haben, wenn der abtransportiert wurde: Wo ist der? Was ist da los? Wir wollen es jetzt wissen, und zwar sofort. Und es haben auch Leute an Hitler telegrafiert direkt. Dann hatten sie eine riesige Chance, diesen schon deportierten Menschen wieder zurückzuholen. Oder, wenn Eltern gesagt haben, Väter, die an der Front standen, sie wollen nicht, dass ihr spastisch gelähmtes Kind in ein Heim kommt, darüber wollen sie erst nach dem Krieg reden, im Moment sei alles gut, dann kam dieses Kind nicht in ein Heim. Dann wurde es nicht ermordet."

    Angehörige von einem Behinderten konnten auch etwas erreichen, wenn sie eng mit ihm in Kontakt blieben. So wurde in den Anstaltsakten festgehalten, wie oft er besucht wurde. Nach Auffassung von Götz Aly ist so getestet worden, wie schwierig es sein würde, den Betreffenden abzutransportieren.

    Als Vorstufe für das Morden an geistig und körperlich Behinderten wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts darüber nachgedacht, diese zwangsweise zu sterilisieren. Nicht nur in Deutschland, auch in den USA und in den skandinavischen Ländern.

    Gesetzliche Grundlage im Deutschen Reich ist das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das 1934 in Kraft tritt. Davon betroffen ist auch Dorothea Buck. Sie wird im Alter von 19 Jahren 1936 zwangssterilisiert, nachdem Ärzte bei ihr Schizophrenie diagnostiziert haben. Sie wird in die Bodelschwingschen Anstalten gebracht, wo die Insassen menschunwürdig behandelt werden. Dorothea Buck ist heute 95 Jahre alt und lebt in Hamburg. Was damals passierte, ist ihr bis heute sehr gegenwärtig.

    "Meine Mutter wurde dann vor die Wahl gestellt entweder meiner Sterilisation zuzustimmen oder mich bis zum 45. Lebensjahr in der Anstalt zu lassen. Und dann hat sie gesagt, das ist ja noch viel schlimmer. Und hat natürlich zugestimmt."

    Am 30. September 1936 wird Dorothea Buck zwangssterilisiert. Am frühen Morgen wird sie in den Operationssaal geschoben.

    "Ich sehe heute noch die Narkose-Schwester über mich gebeugt, da kriegt man diese Spritze und ich wachte dann wieder auf und hörte immer noch nicht, dass ich zwangssterilisiert worden war. Das habe ich von einer Mitpatienten erfahren. Und da war ich total verzweifelt."

    Die Zwangssterilisierungen werden das Vorspiel sein für eine Rassenpolitik, die am Ende für körperlich Behinderte und psychisch kranke Menschen die Tötung vorsieht. 1942, als dann heimlich gemordet wird und der Krieg schon in Deutschland angekommen ist, werden die Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten den Luftangriffen fast wehrlos ausgesetzt. Götz Aly:

    "Da werden die Landeskrankenhäuser, also die psychiatrischen Anstalten, die ja meistens etwas außerhalb von großen Städten lagen, als Reservekrankenhäuser benutzt für den Fall von Luftangriffen. Und da müssen die psychisch Kranken in diesen Krankenhäusern bleiben, also ihrer Anstalt, bis der Luftangriff kommt, damit der ganze Krankenhausbetrieb und alles in Betrieb bleibt. Und dann kommen die körperlich Verletzen rein nach dem Luftangriff und die psychisch Kranken werden deportiert in eine Mord- oder Sterbeanstalt. Und sterben oft binnen weniger Wochen oder manchmal sogar Tagen dort."

    Götz Aly: "Die Belasteten. Euthanasie 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte", Fischer-Verlag, 2013