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Hendrik Otremba: „Benito“
Die Mythen der alten BRD

Hendrik Otremba schickt einen Autor in der Krise auf eine ominöse Reise in die eigene Vergangenheit. Sein alter Freund Benito hat aus Verzweiflung mit einem vermeintlich terroristischen Akt die Öffentlichkeit aufgerüttelt.

Von Enno Stahl | 27.10.2022
Hendrik Otramba: "Benito"
Hendrik Otramba, Mitglied der Band "Messer", hat mit "Benito" seinen dritten Roman veröffentlicht. (Portrait: Kat Kaufmann / Cover: März Verlag)
Da ist ein ausgebrannter Schriftsteller. Drei Jahre hat er sich in den Apennin zurückgezogen. Dann erhält er eine mysteriöse Einladung in ein Hotel in Bonn. Warum er die Einladung annimmt und seine Eremitage nun plötzlich aufgibt, erfährt man nicht. Wahrscheinlich ahnt er etwas. Es geht um den Festakt im Rahmen eines großen Wirtschaftskongresses.
Parallel wird eine Kindheitsgeschichte erzählt. Fünf junge Pfadfinder, die sich selbst die „schwarzen Steine“ nennen, gehen mit einem etwas älteren Anführer, dem „Häuptling“, auf eine Kanufahrt. Einer der Jungen, Benito, ist blind. Der Erzählton ist zurückgenommen, reserviert, fast wirkt es, als verschweige der Verfasser bewusst etwas. Etwas Dunkles, Geheimes, das sich indes unterschwellig ankündigt. So beschreibt Otremba beispielsweise einen der Jungen, Kippe, der so heißt, obwohl ihn noch nie jemand rauchen sah:
„Kippe war stark und schlau, seine Schönheit eroberte die Räume, die er betrat (…) Kippe war die rechte Hand des Häuptlings, der ihn ebenfalls noch nie hatte rauchen sehen. Doch all diese Eigenschaften tanzten auf einer Eisfläche, die zwar trug, sicheres, dickes Eis war, aber deren darunter liegendes Wasser das Fragile bedeutete, abgegrenzt und versteckt, für eine andere Zeit und aus einer anderen Zeit.“

Dunkle Andeutungen, fragile Wirklichkeit

Dieses Fragile findet sich in Otrembas Roman überall – in der Pfadfindervergangenheit ebenso wie in der Gegenwart des Ich-Erzählers. Natürlich sind beide Erzählstränge miteinander verknüpft, einer der Jungen ist der spätere Schriftsteller, der hier gewissermaßen beide Geschichten aufzeichnet. Der Roman kommt zunächst recht langsam in Fahrt, wartet aber dann mit einem Knalleffekt auf.
Der Festakt im Bonner Hotel wird von einer Terrorattacke heimgesucht. Ein vermummter Mann schießt um sich, flieht, der Erzähler folgt ihm aus irgendeinem Instinkt heraus und erkennt Benito, seinen Gefährten aus Pfadfindertagen. Der Attentäter zündet sich an und stirbt unter den Schüssen der Polizei. Doch außer ihm selbst ist niemand zu Schaden gekommen. Er schoss mit Platzpatronen.
Alle zerbrechen sich den Kopf über die Motive des Täters. Dann meldet sich ein anonymer Anrufer beim Ich-Erzähler, anscheinend ein weiterer früherer Pfadfinderkumpel, der dunkle Andeutungen macht. Der Schriftsteller beschließt, ins Ruhrgebiet zu fahren, wo seine Mutter noch lebt und auch die alten Freunde. Er ist sicher, hier die Wahrheit zu erfahren.
„Ich würde Kippe ausfindig machen müssen. Wir würden reden. Ich würde mit allen Schwarzen Steinen reden, wurde auch Maus und Uğur suchen. Etwas lag in der Vergangenheit verborgen, und ich würde so lange danach graben, bis ich es fand.“

