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Die Neuvermessung des Bösen, Teil 2

Warum tötet und vergewaltigt ein Mensch einen anderen? Wieso verwandeln sich Bürger in Afghanistan plötzlich in brutale Folterer? In Studien konnte Psychologe Thomas Elbert von der Uni Konstanz belegen, was die Macher von Actionfilmen und Computerspielen schon lange wissen: Gewalt fasziniert.

Von Kristin Raabe |
    "Den Frust schmetterte ich immer auf die gleiche Weise ab - mit Gewalt. Ich ging im Tiergarten oder auf der Kurfürstenstraße auf die Frau zu, die ich kontrollieren wollte, und statt einer Begrüßung gab's saftige Ohrfeigen oder einen ordentlichen Schüttelmann."

    Andreas Marquard war zwei Jahrzehnte lang einer der berüchtigtsten Zuhälter Berlins. Mehrmals landete er wegen Körperverletzung im Knast. In seinem Buch "Härte" beschreibt er, wie er zum Verbrecher wurde und wie es ihm schließlich gelang, doch noch ein normales Leben zu führen.

    "Sie schaute mich irritiert an. Warum, wa rum? Ja, das war die Frage: Warum?"

    Warum schlägt, tötet und vergewaltigt ein Mensch einen anderen? Was treibt ihn dazu, praktisch ohne Vorwarnung auf einen wehrlosen Passanten einzuschlagen? Wieso verwandeln sich wohlerzogenen Bürger in Afghanistan plötzlich in brutale Folterer? Um diese Fragen zu beantworten haben Psychologen Gefängnisinsassen, Soldaten und Kriegsverbrecher in aller Welt untersucht. Sie kommen dabei immer wieder zum selben Ergebnis. Die Täter sind erschreckend normal.

    "Wir glauben, dass das durch die Geschlechtshormone so gesteuert wird. Dass wenn sie das Gehirn, das menschliche Gehirn, früh mit Testosteron fluten, dass der dann zum Jäger wird, das heißt, der ist angriffslustig, der ist aggressiv, der will töten, der will Blut sehen, der will Tiere verletzen, der will sie dann sozusagen auch gejagt der Frau vor die Tür legen. Die Frau kennt, genau wie der Mann, eine andere Form von Gewalt, die wir reaktiv nennen. Die ist also nicht die Jagd. Ich renne jemand hinterher und bring den um. Sondern ich verteidige mich, ich reagiere, die reaktive Gewalt kann bei Frauen ganz enorm sein. Bedrohen sie das Nest sozusagen, die Kinder, bedrohen sie ihre Lebensbasis, dann können Frauen sehr reaktiv sein, aber von sich aus, die Lust einfach zu jagen, andere Menschen einfach totzuschlagen, die glauben wir, ist wesentlich deutlicher den Männern vorbehalten als den Frauen."

    Thomas Elbert ist Professor für Psychologie an der Universität Konstanz. Ihn interessiert vor allem die körperliche Gewalt. Dabei sind die Täter fast immer Männer. 98 Prozent aller inhaftierten Gewalttäter sind männlich. Frauen neigen dagegen eher zu psychischer Gewalt. Sie manipulieren, demütigen und beleidigen ihre Oper, während Männer lieber schlagen, treten, stechen und schießen.

    "Es gibt keine instinkthafte Hemmung. Also keine angeborene Hemmung, dass wir nicht töten, sondern wir erlernen das. Buben, die spielen Piraten, Polizei, Gendarme, Cowboys, was immer zustechen, hauen kann, gerne. Und in diesem Spiel erlernen sie aber auch Regeln einzuhalten. Und nicht unter allen Umständen den anderen totzuschlagen. Und im Laufe unserer Evolution, wenn wir uns das anschauen in unserer kulturellen Entwicklung ist es erst ein paar tausend Jahre her, dass Moses das Gebot vom Berge heruntergeholt hat, 'Du sollst nicht töten'. Aber wenn wir es genauer betrachten, dann stimmt es ja gar nicht. Wir folgen nicht dem Gebot 'du sollst nicht töten'. Wir folgen dem Gebot, 'du sollst in der Regel nicht töten", aber dann gibt es tausend Ausnahmen. In Afghanistan oder jetzt kürzlich Osama Bin Laden. "Ja, den darfst du töten.' Du darfst ihn töten in der Wirklichkeit, wie jetzt der US-Geheimdienst und du darfst ihn töten im Videospiel. Also wir lernen dann sozusagen die entsprechenden Regeln und unsere Aggression gezielt zu hemmen und gezielt einzusetzen, wenn notwendig."

