Bestimmte Parteien und Ideologen haben den Liberalismus in den vergangenen Jahrzehnten auf den puren Wirtschaftsliberalismus reduziert, der Marktfreiheit über alles setzt und – ganz im Gegensatz zu den Ursprüngen dieser politischen Haltung – soziale Gerechtigkeit hintanstellt. Gleichzeitig haben rechte und ultrarechte Gruppierungen sich den Begriff angeeignet, wie am Beispiel der österreichischen FPÖ zu sehen ist. In Strömungen wie der „Tea Party“ in den USA bewegt sich schließlich das „Libertäre“ auf eine post- oder gar antidemokratische Haltung zu. In diesem Klima wird der „Liberale“ zur Spottfigur von rechts wie von links als jemand, der sich nicht wirklich entscheidet oder sein Fähnchen nach dem Wind hängt. Dabei geraten die Ursprünge des politischen Liberalismus ebenso in Vergessenheit wie die Kämpfe, die liberale Menschen für die Entwicklung oder die Erhaltung der Demokratie geführt haben.
Markus Metz, geboren 1958, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft, er lebt als Hörfunkjournalist und Autor in München. Zuletzt erschien von ihm Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft (Edition Tiamat, Berlin) und Apokalypse & Karneval. Neoliberalismus: Next Level (Bertz & Fischer, Berlin), beide gemeinsam mit Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen, geboren 1948, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und schreibt heute als freier Autor unter anderem für Die Zeit, Frankfurter Rundschau, taz und epd‑Film. Außerdem hat er rund 20 Filmbücher verfasst und Dokumentarfilme fürs Fernsehen gedreht.
Liberalismus ist offenbar einer der Begriffe, die dem berühmten Paradoxon von Alexander Kluge gehorchen: Je näher man sie ansieht, desto ferner sehen sie zurück.
Unter Liberalismus verstehen wir einerseits eine politische Philosophie, die vor ungefähr 500 Jahren entstanden ist und zur Grundlage von Gesellschaftsverträgen und Verfassungen wurde, nicht zuletzt die der Vereinigten Staaten von Amerika. Als Liberalismus versteht man aber auch eine praktische Haltung gegenüber seinen Mitmenschen, nämlich eine Toleranz gegenüber anderen Meinungen, anderen Lebensstilen, anderen sexuellen Orientierungen und so weiter. Liberalismus heißt, anderen Menschen dieselben Freiheiten zuzubilligen, die man selbst in Anspruch nimmt. Schließlich versteht man darunter auch ein Wirtschaftssystem, in dem sich Menschen, Waren, Geld und Dienstleistungen bewegen, ohne allzu sehr von Obrigkeiten, Staaten und Bürokratien reguliert zu werden. Das alles bildete einmal eine zumindest theoretische Einheit.
Wie groß die Ungereimtheiten und Widersprüche dieser Philosophie in der Praxis wohl schon immer waren, wird uns erst jetzt bewusst, wo sie beim besten Willen nicht mehr zu verbergen sind. Liberalismus, so viel steckt schon im Begriff selbst, hat stets etwas mit Freiheit zu tun. Es ist das Gegenteil von feudaler Alleinherrschaft, Diktatur, Autokratie oder zentralistischer Bürokratie. Aber was genau Freiheit ist, für wen sie gilt und für wen nicht, an welche Bedingungen Freiheit geknüpft wird und für welche Lebensbereiche sie gelten soll, das war schon immer sehr umstritten.
Toleranz auf der Basis von Vernunft
Es gibt den kulturellen, den wirtschaftlichen, den religiösen, den sexuellen und den politischen Liberalismus. Die Frage ist, welche Art von Liberalismus das Leitmotiv ist und welche Art von Liberalismus bloß Begleitmelodie. Fangen wir mit dem politischen Liberalismus an. Er ist nämlich beides zugleich, die Voraussetzung und das Ziel der liberalen Demokratie. Der amerikanische Philosoph John Rawls, der sich ein Leben lang mit den Fragen von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie beschäftigte, hat das so erklärt:
„Die politische Kultur einer demokratischen Gesellschaft ist stets durch eine Vielfalt gegensätzlicher und einander ausschließender religiöser, philosophischer und moralischer Lehren gekennzeichnet. Einige von ihnen sind vollkommen vernünftig. Und diese Vielfalt vernünftiger Lehren wird vom politischen Liberalismus als das unvermeidliche langfristige Ergebnis des Gebrauchs der menschlichen Vernunftvermögen unter andauernd freien Institutionen betrachtet.“
Es geht beim Liberalismus also mit anderen Worten um die Toleranz gegenüber anderen Vorstellungen auf der Basis von Vernunft.