Wie Benito zum Attentäter wurde

Es stellt sich heraus, dass die Pfadfinderbande von einst in den Anschlag verwickelt ist. Vieles, das der Protagonist verdrängt hat, kommt nun nach und nach wieder ans Licht. Die erwähnte Kanufahrt war ihm zuvor nur in Bruchstücken präsent, sie aber ist der Schlüssel zum Ganzen. Auch entdeckt er die geheime Krypta unter einer verlassenen Kirche, wo Benito, unterstützt von den übrigen Schwarzen Steinen, in seinen letzten Lebensjahren gehaust hat.
Man erfährt, welche Literatur er gelesen hat und welche Filme er sich angeschaut hat. Zahlreiche Tonbänder hat er besprochen. Fast alles darauf hat mit Verzweiflung und Depression zu tun, Anarchismus und Rebellion sieht er als Ausweg. Doch die Wurzeln für Benitos Entwicklung gründen tief:
„Wann hatte es begonnen, wann hatte es damit angefangen, dass er so wurde, dass er so war? Damals, Jahre vor dem Tod des Häuptlings schon, im Moment des Unfalls, als er erblindet war und seine Eltern verloren hatte? Oder hatte es in den Jahren danach begonnen, vielleicht auch erst auf der Flussfahrt?“

Ein traumatisches Schlüsselerlebnis

Auf der Kanufahrt hat sich damals ein Unglück ereignet, der „Häuptling“ ist Opfer eines Jagdunfalls geworden. Besonders für Benito ist das ein Schock. Er besteht aber darauf, dass sie die Reise fortsetzen und nicht etwa die Polizei benachrichtigen. Schwer traumatisiert, irren die Jungen wochenlang durch die Gegend. Eine seltsame Landschaft, die von noch seltsameren Einsiedlern bevölkert ist.
Die Erlebnisse der Jungen nehmen zunehmend surreale Züge an – vielleicht als Zeichen ihrer fortgesetzten Verstörung. Benito vor allem zeigt fast Anzeichen von Wahnsinn, Otremba weist ihm sukzessive die Rolle eines „blinden Sehers“ zu. Für den Leser wird es hier allmählich unglaubwürdig, wenn der elfjährige Junge daherredet wie einer der Weisen der letzten Tage:
„Die Luft wird voller Gift sein! Die Meere sterben, die Pflanzen sterben, die Tiere sterben. Die Luft ist verpestet. (…) Wir tun der Welt Gewalt an, mit unseren Taten, mit dem Schweigen, den Lügen. Wir werden im Chaos enden. Und niemand wird mehr sein, davon zu berichten. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war, und so werden wir Menschen die Zeit begreifen als etwas, gegen das wir nicht gewinnen können und das kein Verzeihen kennt.“

Fataler Zivilisationshass

Spricht so ein Kind dieses Alters? Wohl kaum. Benitos salbungsvoller Stil erinnert an das expressionistische O-Mensch-Pathos früherer Tage. Heute mutet es eigenartig an. Wahrscheinlich will Otremba so eine Verschiebung der Wahrnehmung bewirken, um über diesen delirierenden Jungen Kritik an Naturzerstörung und Kapitalismus zu üben. Aber ist der kleine Benito das richtige Sprachrohr?
Die Verstiegenheit des Kontexts, in dem diese durchaus ernstzunehmenden Vorbehalte gegen unsere Gesellschaftsordnung geäußert werden, schmälert deren Wirkung beträchtlich. Der Zivilisationshass, der Benito als Erwachsenen zu dieser verzweifelten Tat getrieben hat, schlägt auch den Ich-Erzähler in Bann. Unter dem Einfluss von dessen Ideen sorgt er selbst für ein Fanal: Er sprengt eine Fernsehshow, zu der er als Talkgast geladen ist.
Dennoch endet das Buch tröstlich, was kaum zu erwarten war. Aber so ist das Leben eben, zwar heilt die Zeit nicht alle Wunden, manche aber schon.
Hendrik Otremba: „Benito“
März Verlag, Berlin.
504 Seiten, 28 Euro.