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Die Neuvermessung des Himmels

Die Atacama-Wüste im Norden Chiles ist gewiss kein gastlicher Ort, aber sie ist der beste Ort, um Astronomie zu betreiben. Nirgendwo sonst auf der Erde ist die Luft ruhiger, nirgends ist es klarer und trockener. Mitten in dieser Wüste, auf dem Cerro Paranal, betreibt Europas Astronomiorganisation Eso mit dem Very Large Telescope das weltweit leistungsstärkste Teleskop.

Von Dirk Lorenzen | 01.11.2009
    "Zum ersten Mal war ich 1996 hier, da war noch gar nichts. Da war gerade das Fundament für das erste Teleskop gegossen. Ich durfte das eigentlich gar nicht sehen als Astronom, ich war überhaupt ein Störfaktor als Astronom damals."

    Großes fürwahr unterbreite ich den einzelnen Naturforschern zur Anschauung und Betrachtung. Großes zum einen wegen der Erhabenheit des himmlischen Gegenstandes, zum anderen wegen der bislang unerhörten Neuheit und schließlich wegen des Instruments, durch dessen Hilfe es sich unseren Sinnen offenbart hat.

    "Den ersten Eindruck von dem Berg, den man von hier hat, ist, dass man diese vier Kuppeln sieht, es sind ja gar keine Kuppeln mehr, es sind vier - fast Skulpturen, die da oben stehen, im Moment gucken die alle in verschiedene Richtungen."

    Ohne Mühe noch Kosten zu scheuen, gelangte ich schließlich dahin, mir ein so vorzügliches Instrument zu bauen, dass die dadurch betrachteten Gegenstände um dreißigmal näher erscheinen, als wenn man sie mit bloßem Auge sieht. Mit ihm wandte ich mich der Erforschung der Himmelskörper zu.

    Vor genau 400 Jahren richtete Galileo Galilei als einer der ersten ein Teleskop an den Himmel. Seine Studierstube lag unter dem Dach eines Patrizierhauses in Padua. Von hier aus blickte er durch kleine, schlecht gefertigte Linsen – und drang doch in bis dahin unvorstellbare Welten vor. In seinem Büchlein "Sidereus Nuncius", Sternenbotschaft, berichtete er bald von epochalen Entdeckungen. Seitdem bedient sich die Astronomie immer größerer Teleskope. Aus den winzigen Linsenröhrchen von einst sind heute Spiegelgiganten von acht oder gar zehn Metern Durchmesser geworden.

    Die Sonne brennt gnadenlos vom tiefblauen Himmel, die Landschaft erinnert fast schon an den Planeten Mars: Ockerfarbene, sanft geschwungene Hügel, hier und da ein Felsbrocken, kein Strauch, kein Halm – Wüste so weit das Auge reicht. Die Atacama im Norden Chiles ist gewiss kein gastlicher Ort zum Leben. Aber für die Astronomen ist es der Himmel auf Erden. Denn auf einem Berg mitten in dieser Einöde sind sie den Sternen ganz nahe.

    "Was man sieht, ist, wie flach die Bergspitze ist. Die Bergspitze ist weggesprengt worden, die obersten 30 m sind weg gesprengt worden, man sieht die Schutthalde. Man sieht, wie der Schutt dann in unserer Richtung abgelagert wurde. Und dann sieht man auf der linken Seite noch eine Ecke, da ist das Kontrollgebäude, das ist völlig abgetrennt von den Teleskopen selbst. Da sieht man eine kleine Ecke von dem Kontrollraum auch noch."

    Bruno Leibundgut ist Astronom bei der europäischen Astronomie-Organisation Eso, die das Observatorium in der Wüste betreibt. Jetzt blickt er vom Basiscamp hinauf zum Cerro Paranal, wo weithin sichtbar das Very Large Telescope thront, das "sehr große Teleskop". Der Berg ist eine Forschungsoase mitten im Nichts. Etwa 100 Menschen leben hier, zwei Autostunden von der nächsten größeren Siedlung entfernt.

    Es ist erforderlich, ein ganz genaues Fernrohr zu bauen, welches die Gegenstände hell und deutlich darstellt und sie wenigstens vierhundertmal vergrößert. Wenn nämlich das Instrument nicht so beschaffen ist, wird man vergeblich versuchen, all die von uns am Himmel erblickten Dinge zu sehen.

