Offiziell gibt es natürlich keine Klassengesellschaft mehr in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Und auch die frühere Arbeiterschaft existiert so nicht mehr. Aber zahlreiche Soziologen, Politologinnen und andere Experten diagnostizieren schon lange eine neue Klassengesellschaft. Die hat mit geschlechtlichen Unterschieden zu tun, mit Zuwanderungsfragen, mit Aufenthaltsstatus und Vielem mehr.
Zu Beginn der Pandemie waren sie plötzlich im Rampenlicht: die wahren Leistungsträger unserer Gesellschaft - die Pfleger, die Verkäuferinnen, die Kurierfahrer, die Erntehelferinnen. Ein Buch nimmt nun die ganze Bandbreite der – so der Titel – "Verkannten Leistungsträger:innen" – in den Blick. Der Sammelband vereint mehr als 20 Aufsätze zu verschiedenen Berufsgruppen, in denen jeweils ein oder mehrere Vertreter aus Deutschland und der Schweiz zu Wort kommen, und ordnet diese Gruppen auch in bestimmte Tätigkeitsbereiche ein. Herausgegeben haben diesen Band die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja und ihr Fachkollege Oliver Nachtwey.
"Die Klassengesellschaft war nie weg"
Die "verkannten" Leistungsträger, seien diejenigen, "die in ihrer Arbeit große Leistungen erbringen, deren Position dies jedoch nicht angemessen widerspiegelt". Die Herausgeber plädieren für einen Leistungsbegriff, der die Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Beziehungen mehr in den Blick nimmt. Das heißt zu schauen, wer unseren Alltag, unsere Gesundheit, Versorgung und Sicherheit unterhält. Das seien die Pflegerinnen, Erzieher, die Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel oder auch die Lkw-Fahrer, wie sich gerade in Großbritannien zeige.
Nachtwey erläutert im Deutschlandfunk: "Die Klassengesellschaft war nie weg. Sie war nur weniger sichtbar für eine gewisse Zeit in der Bundesrepublik oder in den meisten westlichen Gesellschaften, weil in dieser Zeit Personen aus der Arbeiterschicht einen durchaus starken materiellen Aufstieg erfahren haben."
Seit etwa 20 Jahren gebe es ein neues unteres Drittel in der Gesellschaft. Und zudem ein unteres Fünftel, etwa 20 Prozent der Bevölkerung arbeite im so bezeichneten Niedriglohnsektor, diese Menschen hätten kaum Aufstiegschancen und Einkommen rund um die Bemessungsgrenze für Sozialhilfe oder Transferleistungen. Das verursache weitere Nachteile: Wer in Metropolen arbeite, könne sich dort die Miete nicht leisten; lange Anfahrtswege bedeuteten mehr Kosten, Stress und weniger Freizeit. Das mache eine Klassengesellschaft aus: gehäufte und einander verstärkende Nachteile.
Die Kehrseite der früheren Aufstiegsgesellschaft
"Es sind häufig Frauen und Migranten, die diese Tätigkeiten ausüben. Und das ist so ein bisschen das ‚dirty little secret‘ der ehemaligen Aufstiegsgesellschaft", führt Nachtwey aus.
Die Sorgearbeit für die Mittelschicht übe jetzt die neue migrantische Unterschicht aus. Der Mindestlohn habe schon etwas bewirkt, aber da Klasse multidimensional sei, müsste man auch Bereiche wie Wohnen in den Blick nehmen, um ein besseres Leben für die neue Unterschicht zu ermöglichen.
Auf die Frage, ob die Aufmerksamkeit während der Corona-Krise etwas in Bewegung gesetzt habe, betont Nachtwey mit Blick auf die Portraits:
"Das sind alles Menschen, die einen eigenen Begriff von Würde haben und auch etwas leicht Kämpferisches haben. Viele der Berufe, die wir portraitiert haben, die sind ja im Alltag im Schatten. Die sieht man nicht, aber die haben in dem Moment sich selbst gesehen, welche Macht sie eigentlich in der Gesellschaft haben und dass ohne sie dieser Laden dann eben nicht so richtig weiterläuft. Und das hat diesen Menschen einen kleinen Selbstbewusstseinsschub gegeben."
Das sei natürlich noch kein Klassenbewusstsein, aber es sei ein Platz innerhalb der Gesellschaft, von dem aus man aktiv werden könne.
Oliver Nachtwey, Nicole Mayer-Ahuja (Hg.): "Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft"
Suhrkamp Verlag, 567 Seiten, 22 Euro.
Suhrkamp Verlag, 567 Seiten, 22 Euro.