Aber schon damit haben wir uns ein massives Problem eingehandelt. Wer oder was bestimmt darüber, was dem menschlichen Vernunftvermögen entspricht oder einfach gefährlicher Blödsinn ist? Und wo liegen die Grenzen dessen, was Liberalismus an menschlicher Unvernunft aushalten muss?
Recht auf Dummheit als Gefahr für politischen Liberalismus
Der weit gereiste Mark Twain, noch so ein Erz-Amerikaner, hat – halb ironisch und halb dogmatisch – ein unmissverständliches Gebot für den Liberalismus aufgestellt:
„Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit.“
Dieses Recht auf Dummheit hat es seitdem bei demokratischen Politikern zum Passepartout gebracht. Ein deutscher Bundespräsident bemüht dieses Recht auf Dummheit gegenüber den Forderungen nach einem Mindestlohn, ein Justizministerium erklärt mit dem Recht auf Dummheit seine Haltung gegenüber Querdenkern und Verschwörungsfantasten. Und ganz allgemein ist man übereingekommen, dass eine liberale Demokratie auch Meinungsäußerungen zulassen soll, die weder liberal noch demokratisch sind.
Dieses Recht auf Dummheit stellt letztlich eine permanente Gefahr für die Grundlage des politischen Liberalismus dar, nämlich eine Art von "Common Sense", eine gemeinsame Basis des Vernünftigen und Nutzbringenden, auf der sich dann verschiedene Lehrmeinungen oder Lösungsvorschläge entwickeln und in einen fairen Wettstreit miteinander treten.
Zivile Tugenden als moralische Grundlage
Noch dramatischer als bei der Frage nach der Vernunft wird die innere Spannung des Liberalismus bei der Frage nach der Moral. Natürlich hat auch der demokratische und liberale Staat Gesetze, aber die greifen mehrheitlich erst bei kriminellen Taten. Dass Kannibalen und Serienmörder Verbrecher sind und nicht etwa Leute, die eine andere Meinung über den Wert eines Menschenlebens haben, das ist noch einigermaßen mehrheitsfähig. Was aber Ideen, Fantasien und Meinungen anbelangt, so wäre es, nach liberaler Auffassung, weniger der Staat als vielmehr der erwähnte Common Sense, also Wachheit, Kritikfähigkeit und Kommunikation der Zivilgesellschaft, welcher sich damit auseinandersetzen müsste.
Um einander den größtmöglichen Freiheitsraum zu garantieren, muss eine demokratische Gesellschaft für ihre Mitglieder moralische Standards festlegen, die nicht beliebig verwendet oder vernachlässigt werden können. Man kann diese Moral auch als „zivile Tugend“ bezeichnen, die Michael Baurmann 1996 in Der Markt der Tugend: Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft für Menschen definiert, die „aus freien Stücken ihre politischen, rechtlichen und moralischen Pflichten erfüllen und einen fairen Anteil an der Verwirklichung und dem Schutz gemeinsamer Interessen übernehmen".
Die beständige Frage ist die nach der moralischen Grundlage einer liberalen Demokratie, die sie selber nur bedingt hervorbringen und schon gar nicht garantieren kann. Die zivile Tugend arbeitet auch für jene, denen Pflichten und Gemeinsamkeiten egal sind. Der Spielraum der Freiheit muss stets größer sein als das Potenzial der zivilen Tugenden, denn diese verlieren sofort ihren Wert, wenn sie nicht aus freien Stücken gepflegt werden.
Aber wie steht es mit der Forderung nach Abschaffung der Demokratie? Wie steht es mit Hetzreden gegen Geflüchtete oder Angehörige sexueller Minderheiten? Wie steht es mit der Leugnung des Klimawandels und damit verbunden der Sabotage von Klimaschutzmaßnahmen? Der politische Liberalismus steht und fällt mit dem Wirken eines bis auf wenige Randzonen gültigen Common Sense. Nur haben wir damit dummerweise einen eher vagen Begriff - den Liberalismus - mit einem anderen eher vagen Begriff - dem Common Sense - verknüpft.