    Das Very Large Telescope, kurz VLT, ist ein "ganz genaues Fernrohr". Es vergrößert bis zu hunderttausend Mal. Die Fragen die es beantworten soll, sind die Grundfragen der Astronomie - und die haben sich über all die Jahrhunderte kaum verändert: Woraus besteht der Kosmos? Wie ist das Universum entstanden? Welchen Platz nehmen wir darin ein? Vor 400 Jahren sorgten die von Galilei entdeckten Mondkrater, Venusphasen und Jupitermonde für einen Umsturz des Weltbildes. Heute verwirren Schwarze Löcher, junge Sterne, und explodierende Supernovae die Forscher. Leibundgut:

    "Wir als Europäer sind gewöhnt, Berge zu sehen mit Gras und mit Bäumen, und die Bäume haben den Effekt, dass sie Hügel verflachen, sanft machen, währenddem in der Wüste, hier ist halt nur Stein und Fels. Das macht die Berge extrem stark, extrem prägnant. Eigentlich müsste man von hier auch noch das Meer sehen, oft sehen wir es nicht, weil die Inversionsschicht die Wolkendecke über dem Meer hält - deswegen ist ja Paranal so ein guter Standort."

    Nach Westen sind es nur ein paar Kilometer bis zum kalten, praktisch immer unter Wolken liegenden Pazifik. Gen Osten erheben sich die bis zu 7000 Meter hohen Andengipfel. Dieser Lage – eingezwängt zwischen kaltem Meer und hohen Bergen – verdankt die Atacama ihr weltweit einzigartiges Klima. Nirgendwo sonst auf der Erde ist die Luft ruhiger, nirgends ist es klarer und trockener als hier.

    Im Basiscamp befinden sich das Wohn- und Bürogebäude, die Werkstätten und Versorgungseinrichtungen. Eine vier Kilometer lange Straße schlängelt sich hinauf zum Teleskop-Gipfel, von den Mitarbeitern kurz "Plattform" genannt. Oben pfeift der Wind über die Bergspitze, selbst noch im Schutz eines der gut 30 Meter aufragenden Teleskopgebäude. Leibundgut:

    "Hier stehen wir jetzt zwischen den Kolossen, diesen silbrig-glänzenden Skulpturen, muss man fast schon sagen. Unten ist ein Betonbau, das ist fest, der ist weiß angestrichen. Die Türen und das sonstige Metall sind in einem Eso-Blau gestrichen, das nennt sich inzwischen Eso-Blau, nicht offiziell, für uns ist es das Eso-Blau. Darüber sieht man dann die sich drehende Struktur, die ganz silbrig ist, die ist mit Isolationsmaterial abgedeckt, sehr gut isoliert. ... Auf der einen Seite steht halt so ein Riesenviereck da raus, das ist der Dome-Shutter, der aufgemacht wird und durch den das Teleskop dann heraussieht."

    Doch so weit ist es noch nicht. Erst eine knappe Stunde vor Sonnenuntergang nimmt die Hektik auf dem Berg zu. In dieser Nacht ist Eso-Ingenieur Gerhard Hüdepohl für eines der vier Teleskope verantwortlich. Trotz der sengenden Sonne trägt er eine dicke Jacke.

    "Das Geräusch, das man im Hintergrund hört, ist die Klimaanlage, die noch läuft. Die läuft den ganzen Tag, wird aber nachts ausgeschaltet. Die hält tagsüber das Teleskop auf der zu erwartenden Nachttemperatur."

    In der Kuppel ist es mit zwölf Grad Celsius überraschend kalt. Mittendrin ragt das Teleskop gut 20 Meter auf. Die silbrig glänzende Gitterkonstruktion ist nicht verkleidet und reicht fast bis an die Hallendecke. Hat das Teleskop genau die Temperatur der Umgebung, bilden sich nachts nicht die gefürchteten Blasen wärmerer Luft, die durch die Halle wabern und die Bilder unscharf machen. Die Kühlung am Tage sorgt also mit dafür, dass das Teleskop nachts optimal arbeitet und alle Vorteile seiner Optik und seines Standorts ausspielen kann. Nur "gekühlte Bilder" sind scharfe Bilder. Hüdepohl:

    "So, jetzt läuft im Prinzip alles automatisch. In der Zeit gehe ich noch einmal herum und sehe oben auf den Nasmyth-Plattformen nach. Da ist heute gearbeitet worden - da muss ich nachsehen, dass da auch alles in Ordnung ist. Jetzt sind wir wieder zwei Stockwerke hoch gegangen, das war wieder eine sportliche Leistung. Man kommt hier schnell aus der Puste, wenn man zu schnell die Treppen rauf- und runterläuft. Wir sind hier auf 2600 Metern - wenn man das nicht gewohnt ist, kommt man schnell außer Atem."