    "Ich war mittendrin und noch nicht einmal zwanzig. Ich begriff sehr schnell, wie und wohin der Hase lief. .Ich schaute genau hin, wie sie ihre Weiber poussierten und abkassierten. Im Stillen dachte ich, kein Problem kannst du auch."

    Schon als Jugendlicher ist Andreas Marquardt als Karatekämpfer erfolgreich. Zu seinen Kämpfen kommen immer wieder auch Luden aus dem Milieu. Sie wetten auf ihn und laden ihn nach einem Sieg ein, sie zu begleiten. Dabei lernt er die Regeln, die in ihren Kreisen gelten.

    "Mit Karl dem Großen bin ich ab und zu in die Kurfürstenstraße gefahren, um seine Frauen zu kontrollieren. Karl preschte in seinem feudalen Schlitten an eine der Prostituierten ran, kurbelte die Fensterschreibe runter und blaffte sie voll von der Seite an, ohne ein Wort der Begrüßung: 'He, du Huhn, komm mal her! Wie viel hast du bis jetzt gemacht?' Die Frau beugte sich ans Fenster runter, reichte ohne mit der Wimper zu zucken die Scheine rüber und schaute schuldbewusst aus der Wäsche, als Karl ihr klar machte, dass es sich für die paar lausigen Kröten überhaupt nicht lohne, vorbeizukommen, die reine Zeitverschwendung. Kiek an, staunte ich, die Olle drückt ihren Hurenlohn so selbstverständlich ab, als würde Karl die Scheine sofort bei der nächsten Bank auf das gemeinsame Familienkonto einzahlen."

    Wer einen Menschen zum Gewalttäter machen will, der muss die Regeln der Gesellschaft außer Kraft setzen und sie durch neue ersetzen. Wie das funktionieren könnte, hat Thomas Elbert mit Videospielen getestet.

    "Männer meiner Ausbildung und Generation, finden diese Form der Gewaltspiele ekelhaft und wollen sie nicht tun. Wenn ich aber sage 'im Dienste der Wissenschaft' dann ballern die genauso rum, wie ein Zwölfjähriger in diesen Computerspielen und hinterher sagen die auch, hat schon Spaß gemacht. Nehme ich mit einer einfachen Instruktion 'Im Dienste der Wissenschaft, wollen wir mal gucken, was in deinem Gehirn vorgeht' das weg, dann ballern die genauso rum."

    "Im Dienste der Wissenschaft" - mit einer ganz ähnlichen Instruktion brachte der Psychologe Stanley Milgram 1961 seine Studienteilnehmer dazu, einer anderen Person scheinbar lebensbedrohliche Stromschläge zu versetzen. Französische Forscher haben das Experiment in Form einer Fernsehshow nachgestellt, die im Frühjahr 2010 in Frankreich ausgestrahlt wurde.

    Scheinwerferlicht, Kameracrews, ein anfeuerndes Publikum und die in Frankreich sehr bekannte Moderatorin Tania Young - nichts deutet daraufhin, dass die Fernsehshow La Zone Extreme nur Kulisse ist für ein psychologisches Experiment.

    Dabei sind alle - inklusive des Publikums - eingeweiht. Nur die 80 Versuchspersonen nicht. Sie glauben, sie würden eine neue Fernsehshow testen. Die Moderatorin bestellt sie auf die Bühne und teilt ihnen das "Los" des Lehrers zu.
    In ihrer Rolle müssen sie nun eine Liste von Wortpaaren abfragen, die ein angeblicher Schüler vorher gelernt hat. Es stehen immer vier Möglichkeiten zur Wahl, beispielsweise Couchtisch, Nachttisch, Küchentisch und Esstisch. Macht der "Schüler" einen Fehler, muss er bestraft werden: mittels eines Hebels mit einem Elektroschock.

    Mit jedem Fehler soll die Voltzahl gesteigert werden - bis auf 460 lebensgefährliche Volt. Immer wieder sind Schmerzensschreie zu hören. Die Schüler bitten sogar darum aufzuhören.