Entwickelte Marktwirtschaft als Basis für klassischen Liberalismus
Thomas Paine, einer der Vordenker des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, veröffentlichte 1776 seine Schrift „Common Sense“, in der er dazu aufrief, sich zugleich vom britischen König und von den Drangsalen dogmatischer Religionen zu befreien. Und zwar auf der Basis eben des Common Sense, was stets recht ungenau mit „gesunder Menschenverstand“ oder aber „allgemeines Verständnis“ übersetzt wird.
Wie bei nahezu allen Vordenkern des Liberalismus steht auch bei Thomas Paine ein tiefes Misstrauen gegen den Staat, auch in seiner modernen, parlamentarischen Form, im Vordergrund:
„Die Gesellschaft ist in jedem Zustand ein Segen, eine Regierung dagegen im besten Fall ein notwendiges Übel, im schlechtesten Fall aber ein unerträgliches.“
Es ist dieses Misstrauen gegenüber Staat und Regierung, das die verschiedenen Formen des Liberalismus miteinander verbindet, vor allem den politischen mit dem ökonomischen Liberalismus. Denn von Anfang an ist es ein Ziel dieser politischen Philosophie, die Entfaltung des ökonomischen Strebens und die Garantie des Besitzes zur Grundlage des Gemeinwesens zu machen. Es ist die feste Überzeugung der Vertreter des klassischen Liberalismus, dass politische Demokratie nur auf der Basis der entwickelten Marktwirtschaft und der Schaffung von Besitz und Wohlstand möglich sei. So formulierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset 1959 kategorisch, „dass Demokratie an die wirtschaftliche Entwicklung gebunden ist. Je wohlhabender eine Nation, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein demokratisches System erhält".
Allerdings hatte bereits Thomas Paine, anders als seine späteren Exegeten, die Notwendigkeit erkannt, den politischen mit dem ökonomischen Liberalismus auch in der anderen Richtung zu verknüpfen.
„Wenn die Reichen die Armen ihrer Rechte berauben, so wird das ein Beispiel für die Armen, die Reichen ihres Reichtums zu berauben.“
Widerspruch zwischen ökonomischer und politischer Entfaltung
Die beiden obersten Ziele des Liberalismus, die individuelle Freiheit und der ökonomische Erfolg, beides garantiert durch eine Gesellschaft, die sich so viel als möglich gegen Einmischung durch den Staat wehrt, sind nun zugleich eng miteinander verbunden und bleiben doch auch immer Widersprüche. Denn so lange ökonomischer Erfolg auch soziale Macht bedeutet, bleiben die Freiheiten derjenigen, die nichts an Geld, Land oder Maschinen besitzen, weitgehend abstrakt. In der neuesten Variation, dem sogenannten Neoliberalismus, kehren sie sich sogar zu einem Stigma des „selber schuld“ um.
Dennoch könnten wir uns vielleicht auf eine moralische Grundlage des politischen Liberalismus einigen. Man könnte zum Beispiel die drei in der liberalen Demokratie als unveräußerlich und unantastbar geltenden Rechte heranziehen: das Menschenrecht, das Bürgerrecht und das Völkerrecht.
Nur stehen auch hier die ökonomischen Interessen oft im Widerspruch. Die Würde des Menschen ist durchaus antastbar, wenn Arbeit auf einem Markt wie eine Ware gehandelt wird und Menschen dementsprechend wertlos werden können. Die Wahl- und Versammlungsfreiheit der Menschen ist durchaus in Frage gestellt, wenn die Besitzenden ihren Einfluss auf Politik, Polizei und Medien geltend machen können. Und die Souveränität von Staaten und Gesellschaften ist durchaus problematisch, wenn man sie in wirtschaftliche Abhängigkeit zwingen kann. Das Verhältnis zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus muss also stets wieder neu justiert werden, vielleicht auch anhand eines Common Sense, den wir in diesem Fall als allgemeines Empfinden für Gerechtigkeit übersetzen könnten.