    Vom Rundgang an der Innenwand des Gebäudes hat man einen freien Blick auf den gewaltigen Spiegel. 8,20 Meter Durchmesser machen ihn 53 Quadratmeter groß - die Fläche einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung. Vier baugleiche Teleskope stehen auf Cerro Paranal. Die Spiegel wurden von der Firma Schott in Mainz aus der Glaskeramik Zerodur hergestellt. Linsenteleskope lassen sich so groß nicht bauen und für die Astronomen zählt vor allem der Durchmesser: Je größer ein Spiegel ist, desto mehr Licht sammelt das Instrument, desto schwächere Objekte sind zu erkennen und desto weiter kann das Teleskop hinaus ins All blicken. Hüdepohl:

    "Während ich hier die Inspektion mache, läuft das automatische Programm ab. Und das hat jetzt das Inflatable Seal geöffnet, also die Pressluftdichtung, die den Dom tagsüber abdichtet, damit von außen kein Staub eindringt."

    Staub auf dem Spiegel mindert die Brillanz der Bilder – daher diese Vorsichtsmaßnahme, auch wenn die Astronomen in ihrer Oase sogar eine Anlage haben, um die Spiegeloberfläche neu mit Aluminium zu bedampfen. Mittlerweile ist es 18:45 Uhr. Die Checks sind erfolgt, das Öffnen des Teleskopgebäudes steht unmittelbar bevor. Hüdepohl:

    "In Kürze wird das Temperaturkontrollsystem auf Nachtmodus geschaltet. Das heißt, dass wir gleich die Klimaanlage nicht mehr hören werden."

    Fast gespenstische Stille. Der geschlossene Teleskopdom hat eine merkwürdig gedämpfte Akustik. Dann setzt sich plötzlich das Teleskop in Bewegung – völlig lautlos, weil es auf einem Ölfilm gelagert ist. Das 400 Tonnen schwere Teleskop dreht sich wie ein riesiges Karussell. Die großen Tore laufen nach links und rechts auseinander. Dazwischen taucht die von den letzten Sonnenstrahlen glutrot gefärbte Wüste auf. Ein leichter Lufthauch strömt in die Kuppel. Durch den großen Beobachtungsspalt sind ein Nachbarteleskop und die weite Landschaft der Atacama zu sehen. Über all dem wölbt sich das wolkenlose stahlblaue Firmament. Gerhard Hüdepohl geht ein paar Schritte, beugt sich nach unten und betätigt ein paar Schalter:

    "Das Licht-Ausschalten geht auch bei einem Hightech-Teleskop immer noch über normale Lichtschalter und nicht über Computer."

    Während draußen die Sonne auf der wie immer über dem Pazifik hängenden Wolkendecke aufsetzt, ist das Teleskop nun "nachtfertig".

    "Ich find's nach wie vor eindrucksvoll. Das ist aber auch eine Sache, die man hier mitbringen muss, wenn man an diesem Ort arbeitet. Paranal ist ja wirklich in der Mitte der angeblich trockensten Wüste der Erde und wenn man dann an einem so entlegenen Ort arbeitet, dann muss man einige Begeisterung für das Projekt mitbringen und auch schon ein bisschen verrückt sein."

    Ein großer langer Raum, vorne ein kleiner Sitzbereich mit Kunstledersofas und Kaffeemaschine. Dahinter sechs abgetrennte Bereiche, ein jeder mit einem guten Dutzend Monitoren, Neonröhren tauchen alles in grelles Licht. Der Kontrollraum des Very Large Telescope wirkt auf den ersten Blick wie der Arbeitsplatz von Börsenmaklern. Doch in den vier mal sechs Meter großen Bereichen sitzen jeweils zwei bis drei Astronomen und Ingenieure an den Tastaturen. Über die Bildschirme flackern die aktuellen Daten der Teleskope. Andere Monitore liefern stets die neuesten Wetterdaten samt Satellitenbild. Hier und da beugen sich die Forscher über ihre Laptops, um die soeben gewonnenen Daten auf die Schnelle zu sichten.