    Die Auswertung des Experiments bestätigte eindrücklich die Erfahrungen von Stanley Milgram: Bis zu 70 Prozent der Versuchspersonen gingen bis zur höchsten Voltstufe. Lediglich jeder dritte Teilnehmer widersetzte sich den Anweisungen und brach das brutale Spiel ab. Bei dieser Form der indirekten Gewaltausübung unter dem Einfluss einer Autorität waren Frauen übrigens genauso gewaltbereit wie Männer.

    "Die Aggressionsbereitschaft, die steckt in jedem drin, die wird gehemmt und jetzt schaffen sie Bedingungen sozusagen, dass diese Regulation außer Kraft gesetzt wird und dass sie sogar möchten, ihre höheren Zentren, also die Moral ist jetzt nicht mehr, ich darf den anderen nicht körperlich verletzen, so ist zunächst die moralische Erziehung und die setze ich jetzt außer Kraft und sage sogar das Gegenteil. Und dann sind natürlich die Leute, die eher den Autoritäten folgen, die werden das eher tun. Und die anderen, die eher auf ihre internen Werte und Regulationen hören, die werden natürlich sagen, ja der kann das schon sagen, aber ich werde das nicht tun."

    Es gibt viele Beispiele aus der Geschichte, die zeigen, dass es möglich ist, aus nahezu jedem Menschen einen echten Gewalttäter zu machen. Eines davon ereignete sich während des Völkermordes 1994 in Ruanda. In annähernd 100 Tagen töteten Anhänger der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der damals in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit. Schätzungen zufolge starben dabei 800 000 bis eine Million Menschen.

    "Sie haben eine Kirche, dort sind 20.000 Tutsis gefangen. Haben dort Zuflucht gesucht. Die müssen sie jetzt erschlagen. Sie haben keine Maschinengewehre, sie haben keine Gaskammern, sie haben Knüppel, sie haben bestenfalls Macheten um 20.000 Leute zu erschlagen. Das geht nur, wenn alle die dort sind, alle jungen Männer, die dort sind, sich beteiligen. Da ist natürlich ein Gruppendruck da, da wird der Mensch entmenschlicht, da wird diese Hemmung, diese anerzogene Hemmung, die wird umgangen, in dem ich sage: 'Das sind Kakerlaken, das ist Ungeziefer, das ist der letzte Dreck, die müssen wir jetzt erschlagen, die müssen wir ausrotten.' Aber dann gehen alle mit. Und das war für uns die jetzt doch noch mal ernüchternde Erkenntnis: Ich kann jeden jungen Mann, wenn ich die entsprechenden Maßnahmen treffe, in einen potenziellen Verbrecher oder jemand, der tötet, umwandeln."

    Gruppendruck und die Entmenschlichung der Opfer reichen offensichtlich aus, um aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen zumindest für einen einmaligen Einsatz Gewalttäter zu machen. Wie aus einem Kind eine regelrechte Killermaschine werden kann, hat Thomas Elbert an Kindersoldaten in verschiedenen afrikanischen Ländern, beispielsweise in Uganda, Ruanda und im Kongo untersucht.

    "Ich glaube, dass es einfach ist, wenn sie Kinder jung haben, mit acht, mit zehn Jahren, das berichten auch die Kindersoldaten und die Rebellen, die Kindersoldaten ausbilden. Ein 15-jähriger Kindersoldat hat zu mir gesagt: 'Acht bis 17 ist das Zeitfenster, in dem du das am besten machst, danach wird es schwierig.' Mit 17,18 Jahren ist es sehr, sehr schwer, das auszuhebeln. Die jungen Männer und dann später die älteren Männer sind dann zu intelligent, um das nicht zu durchschauen, die ganze Situation, und es ist schwierig und das weiß auch jede Berufsarmee der Welt. Die müssen mit 16 die Verträge unterzeichnen lassen und deswegen kann Großbritannien jetzt auch nicht die Resolution gegen Kindersoldaten unterzeichnen, weil sie dann keine Berufssoldaten mehr hätten."

    Die meisten Kindersoldaten haben keine Wahl: Sie werden von den Milizen zwangsrekrutiert, indem sie sie aus ihren Dörfern entführen und vor ihren Augen ihre Familien töten. Wenn die Kinder noch sehr jung sind, etwa sieben, acht Jahre alt, dann erlernen sie gar nicht erst die Kontrolle über die in ihrem Gehirn angelegte Aggressionsbereitschaft. Diese Kontrollinstanz vermutet Thomas Elbert im vorderen Teil der Großhirnrinde. Seiner Meinung nach werden Kindersoldaten von evolutionär älteren, tiefer gelegenen Hirnstrukturen gesteuert - von der Amygdala. Ein auffälliges Geräusch und sie sind in Kampfbereitschaft - ohne, dass sich das Großhirn dabei einschaltet. Doch was ist nötig, um die Amygdala über das Großhirn siegen zu lassen? Einfach nur die erlernten Regeln außer Kraft zu setzen, scheint nicht zu genügen.

