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Die mitdenkende Beinprothese

Sensoren messen Gehirnströme und steuern damit direkt eine Prothese, "ich denke, also gehe ich": Das ist die Geschäftsidee des jungen Unternehmens SNAP. Namhafter Hersteller und Kliniken zeigen mittlerweile Interesse an der Technologieplattform.

Von Klaus Deuse |
    Eine junge Frau, die an den Ober- und Unterschenkeln mit Sensoren verkabelt an eine Messapparatur angeschlossen ist, bewegt sich Schritt für Schritt auf dem Laufband. Mal langsamer, mal schneller. Auf dem Kopf trägt sie eine Haube, die ebenfalls mit Sensoren ausgestattet ist und die bestimmte Hirnaktivitäten erfassen. Keine zwei Meter entfernt sitzt Astra Kohlmann vor ihrem Monitor und beobachtet aufmerksam die Messdaten während des Bewegungsprozesses:

    "Wir haben jetzt hier ein Cebris-Laufbandsystem stehen und in diesem Laufband integriert sind schon Druckmessplatten. Wenn der Fuß das Laufband betritt, wird das registriert und der gesamte Fußabdruck wird aufgenommen. Und auch die Stärke des Drucks, wie der Fuß auf dem Laufband auftritt, in welcher Winkelstellung, in welchem Maße, wie sich das Abrollverhalten verhält, das kann alles erfasst werden."

    Astra Kohlmann ist Mitarbeiterin bei SNAP in Bochum. Die Abkürzung SNAP steht für "Sensor Basierte Neuronal Adaptive Prothetik". SNAP stellt allerdings keine Prothesen her, sondern entwickelt mit diesem Messstand eine Sensortechnik, um Prothesen mit der Kraft von Gedanken zu steuern.

    Elf Mitarbeiter beschäftigt dieses medizintechnische Unternehmen im Umfeld der Ruhr-Universität, das 2010 als Forschungsbetrieb gegründet wurde. Bei der Entwicklung dieser Sensortechnik kommt es entscheidend darauf an, die Prozesse, die während des Laufens im Gehirn stattfinden, zu erfassen. Das geschieht über die 17 Sensoren in der Kopfhaube, die die Probanden bei den Messungen tragen, erläutert Projektleiter Professor Hartmut Weigelt:

    "Diese Elektroden erfassen einen Bereich von ungefähr zwei Quadratzentimetern und eine Tiefe von zwei Millimetern im Gehirn."

    Mit der entwickelten Technik ist es möglich, während des Bewegungsablaufes Frequenzen in verschiedenen Hirnbereichen zu messen. Insbesondere, wie das Auge die Umgebung beim Gehen erfasst und wie der für die Motorik zuständige Gehirnteil diese Impulse in Bewegung umsetzt. Diese Daten liefern die Bausteine für die Steuerung einer Prothese durch neuronale Signale. Bei nichtbehinderten Menschen, sagt Projektleiter Weigelt, findet der Bewegungsvorgang unbewusst in der Steuerung über das Kleinhirn und das Rückenmark statt. Mit der entwickelten Apparatur ist man bei SNAP einen entscheidenden Schritt vorangekommen:

    "Das heißt, jetzt finden wir tatsächlich Signale, die mit dem Gehen korreliert sind."

    Das Ziel ist es schließlich, Prothesen für körperbehinderte Menschen so individuell auszurichten, dass diese wieder nahezu jede Bewegung ausführen können. Dabei sorgt eine mechatronische Steuerung für eine Umsetzung der Gehirnsignale, wie sie auch in den echten Körperteilen stattfindet. Mit solchen intelligenten Prothesen sind selbst sportliche Aktivitäten wie Bergwandern möglich. Denn die Prothese fungiert nicht anstelle des Beins, sagt Geschäftsführer Uwe Seidel, sondern wie das Bein:

    "Unser Motto ist ja: Ich denke, also gehe ich. Und daraus leiten sich die Aktivitäten ab."