    Nachts arbeiten die Astronomen mit Teleskopen, aber nicht an den Teleskopen. Der Kontrollraum befindet sich knapp unterhalb der Plattform, etwa 150 Meter von den Teleskopgebäuden entfernt. Galilei hat noch mit eigenen Augen durch sein Fernrohr gesehen. Das ist bei modernen Großteleskopen gar nicht mehr möglich. Durch sie kann man nur fotografieren – mit Instrumenten, die oft mehrere Tonnen wiegen und nicht selten so groß sind wie ein Kleinwagen

    Der Blick des Very Large Telescope reicht Milliarden Lichtjahre weit hinaus ins All. Seit gut zehn Jahren ist es im Einsatz, hat Galaxien am Rande des Kosmos entdeckt, die fernsten jemals aufgeflammten Explosionen im All nachgewiesen und junge, soeben entstandene Sterne untersucht. Die Stärke des VLT ist seine Vielseitigkeit: Die vier Teleskope verfügen über jeweils drei unterschiedliche Kameras und Messinstrumente. Eines davon, die Infrarotkamera Visir, hat Eric Pantin vom französischen Forschungszentrum CEA mit entwickelt. Sie zerlegt das Licht der Himmelsobjekte in seine Bestandteile.

    "Heute Nacht beobachten wir einen Supersternhaufen in einer recht nahen Galaxie. Dieses Objekt ist eine gewaltige Ansammlung junger heißer Sterne, die noch von den Resten der Gas- und Staubwolke umgeben sind, aus der sie sich gebildet haben. Mit der Visir-Kamera dringt unser Blick durch den Staub hindurch. So sehen wir, welche chemischen Stoffe es dort gibt, wie sich die Gaswolken bewegen und was für Sterne dort bereits entstanden sind."

    Solche Sternhaufen bilden sich aus riesigen Gas- und Staubwolken in Galaxien, in denen es viel turbulenter zugeht als in unserer Milchstraße. Dort kommt es fast explosionsartig zur Entstehung von Sternen. Doch wie genau geht das vonstatten? Die Forscher sehen Myriaden von Sternen im All – aber wie aus Gas und Staub ein leuchtender Stern wird, ist im Detail nicht verstanden. Teleskope im sichtbaren Licht dringen nicht durch den Staub und sehen an dieser Stelle buchstäblich schwarz. Doch das VLT arbeitet auch im Bereich der Wärme- oder Infrarotstrahlung. Damit durchdringt es die Staubmassen mühelos und so blickt Eric Pantin mit der Visir-Kamera direkt in den Kreißsaal der Sterne.

    Die Neuartigkeit dieser Dinge und die Konsequenzen, die aus ihnen im Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung der Philosophen folgen, haben nicht wenige Professoren gegen mich aufgebracht - so, als hätte ich mit eigenen Händen die Dinge an den Himmel gesetzt, um die Natur zu ärgern und die Wissenschaften zu überrumpeln.

    Mitten im Zentrum der Milchstraße, verbirgt sich ein Schwarzes Loch, das mehr als eine Million mal so viel Masse hat wie unsere Sonne. Niemand kennt sich dort so gut aus wie Reinhard Genzel, Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching. Jetzt zeigt seine Spezialkamera Sinfoni, dass das Schwarze Loch offenbar eine bemerkenswerte Gruppe von Sternen dirigiert.

    "Zu unserem Erstaunen finden wir – ganz im Gegenteil dessen, was wir erwartet haben –, dass die Sterne, die sich dort befinden, nicht nur alt sind. Alte Sterne hätte man da immer erwartet. Die werden vom Schwarzen Loch angezogen, die gruppieren sich dann um das Schwarze Loch herum. Aber nein, wir sehen auch ganz junge Sterne, und das ist eine ganz hervorragend interessante Sache, weil die sich nicht bilden sollten. Die dürften sich gar nicht bilden - so sagen uns die Theoretiker."

    Die Astronomen sehen Sterne, die so jung sind, dass sie nicht erst woanders entstanden und dann langsam in die Nähe des Schwarzen Lochs gedriftet sein können – so wie es der herrschenden Lehrmeinung entspräche. Das Schwarze Loch sollte in seiner Nähe das Zusammenklumpen von Gas zu Sternen verhindern – auch das galt bisher als sicher. Genzel musste einen Ausweg aus diesem Dilemma finden. Gänze:

    "Wir glauben, jetzt zeigen zu können, dass sich etwa 1000 Sterne vor einigen Millionen Jahren gebildet haben. Die haben sich in einer Scheibe gruppiert und rotieren um das Schwarze Loch herum, nachdem vorher eine Gaswolke, die sehr dick gewesen sein muss und auch sehr schwer, ins Galaktische Zentrum zufällig hineingefallen und dort dann unglücklicherweise hängen geblieben ist. Bei diesem Prozess ist sie immer dichter geworden. Irgendwann bildeten sich sehr effizient Sterne. Die sehen wir. Wir sehen jetzt sozusagen dieses archäologische Relikt einer Sternbildung um ein Schwarzes Loch herum."