    "Das zweite ist in dem Kind selbst. Das muss eine Aggressionserfahrung machen. Das heißt in irgendeiner Form muss es selbst zum Opfer werden. Gequält werden, verletzt werden. Dann zur ersten Tötung gezwungen werden. Wir haben die untersucht in Uganda, im Kongo oder in Ruanda. Die berichten alle, egal in welchem Land. Die berichten alle, die erste Tötung ist schwierig. Es wurde mir schlecht, ich musste mich übergeben, ich kann nicht mehr schlafen. Das geht eine Weile. Die zweite ist neutral und ab der dritten beginnt das Spaß zu machen. Da hat das eine eigene Faszination. Da fühle ich mich gut hinterher. Da bin ich der Held. Da fängt das an, das ist süß und ehrenreich, für meine Gruppe zu sterben, wie wir auch in Deutschland gesagt haben."

    Seit etlichen Jahren befragen Thomas Elberts Mitarbeiter Soldaten und Kämpfer in Afrika, Afghanistan und Deutschland. Sie konnten mit ihren Studien belegen, was die Macher von Actionfilmen und Computerspielen schon lange wissen: Gewalt fasziniert. Drei Viertel der von Elbert befragten Kindersoldaten gaben an, dass der Unterlegene schreien müsse. Das Gefühl von Macht über den anderen sei für sie dabei das Angenehme am Kämpfen. Aber auch einzelne Reize wurden als lustvoll empfunden: Blut zum Beispiel. Vermutlich eine Entwicklung aus der Zeit, als der Mensch sich vom Vegetarier zum Jäger wandelte.

    "Was wir beobachten - egal ob in Afghanistan oder Uganda, dass Nase abgeschnitten wird, dass die Ohren abgeschnitten werden, dass die Finger abgeschnitten werden und das ist nicht ein genetisches Programm, das das vorhersagt. Aber so ein genetisches Vorbereitetsein. Unsere Genetik sagt: Ok, wenn du das Opfer zum Bluten bringst, kannst du es erlegen."

    "Ich erwischte Jeden. Entweder noch am gleichen Tag oder spätestens nach einer Woche fehlte ihm ein Stück Ohr, oder eins von seinen Nasenlöchern war zwei Zentimeter größer. Ich hatte immer eine kleine Geflügelschere oder ein scharfes Teppichmesser griffbereit - oben rechts in der Jackentasche. Einigen zertrümmerte ich ohne zu zögern die Nase. Zack - das Nasenbein knackte. Die Grenze war ein halber Finger, den ich einem Typen abgetrennt habe."

    "Auf der einen Seite ist es besonders attraktiv, das Opfer bluten zu sehen, das Opfer schreien zu sehen, auf der anderen Seite ist es auch schrecklich und in diesem Spannungsfeld stehen die Kämpfer drin. Und wenn die Belastungen des Schreckens, der Angst, der Hilflosigkeit, ich kann nichts tun, hier werden Leute verletzt, wenn die zu massiv werden, wenn die plötzlich in die Gegenwart einziehen, dann sind die Leute seelisch krank, dann sprechen wir von posttraumatischen Belastungsstörungen. Das ist die eine Seite und die andere Seite ist eben, dass diese gleichen Schlüsselreize, dass die in den Helden eingebunden werden und damit nimmer als belastend erlebt werden. Jetzt ist die Frage, welches dieser beiden Netzwerke, die sich da im Gehirn bilden, welches gewinnt. Ist es das positive oder ist es das Negative?"

    Elberts Studien haben in den letzten Jahren immer wieder gezeigt: Kämpfer leiden dann an Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen, wenn ihnen die Lust am Kämpfen fehlt. Seelisch gesund bleiben tatsächlich vor allem die, die am meisten Spaß an der Gewalt haben. Das gilt im Übrigen nicht nur für Kindersoldaten, sondern auch für viele Täter in deutschen Gefängnissen.