Deshalb haben wir ein drittes Prinzip als Voraussetzung für den praktischen Liberalismus, das wiederum in der Theorie etwas zu wenig beachtet wird, nämlich eine grundsätzliche Offenheit. Das Instrument des Liberalismus, um diese Offenheit zu erzwingen, ist die Freiheit der Information und vor allem die Freiheit der Kritik. Jede Lehre, die im Liberalismus Respekt verdienen will, muss nicht nur auf eine Basis der Vernunft und der Moral bezogen sein, sondern sie muss auch der öffentlichen Kritik zugänglich sein. Der Liberalismus ist nur positiv zu verstehen als work in progress, als eine politische Philosophie, die sich selbst laufend ergänzt und erneuert und sich mit ihren inneren Widersprüchen auseinandersetzt.
Was als theoretisches Ideal eines politischen, ökonomischen und kulturellen Systems funktioniert, das sich zugleich immer wieder den gewandelten Bedingungen anpasst und dabei seine Grundlagen von Freiheit und ziviler Tugend erneuert, gerät in der Praxis immer wieder in die Krise. Der Geburtsfehler des Liberalismus, der Widerspruch zwischen ökonomischer und politischer Entfaltung, erzeugt immer wieder eine Dominanz wirtschaftlicher Macht gegenüber politischen Rechten. Immer wieder gab es Ansätze, die politische Freiheit nicht so sehr an den Wohlstand, sondern vielmehr an die soziale Gerechtigkeit zu binden. Und immer wieder wurde diese Strömung des „Sozialliberalismus“ von der Fraktion des Wirtschaftsliberalismus überwältigt. Christine Bratu und Moritz Dittmeyer sprechen in ihrem Buch Theorien des Liberalismus denn auch von „einer sehr durchwachsenen Erfolgsbilanz des Liberalismus.“
„Während sich die liberale Idee, dass alle Menschen gleichermaßen ein Recht auf Freiheit haben, immer weiter über den Globus ausbreitete, fanden zugleich auch deutlich weniger erhabene Überzeugungen und damit einhergehende soziale Praktiken Zustimmung. Denn in den Augen vieler Liberaler war der Liberalismus über lange Zeit mit Kolonialismus, Rassismus und Sexismus vereinbar.“
Verteidigung der Rechte der Besitzenden gegen die Besitzlosen
Die großen Vordenker des Liberalismus müssten nach heutigen Maßstäben wohl heftigen Widerspruch aus dem Zirkel der liberalen Toleranz erfahren. John Locke zum Beispiel verdiente Geld mit dem Sklavenhandel und Immanuel Kant war ein bekennender Sexist. Ganz offensichtlich betraf die ursprüngliche Idee des Liberalismus keinesfalls die Menschheit als Ganzes, sondern sollte lediglich das Verhältnis des weißen, bürgerlichen Mannes zu seinem Staat regulieren.
John Locke war es, der 1689 in seiner Schrift Zweite Abhandlung über die Regierung die Grundlagen des europäischen Liberalismus legte. Darin heißt es unter anderem:
„Die natürliche Freiheit des Menschen liegt darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei zu sein.“
Dies ist das Signal, das zu den großen Revolten gegen die traditionellen aristokratischen Herrschaftsformen führte, der Grundgedanke in der französischen Revolution ebenso wie bei der Abfassung der amerikanischen Verfassung. Und gerade in dieser spielt ein Gedanke von John Locke eine zentrale Rolle, der politischen und ökonomischen Liberalismus so eng aneinander bindet:
„Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.“
John Locke war einer der reichsten Männer seiner Gesellschaft und wehrte sich vor allem gegen das Recht des Staates, einen solchen Reichtum zu besteuern.
Es ist schon erstaunlich, wie wenig sich an dieser fundamentalen Spielart des Liberalismus bis heute geändert hat. Diese Lesart des Liberalismus als Verbindung von politischer Freiheit und ökonomischen Besitzrechten führt sozusagen automatisch zu einer Klassengesellschaft, in der vor allem die Rechte der Besitzenden gegen die Besitzlosen verteidigt werden. Diese Form des politisch‑ökonomischen Liberalismus funktioniert auf der Basis eines großen Konsenses, der weniger mit einer Verbreitung von gesundem Menschenverstand als mit einer grundsätzlichen Einstellung zu tun hat, dem American Way of Life zum Beispiel, der einer wenigstens theoretisch gegebenen Chancengleichheit entspricht. Solange das Land und seine wirtschaftliche Kraft wachsen, bieten sich tatsächlich aus der politischen Gleichstellung immer wieder Möglichkeiten des individuellen Aufstiegs. Doch in Krisenzeiten, so lehrt es die Geschichte der Gesellschaften, die sich dem Liberalismus verpflichtet fühlten, scheint vor allem die Gewalt der Besitzenden gegen die Besitzlosen durch diese politische Philosophie gedeckt.
