Archiv


Die Musik der Kastraten

In Wort, Bild und Ton erinnert die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli auf ihrem Album "Sacrificium" an das Leid und an die Kunst der Kastratensänger des 18. Jahrhunderts. Mit höchster Virtuosität bannt Bartoli eine so gut wie unbekannte, prächtig schillernde Musik auf CD.

Von Falk Häfner |
    Wer bloß ist auf diese Idee gekommen? - Jemanden zu verstümmeln, damit er schöner und höher singen kann. Es schaudert einen, wenn man von dieser im Barock durchaus gängigen Praxis hört, mit der acht-, neunjährige Jungs zu Kastraten gemacht werden sollten.

    Zum Glück gehören solche Eingriffe im Namen der Kunst heute der Vergangenheit an. Was bleibt, ist die Musik. Und die Kunst, sie mit nichtoperativen Mitteln dennoch zum Klingen zu bringen.

    Die dafür nötige Höhe beim Singen ist Cecilia Bartoli als Frau beziehungsweise als Mezzosopranistin von Haus aus gegeben. Doch um das Repertoire, das sie sich für ihr jüngstes Album ausgesucht hat, tatsächlich bewältigen zu können, bedarf es weit mehr. Darum geht es in den kommenden 20 Minuten. Falk Häfner begrüßt Sie dazu ganz herzlich.

    " Tr. 4
    Nicola Porpora:
    aus der Oper "Germanico in Germania":
    Parto, die lascio, o cara" (Ausschnitt) "

    Um überirdisch schön und rein zu singen, sollen Tausende junger Knaben im 18. Jahrhundert unters Messer gekommen sein. Angeblich sind etwa die Hälfte von ihnen bei diesem Eingriff, bei dem die Samenstränge durchtrennt werden, gestorben. Dennoch muteten nicht wenige Eltern ihren Söhnen diese Kastrationsprozedur zu: Hofften Sie für ihre Sprösslinge doch auf Ruhm als Opernsänger und damit natürlich auf das große Geld.

    Die Folgen waren eklatant: Nur die wenigsten machten tatsächlich Karriere. Zumal der Eingriff längst nicht Garant dafür war, dass der Knabe a) tatsächlich musikalisch talentiert war und b) seine Stimme sich wirklich wie gewünscht entwickelte.

    In jedem Falle aber geriet durch die Kastration der Hormonhaushalt der Knaben durcheinander. Die Folge: ein außer Kontrolle geratenes Wachstum. Die Gliedmaßen wuchsen über Gebühr, die Kastraten litten nicht selten an Fettleibigkeit.

    Und das alles vor dem Hintergrund, dass es Frauen aufgrund eines päpstlichen Edikts ab Ende des 16. Jahrhunderts verboten war, in katholischen Chören zu singen. Ihre Rolle übernahmen die Kastraten, die mit ihrer hellen, aber kräftigen Stimme fortan für die Sopranpartien eingesetzt wurden. Insgesamt 32 Päpste hätten sich am Kastratengesang in der Sixtinischen Kapelle erfreut, weiß der Booklettext der CD zu berichten. Und das, obwohl die Kastration auch damals schon bei Androhung der Todesstrafe verboten war.

    Cecilia Bartoli hat ihr Album nicht umsonst mehrdeutig "Sacrificium", also Opfer genannt. Und freimütig bekennt sie im Interview, dass es kräftemäßig für eine Frau eine enorme Herausforderung darstellt, derartige, für Kastraten bestimmte Partien zu singen. Hochgewachsene Sänger wie diese hätten natürlich auch ein größeres Lungenvolumen und könnten dementsprechend längere Phrasen ohne Luft zu holen singen. Atemkontrolle gehörte dementsprechend für Cecilia Bartoli seit einigen Jahren zum täglichen Trainingsprogramm auf ihrem Vokalparcours - offensichtlich mit Erfolg.

    " Tr. 3
    Francesco Araia:
    aus der Oper "Berenice":
    Cadrò, ma qual si mira (Ausschnitt) "

    Wahre Vokalakrobatik, gespickt mit technischen Herausforderungen, wie sie selbst in der virtuosen Barockmusik nur selten zu finden sind. Cecilia Bartoli nimmt die nicht enden wollenden Koloraturkaskaden buchstäblich im Sturm. - Phrasen von etwa 25 Sekunden ohne einen einzigen Zwischenatmer zu singen und dann auch noch in solcher Qualität - intonatorisch brillant und locker - da kann einem beim Hören der Mund schon mal offen stehen bleiben. Der Furor, den sie und die auf der vordersten Stuhlkante musizierenden Mitglieder von "Il Giardino Armonico" hier vorlegen, gerät zeitweise schon mal in die Nähe von Hysterie. Doch die ist in dieser Zornes-Arie von Francesco Araia durchaus berechtigt.

    So enthusiastisch-exaltiert manche Arie gerät, so austariert, samten und legatissimo weiß Cecilia Bartoli auf der anderen Seite aber auch die lyrischen Stücke auf diesem Album zu nehmen. Im geschickten Wechsel von virtuoser Höchstanspannung und lyrischer Entrücktheit zeigt sie ihre ganze, das Herz berührende Kunst. Ausgewählt haben Bartoli und ihre Mitstreiter Arien aus einer kurzen, nur ein knappes Vierteljahrhundert währenden Zeitspanne. Sie stammen allesamt aus den Jahren 1723 bis 1746. Im Zentrum steht dabei der neapolitanische Komponist Nicola Porpora. Er war gleichzeitig der Lehrer der berühmtesten Kastraten aller Zeiten wie Farinelli, Caffarelli, Porporino oder Salimbeni. Letzterer war am Hofe Friedrichs des II. in Berlin angestellt. Und für ihn komponierte der dortige Hofkapellmeister Carl Heinrich Graun unter anderem auch folgendes "Misero pargoletto".


