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"Die Musik der Zukunft"
Den Zauber des Neuen entdecken

Wie wird Musik in 100 Jahren klingen? Musikjournalist Robert Barry will diese Frage im Buch "Die Musik der Zukunft“ beantworten. "Er sucht nach Utopien, durch die Musik ein zukunftsweisendes Potential entfalten kann", sagte Raphael Smarzoch im Dlf. Dabei komme Barry zu einer überraschenden Prognose.

Raphael Smarzoch im Gespräch mit Juliane Reil |
    Roboter Pepper im Dlf-Studio
    Roboter Pepper hört Musik: Auch Science-Fiction-Sounds von Futuristen galten mal als zukunftsweisend (Deutschlandradio/Charlotte Voß)
    Juliane Reil: Musik, die ungefähr vor acht Jahren entstanden ist und futuristische Züge trägt. Wie wird wohl die Musik in 100 Jahren klingen? Diese Frage bewegt den britischen Journalisten Robert Barry. In seinem Buch "Die Musik der Zukunft", das jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist, versucht er eine Antwort zu finden. Bei mir im Studio ist der Kritiker und Journalist Raphael Smarzoch. Wie nähert sich Robert Barry denn der Frage?
    Raphael Smarzoch: Um es vorweg zu sagen, Robert Barry findet auch keine Antwort auf diese Frage. Es geht ihm gar nicht so sehr um die Musik selbst, sondern um das Denken über Musik und wie dieses Denken Musik verändern kann. Er sucht nach musikalischen Utopien, durch die Musik ein zukunftsweisendes Potential entfalten kann, das offenbar verloren gegangen ist. Und um diese futuristischen Qualitäten wiederzufinden, lohnt es sich, in die Vergangenheit zu blicken.
    Barry teilt nicht Simon Reynolds pessimistische Diagnose, die er in seinem Buch "Retromania" aufstellt. Dort heißt es, eine pathologische Obsession mit der Vergangenheit habe das 21. Jahrhundert befallen. Schuld daran seien die digitalen Archive des Internets, die offenbar alles Vergangene mit wenigen Clicks wieder verfügbar machten. Das hat offenbar dazu geführt, dass es nicht mehr interessant ist, den Versuch zu unternehmen, in die Zukunft zu blicken, sondern die Vergangenheit mit all ihren in Vergessenheit geratenen Sounds und Ideen durchzuarbeiten.
    Barry glaubt allerdings nicht daran, dass Originalität durch ein elaboriertes Wissen über die Vergangenheit sabotiert wird. Ihn inspiriert, dass es in der Moderne noch das Gefühl für die Zukunft gab, über das heutige Musiker kaum zu sprechen oder zu verfügen scheinen. Und diesem besonderen Gefühl, diesem Denken, geht er nach. Er möchte also den "ursprünglichen Futurismus" in der Musik wiederentdecken, um dadurch Anregungen zu finden, um sich heute eine Musik der Zukunft vorstellen zu können.
    Zukunftsgerichtete Sprache
    Reil: Was genau bedeutet das, sich eine Musik der Zukunft vorstellen zu können?
    Smarzoch: Er geht auf Zeitreise, sozusagen zurück in die Zukunft und stellt Komponisten wie Edgar Varèse oder John Cage vor. Die Futuristen mit ihrer Geräuschmusik dürfen natürlich auch nicht fehlen. Außerdem hört er Instrumenten wie dem Theremin zu, das durch den häufigen Einsatz in Science-Fiction-Filmen untrennbar mit Außerirdischen und Ufos verbunden war, also mit dem Unbekannten, Fremden oder der Zukunft selbst.
    In diesem Kontext führt er auch den afroamerikanischen Jazz-Musiker Sun Ra ein, der seine Ensemblemitglieder als "Tonwissenschaftler" bezeichnete, in merkwürdigen Kostümen auftrat, seine Konzerte "Kosmosdramen" nannte und in seiner Musik auch immer wieder Ideen aus der Science-Fiction verarbeitete. Das heißt, er verwendete eine Sprache und folgte einem Denken, das zukunftsgerichtet war. Und genau das fehlt heutzutage. Musiker würden nicht mehr Utopien entwerfen, behauptet Barry, keine Zukunftsszenarien mehr imaginieren und ihre Fantasie gebrauchen.
    Reil: Was kann man dagegen tun?
    Smarzoch: Zu lösen haben dieses Problem nicht nur die Musiker, sondern auch wir, die Journalisten. Denn es liegt auch an der Musikpresse, neue Diskurse zu stiften und originelle Ansätze zu finden, über Musik zu sprechen. Es geht darum, Musik mit einer neuen Sprache auszustatten, neue Begriffe zu erfinden, neue Genres zu kreieren - und dabei auch den Mut zum Scheitern zu haben, Fehler zu machen.
    Zuletzt passierte das beispielsweise vor ungefähr acht Jahren. Journalisten verglichen die Musik von James Ferraro, Elysia Crampton - damals noch als E+E tätig - oder Arca mit den hochauflösenden Bildern von Flachbildschirmen, Smartphones und Tablets. Man sagte, dass etwas "glossy" klänge oder verglich ihren Sound auch mit hyperrealistischen CGI-Effekten, wie man sie in großen Hollywood-Blockbustern sehen kann. Und das gab dieser Musik für kurze Zeit eine futuristische Qualität, den Zauber des Neuen. Barry spricht auch in Anlehnung an den Internet-Theoretiker James Briddle von einem sogenannten musikalischen Netzwerk-Realismus.
    "Wir leben in einer absoluten Gegenwart"
    Reil: Welche Rolle spielt das Internet in diesem Zusammenhang?
    Smarzoch: Das liegt paradoxerweise am Internet selbst. Die digitale Realität, die heutzutage unser gesamtes Leben bestimmt, auch die Musik, ist gleichzeitig auch der Grund dafür, warum Zukunft nur unter erschwerten Bedingungen gedacht werden kann. Im Internet herrscht eine ganz andere Zeitlichkeit. Alles passiert gleichzeitig. Und da es mittlerweile keinen Unterscheid mehr zwischen virtueller und einer sogenannten realen Welt mehr gibt, ist dieses Zeitverständnis omnipräsent geworden. Wir leben in einer absoluten Gegenwart. Zukunft und Vergangenheit scheinen, verlorengegangen zu sein. Die Zukunft ist bedeutungslos geworden und ist auch nicht mehr positiv besetzt. Und das wiederum resultiert in einem Verlust von Einbildungskraft.
    Musik muss sich mit "der Eigenlogik des Internets" auseinandersetzen, schreibt Barry, um wieder ein progressives, zukunftsgerichtetes Potential zu entwickeln. Zurzeit macht das im Pop beispielsweise nur der Hip-Hop. Rap-Musik hat sozusagen das Netz verinnerlicht, von kostenlosten Mixtapes, die ausschließlich online veröffentlicht werden, der Verwendung von Internet-Memen, bis zu der Form von Hip-Hop-Tracks, die sich oftmals mit ihrer kurzen Länge an den Vorgaben bzw. der Rasterung der Streaming-Dienst-Algorithmen orientieren.
    Es wäre schön gewesen, wenn Barry diese Themen in seinem Buch intensiver angesprochen hätte. Dennoch ist "Die Musik der Zukunft" äußerst lesenswert, gut recherchiert und unterhaltsam geschrieben.
    Robert Barry: "Die Musik der Zukunft"
    Verlag Bittermann Berlin, 240 Seiten, 20 Euro.