Der europäische Liberalismus entwickelte sich weniger eindeutig. Einen Staat, der sich so weit zurückzieht wie der US-amerikanische, konnte man sich hier nicht vorstellen. Die soziale Bindung des Eigentums, die in der amerikanischen Verfassung ausdrücklich nicht vorgesehen ist, wurde hier Teil von Verfassungen, etwa der der Weimarer Republik:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste.“
Oder Artikel 14 Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Damit ist, zumindest theoretisch, die ökonomische Freiheit des Einzelnen zu Gunsten der Allgemeinheit eingeschränkt. Die besitzende Klasse allerdings fühlte sich durch die neuen Möglichkeiten der Enteignung oder der Einschränkung der Nutzungsrechte von Eigentum in großem Maße verunsichert. So sehr, dass sie teilweise zu Parteigängern der Nationalsozialisten wurde, welche ganz im Gegensatz zu ihrem Namen, Enteignungen nach politischen - also rassistischen, nicht aber nach sozialen Kriterien durchführten. Das heißt, die Bindung des ökonomischen an den politischen Liberalismus gehört offensichtlich zu den stabilisierenden Faktoren, aber nur solange der Markt auch für Aufstiegshoffnungen und stets neue Möglichkeiten des Besitzerwerbs existiert. Wirtschaftliche und soziale Krisen dagegen wirken auf eine Spaltung hin. Der Wirtschaftsliberalismus wird dann sogar zum Feind des politischen Liberalismus, vor allem dort, wo die zivilen Tugenden auch verlangen, Pflichten wie Reichtümer in einer Gesellschaft gerecht zu verteilen.
Doppelgesichtigkeit des Liberalismus half dem Faschismus
Der politische und mehr noch der kulturelle, religiöse und sexuelle Liberalismus werden schließlich zum Hauptgegner in den autokratischen, illiberalen und postfaschistischen Regimen, an denen heute kein Mangel besteht. Die Doppelgesichtigkeit des Liberalismus war möglicherweise am Aufstieg des historischen Faschismus nicht unbeteiligt. So erklärt der israelische Historiker Ishay Landa in seiner Studie Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus,
„dass viele jener schockierenden und extremistischen Positionen des Faschismus, die gewöhnlich als Angriffe auf den Liberalismus betrachtet werden – die Verachtung der Demokratie, die Diktatur, der Angriff auf den Rationalismus und die wissenschaftliche Objektivität, die Propaganda, der chauvinistische Nationalismus und der imperialistische und rassistische Krieg –, außerhalb des liberalen Settings historisch undenkbar sind. Der Faschismus war das organische Ergebnis von Entwicklungen, die im Wesentlichen, also nicht vollständig, innerhalb der liberalen Gesellschaft und Ideologie stattfanden. Er war ein extremer Versuch, die Krise des Liberalismus zu lösen, indem man seine inneren Widersprüche durchbricht, um die Bourgeoisie auf diese Weise vor sich selbst zu retten.“
Die Freiheiten, die das Bürgertum für sich erkämpft hatte, wurden nämlich nun zur Gefahr für ihre wirtschaftlichen Privilegien, und deshalb konnte es geschehen, dass sich der wirtschaftliche Liberalismus als erbitterter Gegner des politischen Liberalismus zeigte. Die Verknüpfung von Wirtschaftsliberalismus und politischer Autokratie bis hin zu terroristischen Diktaturen bestimmt heute bereits die politische Landschaft. Auch der Post- oder Neofaschismus in Europa bleibt in seinen wirtschaftlichen Programmpunkten sozusagen radikal liberal. Ein Vorgang, der sich übrigens ein Jahrhundert zuvor schon einmal in Frankreich abspielte, als das Bürgertum aus Furcht vor dem Verlust seiner Privilegien sich der Reaktion anschloss.