    Das VLT lieferte in den vergangenen zehn Jahren Unmengen an neuen Daten. Auch andere Großteleskope haben den Betrieb aufgenommen und bislang unbekannte Regionen des Kosmos erkundet. Etliches wollte zunächst nicht so recht zu den Theorien passen. Die Astronomen korrigierten also ihre Modelle. Dennoch: Die Risse im großen Gebäude der Kosmologie sind nicht mehr zu übersehen.

    Auch scheint mir, man dürfe es nicht gering achten, den Streit über die Milchstraße beigelegt und offenbart zu haben, dass der Stoff, der bis heute von den Astronomen Nebel genannten Sterne bei weitem anders ist, als man bisher glaubte.

    Immer wieder verfolgen die Teleskope Supernova-Explosionen in Milliarden Lichtjahren Entfernung. Was sie sehen, legt nun nahe, dass der Stoff, aus dem unser Kosmos größtenteils besteht, ganz anders ist, als bisher vermutet. Ungläubig müssen die Wissenschaftler feststellen, dass sie offenbar fast nichts im Kosmos zu sehen bekommen. Leuchtende Sterne, schillernde Gaswolken, felsige Planeten – all das scheint nur einen verschwindend kleinen Teil des Universums auszumachen, erklärt Bruno Leibundgut.

    "Die Entdeckung ist im wesentlichen, dass 70 Prozent des Universums in einer Form vorhanden sind, die wir bis jetzt nicht gekannt haben. Das wird oft als Dunkle Energie bezeichnet. Diese Dunkle Energie kommt zusätzlich zur Dunklen Materie hinzu, die schon vorher postuliert war, und für die die Physik eigentlich auch noch keine Erklärung hat. Jetzt haben wir auch noch die Dunkle Energie! Dunkle Energie und Dunkle Materie zusammen entsprechen so etwa 95 Prozent des Universums. Und die Physik hat keine Erklärung für – beide."

    Irgend etwas beherrscht den Kosmos – und niemand weiß, was physikalisch dahinter steckt. Die Situation erinnert frappierend an den großen Umbruch vor fast einem halben Jahrtausend: Das alte Weltmodell stellt sich als völlig unzutreffend heraus – aber eine neue große Theorie lässt sich, wenn überhaupt, nur erahnen. Woraus besteht das Universum? Was genau sind Dunkle Materie und Dunkle Energie? Wird sich der Kosmos ewig ausdehnen? Um Antworten auf die ganz großen Fragen zu finden, brauchen die Astronomen noch bessere Beobachtungen – und gute Ideen. Leibundgut:

    "Die Brocken für die Physik sind im Moment da - wir haben 95 Prozent des Universums, die wir einfach nicht verstehen: Das ist eigentlich eine interessante Situation. Vielleicht haben wir in zehn Jahren eine Theorie, die das alles erklärt - aber es braucht einen Durchbruch, das brauchen wir jetzt schon."

    Die ersten Teleskope Galileis enthüllten Berge auf dem Mond – der Mond war also mitnichten die göttlich perfekte Kugel, als die er bis dahin gegolten hatte. Der Planet Venus zeigte sich mal als volle Scheibe, mal als dünne Sichel – war also offenbar ein von der Sonne angestrahlter Körper, keine wandelnde Gottheit. Die Beobachtungen Galileis ließen das Weltbild der Antike, das mehr als eineinhalb Jahrtausende nahezu unangefochten gegolten hatte, in sich zusammenstürzen. Die Erde hatte ihre herausgehobene Stellung verloren und nahm nur noch eine Nebenrolle im kosmischen Schauspiel ein.

    Vier Jahrhunderte und etliche Forscher- und Teleskopgenerationen später befindet sich die Astronomie wieder in einer Phase des Umbruchs. Neben der Erforschung von Dunkler Materie und Dunkler Energie ist die Suche nach Planeten um ferne Sterne fast über Nacht einer der dynamischsten Bereiche der Himmelsforschung geworden. Auch damit eifern die Wissenschaftler Galilei viel unmittelbarer nach, als es vielen bewusst ist.