    " Tr. 6
    Carl Heinrich Graun:
    aus der Oper "Demofoonte":
    Misero pargoletto (Ausschnitt) "


    Kommt Cecilia Bartoli mit ihrem Gesang tatsächlich den früheren Kastraten nahe? - Es ist müßig, darüber ein abschließendes Urteil fällen zu wollen. Kastraten gibt es nicht mehr. Und wenn man die wenigen Aufnahmen vom letzten Kastraten im Vatikan, Moreschi, zum Vergleich heranziehen möchte, so muss man sich mit der im Jahre 1902 noch wenig ausgereiften Aufnahmetechnik auf Wachszylindern abfinden und zudem in Rechnung stellen, dass Moreschi damals längst schon über seinen Zenit hinaus war.

    " CD Moreschi
    CD 3 Tr. 16 "

    Fest steht: Fiel damals ein berühmter Kastrat krankheitshalber aus, dann wurde er meist von einer Frau ersetzt und nicht von einem Falsettisten, also einem Countertenor. Auch rein technisch gesehen dürfte eine Frauenstimme der Stimme eines Kastraten näher kommen als ein Countertenor, da der Counter ja vor allem mit seiner Kopfstimme, weniger mit seiner Bruststimme singt.

    Das Album "Sacrificium" von Cecilia Bartoli versteht sich als umfassende Darstellung des Kastratentums in Ton, Wort und Bild. Und das zurecht. Die Edition bietet ein ganzes, 150 Seiten umfassendes, in drei Sprachen übersetztes und reich bebildertes Buch zum Thema. Darin findet sich ein ausführlicher, fundierter aber dennoch leicht verständlicher Einführungstext mit akribischen Quellennachweisen. Außerdem sind alle Arientexte in ihren Übersetzungen aufgeführt. Sogar die Herkunft der fotografierten antiken Skulpturen, die im Buch (als Fotomontage gemeinsam mit dem Konterfei der Bartoli) abgebildet sind, wird detailliert nachgewiesen. Und dann gibt es noch ein angefügtes "Kastratenlexikon", das interessante Nebeninformationen liefert - zum Beispiel:

    A wie Alibi

    Ein Unfall beim Spielen, eine unglückliche Kollision mit einem Zaunpfahl oder dem Horn eines Ziegenbocks, Bisse von Hunden, wilden Schweinen oder eines Truthahns, Geburtsschäden und Krankheiten - oder einfach ein Arzt, der die Anweisung der Eltern "missversteht" und den Knaben anstatt zu behandeln kastriert: Mit solchen Ausreden erklärt man im 18. Jahrhundert gern, wie ehrenwerte und berühmte Sänger in eine gewisse, missliche Lage geraten sind, die herzustellen eigentlich verboten ist.


    Verboten, aber geduldet. Immerhin gab es im Neapel des 18. Jahrhunderts vier Konservatorien, die Kastraten ausbildeten; von regelrechten Musikfabriken spricht der Begleittext; ebenso davon, dass in Rom über vielen Barbier-und Kurpfuscherstuben das Schild gehangen haben soll:

    "Qui si castrano ragazzi a buon mercato!" - Hier werden Knaben günstig kastriert.

    Kunst sei eine "in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem!" das sagte einst Albert Camus. Sollte dies der Schlüssel zum Verständnis dieses grausamen und doch in seiner Wirkung offensichtlich so betörenden Phänomens sein?

    " Tr. 5
    Nicola Porpora:
    aus der Oper "Siface":
    Usignolo sventurato "

    Tatsächlich wie eine Nachtigall gurrt hier Cecilia Bartoli in der Gleichnis-Arie "Usignolo sventurato" von Nicola Porpora. Ihr neues Album "Sacrificium" ist ein gelungener Versuch, sich dem Phänomen des Kastratentums zu nähern. Über 80 Minuten präsentiert sie gemeinsam mit "Il Giardino Armonico" erstmals so gut wie unbekannte, prächtig schillernde Musik, auf einer Bonus-CD liefert Bartoli zudem noch drei bekannte Bravourarien, darunter Händels "Ombra mai fu". Das in Buchform gehaltene CD-Album ist mit großer Liebe zum Detail gestaltet und macht mit seinen ausführlichen und fundierten Abhandlungen Lust, sich mit der Materie zu befassen. Ein opulentes, ein rundweg gelungenes CD-Projekt, das für das Label DECCA hoffentlich kein Opfer werden wird.



    Album: "Sacrificium"
    Cecilia Bartoli, Mezzosopran
    Il Giardino Armonico
    Giovanni Antonini

    DECCA
    LC 00171
    Bestellnr.: 478 15 21 2
    Cecilia Bartoli, Mezzosopranistin, hat eine neue CD eingesungen, eine Hommage an die Belcanto-Sängerin Maria Malibran
    Cecilia Bartoli, Mezzosopranistin (Deutschlandradio - Bettina Straub)