Sozialliberalismus im Zeichen sozialer Gerechtigkeit
Die zwei Kräfte des Liberalismus also verlaufen immer wieder auch gegeneinander. Die eine Kraft ist die Anpassungsfähigkeit, denn theoretisch und, wenn man so will, moralisch, blieb der Liberalismus immer offen und in der Lage, auf neue Erkenntnisse der Wissenschaft und der Philosophie und auf neue Impulse aus der Gesellschaft zu reagieren. Die zweite Kraft hingegen ist die offenbar unvermeidliche Tendenz, die politischen und wirtschaftlichen Liberalismus voneinander trennt und zu Gegnern macht, sobald sich eine Krise zeigt.
Nun ist es aber keineswegs so, dass niemand diesen eingebauten Widerspruch des Liberalismus erkannte hätte. Unter den Versuchen, den Widerspruch zwischen dem Politischen, dem Kulturellen und dem Ökonomischen zu bearbeiten, hat der so genannte Sozialliberalismus oder auch Linksliberalismus die längste Geschichte. Wir verstehen heute darunter eher ein soziales und kulturelles Milieu und einen Lebensstil, der die passive Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement für die Rechte Anderer verbindet, nicht zuletzt für die Rechte kommender Generationen, die die Folgen ungebremsten Wirtschaftswachstums und ausgedehnter Ausbeutung von Natur und Umwelt zu tragen haben werden.
Aber in vergangenen Zeiten bedeutete Sozialliberalismus nicht nur eine Revision der politischen Philosophie des Liberalismus im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit. Seine Vordenker wie John Stuart Mill gehen vom Gebot einer „sozialen Nützlichkeit“ im Streben nach Freiheit aus. Die individuelle Freiheit, auch die auf ökonomischem Gebiet, müsse – statt sich als nationaler oder individueller Egoismus zu entfalten – sich an die Gerechtigkeit in der Gesellschaft und unter den Völkern binden. Ideen des Sozialliberalismus waren in der bundesdeutschen Nachkriegspolitik noch sehr präsent und fanden sich sowohl in der Sozialdemokratischen als auch in der liberalen Partei: In einem Grundsatzpapier der FDP aus dem Jahr 1977 heißt es:
„Freiheit und Glück des Menschen sind für einen solchen Sozialen Liberalismus danach nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte. Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an.“
Niedergang des Sozialliberalismus - Radikalisierung des Wirtschaftsliberalismus
Zehn Jahre später verabschiedete sich die FDP von ihrer sozialliberalen Agenda, die man in den sogenannten Freiburger Thesen niedergeschrieben hatte. Eine Reihe von prominenten Politikerinnen und Politikern des sozialliberalen Flügels wurden aus der Partei gedrängt, die FDP löste sich von der eigenen, tendenziell linksliberalen Jugendorganisation. Zur gleichen Zeit entwickelte sich auch die SPD in eine Richtung, in der sozialliberale Gedanken wenig Platz fanden. Der soziale Liberalismus verlor schließlich nicht nur seine politischen Organisationen, sondern auch seine intellektuellen Fürsprecherinnen und Fürsprecher. So ist eine neue Bruchlinie im Liberalismus entstanden zwischen jener Fraktion, die für die Freiheiten von Markt, Karrieren und Konsum alle politische Mitgestaltung und Mitverantwortung in einer Demokratie zu opfern bereit ist, und jener, die in der Sorge um die Wahrung kultureller Identitäten und korrekter Sprechweisen den gesellschaftlichen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren droht. Zwischen diesen beiden Extremformen des Liberalismus in der Krise ist längst ein Vakuum entstanden, in das populistische, fundamentalistische und neofaschistische Kräfte einströmen.
Die Chance, den wachsenden Widerspruch zwischen politischem und wirtschaftlichem Liberalismus zu vermitteln, wurde im Verlauf der achtziger Jahre nicht nur in der Politik vertan, sondern auch in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, in den Medien und in den öffentlichen Debatten. Dabei hätte man auch hier an einen Grundgedanken von John Rawls anknüpfen können, um wenigstens einen letzten moralischen Rettungsanker in der Gesellschaft des entfesselten Kapitalismus zu sichern.
„Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.“
Stattdessen haben wohl eben diese wachsenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten dazu geführt, die sozialliberalen Forderungen weitgehend aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Gelegentliche Wiederbelebungsversuche wie etwa die Gründung einer neuen Partei im Jahr 2014, die sich selbst "Die Sozialliberalen" nannte, verliefen eher folgenlos. Das Label „Linksliberal“ hat sich verwandelt von einem Programm politischer Philosophie zur Bezeichnung für eine kulturelle Haltung in einer privilegierten, überschaubaren Szene, der man heute nur noch symbolische Handlungen wie das Achten auf political correctness in der Sprache und die Tilgung kolonialistischer Überheblichkeit aus Kinderbüchern zutraut. Mit dem Niedergang des Sozialliberalismus auf politischer wie auf diskursiver Ebene war der Weg frei für eine Radikalisierung des Wirtschaftsliberalismus. Man gab dieser Philosophie der Marktradikalität den Namen Neoliberalismus.
