Archiv

Die neuen Rechten und die Erinnerungskultur
"Die AfD ist radikaler als der Front National"

Die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Grundvoraussetzung für den Aufstieg der europäischen Rechten. Diese These belegt die Journalistin Géraldine Schwarz in ihrem Buch “Die Gedächtnislosen“ anhand ihrer eigenen deutsch-französischen Familiengeschichte.

Géraldine Schwarz im Gespräch mit Dirk Fuhrig |
    Das Bild zeigt die Autorin Géraldine Schwarz und das Cover ihres Buches "Die Gedächtnislosen"
    Die Autorin Géraldine Schwarz und ihr Buch "Die Gedächtnislosen" (Buchcover: Secession Verlag, Autorenportrait: Mathias Bothor)
    Für ihr Buch "Die Gedächtnislosen - Erinnerungen einer Europäerin" wird Géraldine Schwarz am 5. Dezember 2018 im Europäischen Parlament in Brüssel mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. Die Autorin spürt den unterschiedlichen Arten der Vergangenheitsbewältigung nach und zeigt, wie das Vergessen des Zweiten Weltkriegs den aktuellen Wiederaufstieg rechten Gedankenguts und des Nationalismus in Europa begünstigen kann. Auch Frankreich habe, wie Deutschland, eine ziemlich starke Erinnerungskultur. Doch sei sie gewissermaßen von "oben", vom Staat erzwungen, während sie in Deutschland von vielen Teilen der Gesellschaft getragen werde und zum Aufbau der Demokratie beigetragen habe.
    "In Deutschland hat man sich die Frage gestellt, welche sozio-psychologischen Mechanismen dazu führen, dass ein Mensch oder fast eine ganze Gesellschaft zum Verbrecher wird oder zumindest zum Mitläufer, der ein verbrecherisches Regime unterstützt. Dadurch wurde einfach dieser Sinn für individuelle Verantwortung in der Gesellschaft ziemlich gut vermittelt, was ein Fundament ist in einer Demokratie. In Frankreich hat man sich nicht die Frage gestellt, wie man zum Täter wird, weil man sich eben fast nur für die Köpfe interessiert hat, für das Regime von Vichy. Man schämt sich für Vichy, das ist keine Frage, aber man hat sich die Frage der Haltung der Bevölkerung wenig gestellt. Frankreich hat auf diese Weise ein bisschen die Chance verpasst, mit der Erinnerungsarbeit die Demokratie in seinen Institutionen und auch in der Mentalität der Menschen besser zu verankern."
    Lackmustest Chemnitz
    Géraldine Schwarz hat als Journalistin über die Ereignisse in Chemnitz berichtet und bezieht diese in ihre Betrachtung mit ein. Sie glaubt, dass auch in Ostdeutschland Erinnerungsarbeit nicht in ausreichendem Maße geleistet worden sei. Nach dem antifaschistischen Gründungsmythos konnten die Ostdeutschen, die, so Schwarz, offiziell alle Kommunisten waren, keine Nazis gewesen sein:
    "Mit der Wiedervereinigung kam auch im Paket ein explosives Erbe. Das hat man schon an den Aufmärschen in Rostock 1992 gesehen. Es ist also kein neues Phänomen. Das Enttäuschende ist, dass es in Rostock dreißig Jahre später ungefähr genauso aussieht wie nach der Wende. Im Westen gibt es natürlich auch Neonazis. Aber im Osten sind sie unter freiem Himmel, im hellen Licht vor der Kamera, man versteckt sich nicht. Also gibt es keine Scham, und deshalb sind alle Türen offen zur Radikalität."
    Auch andere Länder wie Italien, Österreich und verschiedene Länder Osteuropas hätten ihre faschistische Vergangenheit nicht genügend aufgearbeitet, so Géraldine Schwarz. Dabei seien das Wiederfinden dieses Gedächtnisses und eine gemeinsame europäische Erinnerungsarbeit das einzige Mittel gegen den grassierenden Rechtspopulismus.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.