    "Die Sache ist etwas komplizierter und man muss immer wieder wegkommen von der vollständigen Pathologisierung von manchen Tätern, das dient auch der gesellschaftlichen Entlastung an manchen Stellen, nach dem Motto 'Die Gesellschaft ist in Ordnung, aber die jungen Leute, die sind einfach krank'. Da glaube ich, gehen so gesellschaftliche Debatten einen völlig falschen Weg, denn wenn sie krank sind, dann muss man sie wegsperren, und dann ist das Problem erledigt - nichts ist erledigt!"

    Wilhelm Heitmeyer leitet an der Universität Bielefeld, das Institut für Gewalt- und Konfliktforschung. Seit Jahrzehnten analysiert der Sozialpsychologe, welche gesellschaftlichen Mechanismen Jugendliche zu Tätern machen.

    "Ein wichtiger Faktor einer neueren Untersuchung von britischen Kollegen über ganze Länder hinweg, was die Mordraten angeht, die zeigen, dass es einen ganz engen Zusammenhang gibt, zwischen sozialer Ungleichheit und Gewalt und da sind wir auf keinem guten Wege. Das heißt, dass die soziale Spaltung oben und unten, Abstiege, Abwärtsmobilität in Deutschland aufgrund neuerer sozialstruktureller Untersuchungen durchaus sehr bemerkenswert ist."
    Die Schere zwischen Reich und Arm geht auch in Deutschland immer weiter auseinander. Das könnte den Boden bereiten für eine Zunahme der Gewalt auch hierzulande. Wilhelm Heitmeyer hat dazu ein Modell entwickelt: Es besagt, dass Gewalt vor allem dort entsteht, wo Menschen sich ausgegrenzt fühlen - und natürlich führt soziale Ungleichheit auch zur Ausgrenzung benachteiligter Jugendlicher. Wer keine Chance auf Arbeit, keinen Zugang zu Bildung und dazu noch kaum Unterstützung von Freunden oder Familie hat, erfährt keine Anerkennung. Gewalt dagegen wird wahrgenommen.

    "Gerade auch Jugendliche können auf Dauer nicht ohne Anerkennung leben, im Grunde niemand, aber für Jugendliche, die sich ja erst noch eine Position erarbeiten wollen, ist das schon sehr bedrückend, wenn man auch keine anderen Präsentationsmöglichkeiten hat, um etwas zu sagen, also wenn in der Schule nur noch das anerkannt wird, was mit dem Pythagoras zusammenhängt oder mit all diesen direkt verwertbaren Leistungen. Und wenn man dann den Pythagoras nicht rauf und runter beten kann, dann fragt man sich natürlich woher sollen diese jungen Menschen ihre Anerkennung bekommen, wenn die Schule immer mehr verengt wird auf solche wirtschaftlich verwertbare Leistungen, die dann anerkannt werden und zu Aufstiegen führen können."

    Bei fast allen Jugendlichen, die offensive Gewalttaten begangen hatten, zeigte sich in einer Studie, dass sie weder in der Familie, noch in der Schule die für Heranwachsende so wichtige Anerkennung erfahren hatten. Wenn solche Jugendlichen sich zu Gruppen zusammenschließen entsteht oft eine Gewaltspirale, in der ein Gruppenmitglied nur dann neue Anerkennung erfährt, wenn es noch mehr Gewalt ausübt. Oft richtet sich die Aggression dieser Gruppen gegen andere gesellschaftlich eher benachteiligte Gruppen.

    "Dieses Produzieren von Feindbildern oder Abwertung, das passiert über gesellschaftliche Diskurse und Jugendliche bedienen sich da einfach nur. Weil man da für Gewalt immer eine Schwelle überwinden muss oder diese Schwelle absenken muss. Und deshalb gibt es ja auch diese Neutralisierungstechniken, die besagen, 'so der ist selbst schuld, oder der hat es verdient oder die Gruppe hat es verdient und dann man feste drauf'. Also solche Mechanismen zeigen auch immer wieder, dass Gewalt nicht isoliert zu sehen ist, vom gesellschaftlichen Umfeld."

    In seiner Studie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" konnte Wilhelm Heitmeyer zeigen, dass Vorurteile gegen Ausländer, Homosexuelle oder Obdachlose zunehmen. Gewaltbereite Jugendliche nutzen solche Feindbilder als Rechtfertigung für ihre Taten. Vermöbeln sie einen türkischen Mitschüler oder einen Obdachlosen, so glauben sie, damit den Willen einer Mehrheit zu erfüllen.