Liberalismus kann nie von oben verordnet und nie vollständig unterdrückt werden
Wenn man die Entwicklung sehr pessimistisch sehen würde, bliebe einem kaum eine andere These als diese: Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus als fundamentale Vorherrschaft des ökonomischen Liberalismus, der sich allenfalls ein paar kulturelle Freiheiten als Privilegien in den Konsum- und Karriereparadiesen gestattet, und seinem narzisstisch-egoistischen Freiheitsbegriff ist die Geschichte des politischen Liberalismus als Hoffnung und Ziel in der Geschichte vorbei. Der Liberalismus geht offenbar an zwei Stellen gleichzeitig zugrunde. Einerseits an der Gewalt und offenbar auch an der Attraktivität seiner Feinde, die schamlos seine Schwächen ausnutzen, und andererseits an seinen eigenen Widersprüchen.
Die derzeitige Schwäche des Liberalismus, so scheint es, hat auch damit zu tun, dass er so lange erfolgreich war. Der Liberalismus ist in vielen westlichen Gesellschaften als so selbstverständlich angesehen worden, dass man über seine Gefährdungen nicht weiter nachdachte.
„Der Liberalismus ist gescheitert – nicht, weil er zu kurz griff, sondern weil er sich selbst treu geblieben ist. Er ist gescheitert, weil er erfolgreich war. In dem Maß wie der Liberalismus Realität wurde, traten seine inneren Widersprüche zutage. Eine politische Philosophie, die entstand, um Gerechtigkeit zu fördern und eine pluralistische Gesellschaft als Flickenteppich aus verschiedenen Kulturen und Überzeugungen zu verteidigen, die Menschenwürde zu schützen und, natürlich, die Freiheit zu vergrößern, sorgt in der Praxis für gigantische Ungleichheit, erzwingt Uniformität und Homogenität, fördert den materiellen und geistigen Zerfall und untergräbt schließlich sogar die Freiheit.“
Patrick J. Deneen: Warum der Liberalismus gescheitert ist
Patrick J. Deneen: Warum der Liberalismus gescheitert ist
Eine bittere Bilanz, in der Tat. Der Liberalismus als eine Kraft, die in den 500 Jahren ihres Bestehens genau das Gegenteil von dem bewirkt hat, was sie einst erstrebte. Müssen wir uns von der Idee verabschieden? Oder wäre der Liberalismus noch zu retten, wenn wir uns dazu durchringen könnten, intensiv und kritisch über ihn nachzudenken und ihn sozusagen noch einmal neu erfänden? Oder müsste etwas ganz Neues her, eine neue politische Philosophie von Freiheit und Gerechtigkeit vielleicht? Dass zwischen politischer Mitbestimmung und wirtschaftlichen Vorteilen eine solche Leerstelle entstanden ist, hat den Aufstieg von populistischen Politikerinnen und Politikern ermöglicht, die mit beidem wenig im Sinn haben. Das macht die Arbeit an einem Liberalismus 2.0 zu einem Wettlauf mit der Zeit. Schließlich lauert hinter dem Schrecken von autokratischen, aggressiven und illiberalen Führern der noch größere Schrecken einer klimatischen und ökologischen Weltkatastrophe. Ein neuer Liberalismus, wenn er uns noch möglich ist, muss Freiheit mit ökologischem Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit verbinden. Eine leichte Aufgabe ist das nicht.
Andererseits können sich gerade in dieser Krise auch die Vorteile des Liberalismus als individuelle Grundhaltung und politische Philosophie zeigen. Liberalismus kann nie von oben verordnet und nie vollständig unterdrückt werden. Er entsteht in einer Gesellschaft, in der sich der Wunsch nach Freiheit mit den sozialen Tugenden der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Solidarität verbinden kann. Zur Freiheit im Liberalismus gehört es auch, aus den Fehlern der Vergangenheit und den eigenen Schwächen zu lernen.