"Ihr werdet es einmal schlechter haben als wir." Diesen Satz könnten heute viele ältere Menschen in Deutschland zu ihren Kindern sagen und würden damit vermutlich recht behalten. Denn was vor einigen Jahrzehnten noch als selbstverständlich galt, ist heute gar nicht mehr so leicht: Sich Wohlstand zu erarbeiten, und es aus eigener Kraft zu mehr zu bringen als noch die Eltern.
Vielen jüngeren Menschen geht es sogar heute schon wirtschaftlich schlechter als den eigenen Eltern. Zu diesem Schluss kommt die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs in ihrem Buch "Working Class", Untertitel: "Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können". Dazu begleitete Friedrichs Menschen in Deutschland, die sich trotz Arbeit ihr Leben kaum leisten können oder zumindest nicht in der Lage sind, Rücklagen aufzubauen. "Die eben allein von ihrem Arbeitsnetto leben müssen", erklärte Friedrichs im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
"Sie können keinen Wohlstand aufbauen"
In ihrem Buch ist das beispielsweise Sait, "der in Berlin die U-Bahnhöfe reinigt – für 10,56 Euro brutto die Stunde". Oder Alexandra und Richard, die als Musikschullehrer auf Honorarbasis arbeiten, 110 Schüler pro Woche unterrichten und nur Geld bekommen, wenn die Stunden stattfinden, also "wenn sie nicht krank sind, keine Ferien sind und auch keine Pandemie". "Die landen bei ungefähr 3.000 Euro netto pro Monat. Das ist natürlich Geld, mit dem man nicht arm ist. Die können davon ihre vierköpfige Familie ernähren. Aber sie können eben keinen Wohlstand aufbauen, keinen Puffer, kein Vermögen", führt Friedrichs aus.
Sie habe den englischen Begriff "Working Class" gewählt, weil sie die den deutschen Begriff "Arbeiterklasse" für verbraucht halte, sagt Friedrichs. "Wir denken an den Kohlekumpel, an den Fabrikarbeiter am Band – das sind, gerade wenn wir vom Fabrikarbeiter in großen Unternehmen ausgehen, eben oft Berufe, mit denen man sich auch heute noch ein gewisses Vermögen aufbauen kann."
Die neue "Working Class" seien Menschen, die dies gerade nicht könnten. Sie arbeiteten oft in Dienstleistungsberufen, seien oft Frauen und oft auch Menschen mit Migrationsgeschichte – insgesamt "eine sehr vielfältige und diverse Gruppe". Dazu zählten etwa 50 Prozent der Menschen, die in Deutschland arbeiten. Sie hätten weder kein Vermögen noch Rücklagen .
Arbeitsverdichtung, gesunkene Löhne und Zinsen
Die Angehörigen der "Working Class verdienten heute – kaufkraftbereinigt - zum Teil weniger als ihre Eltern. Dafür gibt es laut Friedrichs mehrere Gründe. So seien die Löhne, insbesondere in den unteren Segmenten, in den 1990er-Jahren in Deutschland stark gesunken und danach nicht wieder gestiegen. Darüber hinaus seinen bestimmte Berufe outgesourced worden, eine Folge davon: "Die Arbeit wurde verdichtet und die Arbeitsbedingungen wurden prekärer."
Zudem seien Sozialabgeben und Wohnkosten gestiegen, die Zinsen dagegen nicht. "Das heißt, aus dem Ersparten wurde nicht mehr. Und all das zusammengenommen führt zu der Lage, dass die Menschen zwar das Gefühl haben, sie strampeln sich wahnsinnig ab, aber sie kommen nie auf die sichere Seite."
Arbeit wird mehr belastet als Vermögen
Verantwortlich dafür ist für Friedrich die Politik: "Zum einen, dass man sich entschieden hat, in Deutschland, dass wir unseren Staat hauptsächlich mit Steuern und Abgaben auf Arbeit und Konsum finanzieren und eben nicht durch Steuern auf große Vermögen oder auf Erbschaften." Das führe dazu, dass diejenigen, die nur ihre Arbeit haben, dann tendenziell stärker belastet werden. Auch der Mindestlohn sei erst sehr spät eingeführt worden und auf einem Level gehalten worden, "das dazu führt, dass man, selbst wenn man Vollzeit arbeitet und den Mindestlohn bekommt, nicht eine Familie von diesem Lohn ernähren kann."
Inzwischen wachse jedoch auch in der Politik die Erkenntnis, dass falsche Entscheidungen getroffen wurden. "Aber es ist wahnsinnig schwierig, diese Entwicklung wieder zurückzudrehen und beispielsweise Vermögen wieder zu belasten."
Gefahr für die Gesellschaft
In der Pandemie habe sich auch gezeigt, dass diejenigen, die nicht in der Lage sind, Vermögen aufzubauen, von Widrigkeiten des Lebens sofort existentiell betroffen werden. Auch wenn es noch zu wenig Daten gebe, sei zu befürchten, dass die Corona-Pandemie die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößern werde, sagte Friedrich.
Für die Zukunft sieht die Journalistin eine "ganz, ganz große Gefahr darin", dass diejenigen, die trotz größtem Einsatz das Gefühl haben, nicht voranzukommen, aufstecken und sich frustriert zurückziehen. "Und sagen: Ich bin kein aktiver Bürger dieses Landes mehr." In einigen westlichen Industrieländern sei eine solche Entwicklung schon zu beobachten.
Um Gegenzusteuern bedürfte es nach Ansicht von Friedrichs nicht nur höherer Löhne und ein anderes Steuersystem, sondern auch "ein Anerkennen, dass bestimmte Berufe notwendig" seien, die dann auch entsprechend bezahlt werden müssten – "sei es in der Reinigung, sei es in der Pflege oder bei den Kassiererinnen – ich glaube, die Liste ließe sich noch sehr, sehr lange fortführen."