    "Ich hatte die gleichen Interessen wie diese Leute: Geld, Autos und Frauen. Was bei mir dazukam, war der Sport. Bücher waren nicht meine Welt. Überhaupt hielt ich Menschen, die Bücher lasen für Waschlappen und Weicheier. Ich haue euch eine vor die Backe, dachte ich mir, da schützt euch Geschriebenes auch nicht. Der Kampfsport verschaffte mir Respekt, immer mehr Luden wetteten auf mich. Die Zuhälter wollten mich. Ich wurde hofiert und nach oben gepuscht. Niemand sagte mehr: 'Ach, das ist ja nur der Kleene', wenn ich auftauchte."

    "Tatsächlich ist es immer so, dass wir meinen, Aggressivität und Gewalt nimmt mit steigendem Alter zu, wenn wir jedoch allgemein Aggressivität betrachten, ist es so, dass oftmals gerade im Vorschulalter die Kinder den höchsten Grad an Aggressivität zeigen, zumindest in der Wahrnehmung von Eltern, Lehrern oder entsprechend Erzieherinnen. Das ist natürlich nicht klinisch relevante Aggressivität oder Gewalt in dem Sinne, wie wir es jetzt in den Medienberichten immer wieder vorgeführt bekommen, sondern das ist zum Beispiel eine körperliche Aggressivität, die die Kinder zeigen, um ein bestimmtes Objekt zu bekommen. Das heißt ein Kind möchte eine Schaufel und schubst deswegen ein anderes Kind. Das heißt, viele Kinder entwickeln nicht nur ein aggressives Verhalten, sondern sie verlernen es nur nicht."

    Herbert Scheithauer ist an der freien Universität Berlin Professor für Entwicklungspsychologie. Seine Beobachtung scheint die Auffassung von Thomas Elbert zu bestätigen, dass es eine in jedem Menschen angelegte Aggressionsbereitschaft gibt, die erst durch die Erziehung gehemmt wird. Das bedeutet aber auch, dass sich bei Kindern und Jugendlichen, der Weg in die Gewaltspirale noch aufhalten lässt.
    "Wir wissen auch aus der Kriminalstatistik, dass einige wenige Wiederholungstäter für 50 bis 60 Prozent der Vorfälle der Jugenddelinquenz verantwortlich sind und wir sehr häufig hier eine Gruppe haben, die sehr häufig schon im Vorschul- oder Schulalter auffällig war, nur hat damals nie jemand richtig reagiert und nach Identifikation mit diesen Kindern und Jugendlichen entsprechend gearbeitet."

    Fast alle der früh auffälligen Kinder haben selbst Gewalt und nicht selten auch Missbrauch in ihren Familien erlebt. Sie lernen so früh, dass Gewalt ein Mittel ist, mit dem man sich durchsetzen kann.

    "Ich bin sechs. Er polterte in unser Wohnzimmer, ich verdrücke mich in eine Ecke, ich will ihm nicht die Hand geben. Von seinem Stuhl am Wohnzimmertisch pfeift er mich heran wie einen Hund. 'Komm her, gib deinem Vater wenigstens die Hand!' Achtung, denke ich und laufe ganz vorsichtig auf ihn zu. Er drückt die Hand - noch ist alles normal. Ich halte gegen, ganz leicht, und flüstere: 'Guten Tag, Vati'. Ich ahne schon was. 'Na wat denn', blafft er mich an. 'Na, drück schon, bist doch 'n Kerl, Mann, oder biste 'ne Memme, 'ne Pfeife, 'ne Puschmütze? Wat biste denn, bist ja wie'n Mädchen.' Und dann drückt er zu. An die zwei, drei Minuten liegt meine Hand in einem Schraubstock, und der Schraubstock schließt sich Millimeter für Millimeter. Den Schmerz vergesse ich nie."

    Als sein Vater die Hand endlich freigibt, ist sie mehrfach gebrochen. Ein halbes Jahr lang wird sie eingegipst und der damals Sechsjährige Andreas Marquardt muss mehrmals operiert werden. Mit seiner eingegipsten Hand kann er nicht schreiben und verliert deswegen den Anschluss in der ersten Schulklasse.