    Die SNAP GmbH beschäftigt elf Mitarbeiter. Vom Orthopädietechniker über Biologen bis zum Neurowissenschaftler. Wie eine Reihe anderer junger Unternehmen baut auch SNAP auf eine expandierende Gesundheitswirtschaft. Schließlich steigt in einer alternden Gesellschaft beständig die Nachfrage nach Medizintechnik. Vom Herzschrittmacher über Hüftgelenke und Gehirnimplantate bis eben zu Beinprothesen. Mittlerweile erwirtschaftet die Branche einen Jahresumsatz von rund 21 Milliarden Euro. Tendenz: steigend.

    Die von dem medizintechnischen Unternehmen aus Bochum entwickelte Technologieplattform kann Prothesenträgern zu einem bewegungsfreieren Leben verhelfen. Allerdings ist diese Technologieplattform, wie Geschäftsführer Seidel bekräftigt, nicht primär für den Patienten gedacht,

    "sondern für entwickelnde, forschende Unternehmen. Das können auf der einen Seite Hersteller von Prothesen sein. Es können aber auch Kliniken sein, die mit Patienten arbeiten und die Messeinrichtungen selber nicht im Hause haben."

    Der Markt für dieses Produkt ist jedenfalls vorhanden, wie Uwe Seidel am Beispiel einer Volkskrankheit deutlich macht:

    "Die Patienten, die wir im Fokus haben, sind die Personen, die Amputationen haben. Und zwar an den unteren Extremitäten, an den Beinen. Unterschenkel, Oberschenkel oder Gesamtamputationen. Und dazu gehört zum Beispiel die große Gruppe an Menschen, die unter Diabetes leiden und dann aufgrund ihrer Erkrankung Amputationen haben. Da sprechen wir nach den letzten Erhebungen der AOK von 40.000 Patienten, die in Deutschland eine Unterschenkelamputation haben aufgrund ihrer Erkrankung."

    Rechnet man noch die Zahlen anderer Krankenkassen hinzu, dann geht es wenigstens um 100.000 Patienten im Jahr, die eine Prothese benötigen. Nicht eingerechnet jene, die durch Unfälle ihre unteren Gliedmaßen verlieren. Für Prothesen mit individuell eingespeicherten Steuerungssignalen gibt es absehbar einen großen Bedarf. Außerdem muss sich der Träger dafür keiner Operation unterziehen, um ein Implantat eingepflanzt zu bekommen, betont Uwe Seidel:

    "Oder einen Chip oder eine Elektrode. Sondern unser Ziel ist es tatsächlich, ohne Operation über Elektroden, die außen an den Kopf angebracht werden, die Steuerung zu ermöglichen, was natürlich für den Patienten eine deutliche Erleichterung ist."

    Am Messstand hat Astra Kohlmann die Geschwindigkeit des Laufbandes erhöht. Dabei soll die Testperson für eine Zeitspanne die Augen öffnen, dann wieder mit geschlossenen Augen gehen. Die von den Sensoren in der Kopfhaube übermittelten Daten zeigen, dass sich die Gehirnaktivitäten verändern. Messergebnisse, die später mit in die Programmierung der mental gesteuerten Prothese einfließen, da sich im Alltag das Sehverhalten mehrfach situationsbedingt ändert. Und damit auch die Geschwindigkeit beim Gehen.

    Als Anschubfinanzierung hat SNAP 1,5 Millionen Euro vom Land Nordrhein-Westfalen und aus dem Europäischen Strukturfonds erhalten. Ganz offenbar gut angelegtes Geld für den Start in einen expandierenden Markt. Denn inzwischen hat ein namhafter großer Hersteller von Prothesen aus dem Ausland sein konkretes Kaufinteresse an dieser Technologieplattform bekundet. Ebenso wie mehrere Kliniken.