    Natürlich wäre es am besten, möglichst jedes Kind vor solchen Gewalttaten zu schützen. Aber das ist leider nicht immer möglich. Deswegen müssen Kindergärten und Schulen Wege finden, den Kindern beizubringen, dass es eine Alternative zur Gewalt gibt. Dass das möglich ist, konnte Herbert Scheithauer in einer großen Studie beweisen. Dabei half ihm die Augsburger Puppenkiste:

    "Heh, lass mich Zornibold.
    Wer ist denn das? Noch ein Kobold
    Jah, das ist Zornibold, mit dem ist meistens nicht zu spaßen"

    Jeder Kistenkobold, den Paula auf dem Dachboden findet, steht für eine Emotion. Es gibt den Freudibold genauso wie den Zornibold. Und der macht immer Probleme.

    Paula: Wieso bist du denn so wütend?
    Zornibold: Ich bin kein Wütend. Ich bin ein Kobold.
    Paula: So wie du aussiehst bist du sogar ein sehr wütender Kobold. Du ärgerst dich wohl oft?
    Zornibold: Ja, ja, ja und am liebsten würde ich immer stampfen und mit der Faust.
    Anderer Kobold: Aua - das war mein Fuß!

    Diese Geschichte schauen sich die Kindergartenkinder nicht einfach nur an. Sie müssen unter der Anleitung von speziell geschulten Erzieherinnen selbst eine Lösung erarbeiten, wie Zornibold seinen Zorn in den Griff bekommen kann. Die schlagen sie ihm dann vor und erhalten dann kurze Zeit später sogar eine Antwort von dem Marionettenkobold. Per Videobotschaft beispielsweise bedankt er sich bei den Kindern. Gemeinsam mit dem Verein Papillio hat Herbert Scheithauer an mehr als 600 Kindergartenkindern untersucht, ob sich die Emotionsregulation der Kinder durch das Papilio-Programm tatsächlich verbessern lässt.

    "Wir konnten feststellen, dass die Kinder, die Papilio durchlaufen haben, im Vergleich zur Zeit vor dem Programm und im Vergleich zur Kontrollgruppe viel ausgeprägter ein prosoziales Verhalten gezeigt haben. Das Schöne an unserem Ergebnis ist vor allen Dingen, dass gezeigt wurde, dass die Kinder, die anfangs eine Problematik gezeigt haben, erreicht wurden. Andererseits aber auch die Kinder, denen es gut ging, wo keine Problematik da war, auch die Kinder konnten sich im Vergleich zur Kontrollgruppe verbessern."

    Einen Teil der Kinder begleitete Scheithauers Projekt bis Ende des ersten Schuljahres. Dabei zeigte sich, dass sich die Papilio-Kinder deutlich besser entwickelten und sogar bessere Schulleistungen zeigten als die Kinder in der Kontrollgruppe.

    Je früher ein Kind lernt, seine Emotionen zu kontrollieren, desto besser funktioniert die Gewaltprophylaxe. Aber auch bei Schulkindern und Jugendlichen ist es nicht zu spät.

    "Wir wissen das aggressive Kinder und Jugendliche oftmals soziale Interaktion - also der Austausch, zwischen mir und anderen Personen - auf eine verzerrte Art und Weise wahrnehmen. Die fühlen sich beispielsweise, wenn eine Person durch den Raum geht, bedroht, obwohl diese Person gar nicht bedrohen wollte. Das liegt an den eigenen Vorerfahrungen, die die Einschätzung und Wahrnehmung dieser sozialen Situation beeinflusst. Stellen sie sich vor, sie sind ein Jugendlicher, der aus einer Familie kommt, wo sie als Kind häufiger geschlagen wurden. Dann werden sie eine Situation, wo ein großer Mann mit einer erhobenen Hand auf sie zukommt, ganz anders wahrnehmen, als wenn sie solche Situationen früher noch nicht erlebt haben. Das heißt die eigenen Erfahrungen werden über Wahrnehmungsprozesse in sozialen Interaktionen einen Einfluss haben, auf die Art und Weise. Hier können sie mit ganz konkreten Programmen und Trainings tatsächlich an der sozial kognitiven Informationsverarbeitung sehr erfolgreich arbeiten."

    "Damals war ich berauscht von mir und brauchte ständig neue Reize; eigentlich konnte ich mich überhaupt niemals richtig freuen. Ich war süchtig nach Anerkennung. Ganz egal aus welcher Ecke sie kam. Die Beachtung, die ich jetzt ohne Goldkettchen und Rolex finde, macht mich zufriedener."