    Eine große Sache ist es gewisslich, der zahlreichen Menge von Fixsternen, die man bis heute mit natürlichen Gaben wahrnehmen konnte, zahllose weitere, bisher nie gesehene hinzuzufügen.

    "Mit den Jupiter-Monden ist klar geworden, dass die Erde nicht das Zentrum der Welt ist. Das kopernikanische Weltbild wurde damit etabliert."

    Joachim Wambsganß, Direktor des Zentrums für Astronomie in Heidelberg:

    "Aber bis vor 15 Jahren hat man zwar gewusst, dass die anderen Sterne in der Milchstraße und in den Galaxien nichts anderes sind als unsere Sonne, und wir wussten, dass um die Sonne Planeten kreisen, nämlich Merkur, Venus, Erde, Jupiter und so weiter. Man wusste aber nicht wirklich, ob es um die anderen Sterne auch Planeten gibt. Und mit dieser Entdeckung wurde das zum ersten Mal sowohl physisch entdeckt als auch philosophisch eröffnet: Ja, es mag auch andere Welten geben, und in dem Sinne ist es tatsächlich fast eine Parallele zu den Ereignissen vor 400 Jahren."

    Seit einigen Jahren wissen die Astronomen, dass Planeten offenbar kosmische Dutzendware sind, ganz normale Begleiter der meisten Sterne. Doch bisher weisen die neuen Großteleskope die fernen Planeten zumeist nur indirekt nach. Bilder gibt es noch nicht. Vielleicht gelingt den zusammengeschalteten Teleskopen auf Paranal nun bald das erste echte Planetenfoto. Zudem hat man noch keine zweite Erde entdeckt. Dazu reicht die heutige Auflösung nicht aus. Daher planen die Astronomen bereits einen wahren Teleskopgiganten, der in etwa zehn Jahren den Blick der Himmelsgucker ein weiteres Mal unerhört schärfen soll: das Extremely Large Telescope. Mit 42 Metern Durchmesser soll es halb so groß sein wie ein Fußballfeld.

    "The largest step was done by Galileo, when they went from the human eye to a telescope. This is the second largest step, indeed."

    Der größte Schritt in der Astronomiegeschichte sei Galileo gelungen, sagt Projektleiter Jason Spyromilio, als er statt mit bloßem Auge mit einem Fernrohr an den Himmel blickte. Das 42-Meter-Teleskop werde der nächste große Sprung. Die Astronomen könnten damit die Frühphasen des Kosmos durchstöbern und in fast jeden Winkel der Milchstraße blicken. Joachim Wambsganß und seine Kollegen sehen dieses Instrument auf dem besten Wege, noch einmal die Kosmologie zu revolutionieren.

    "Wir würden schon gerne die Planeten, die um fremde Sterne gefunden worden sind, mit ganz hoher Auflösung untersuchen, so dass wir die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre untersuchen können um dann nach Biomarkern, wird das genannt, zu suchen. Ob da also Sauerstoff in der Atmosphäre ist, Kohlendioxid oder Ozon gar. Weil man annimmt, dass auf Planeten, auf denen Leben existiert, auch solche Moleküle in der Atmosphäre zumindest zeitweise vorhanden sind. Es wäre natürlich die Sensation schlechthin, wenn man an anderen Stellen des Universums Leben nachweisen könnte."

    Bis zu Galilei haben viele Gelehrte über den Himmel philosophiert, ihn aber nicht genau beobachtet. Auch danach konnten die Astronomen über Vieles notgedrungen nur spekulieren. Doch mit jeder neuen Generation von Teleskopen gelang ein weiterer Schritt: Hin und wieder werden Theorien bestätigt. Meist aber bringen neue Daten die alten Ideen zu Fall. Auch derzeit ergeben die Beobachtungen kein schlüssiges Bild. Bisher reichten recht grobe Modelle, weil die Datenlage der Astronomen noch schlecht war. Im Zeitalter der Großteleskope jedoch zeigt sich mit brutaler Deutlichkeit, dass das alte Weltmodell überholt ist.

    "Als der Kosmos erst zwei oder drei Milliarden Jahre alt war, also nicht einmal ein Viertel seines heutigen Alters hatte, sahen die Galaxien ganz anders aus als die, die uns heute umgeben – das zeigen uns Teleskope wie das VLT. Damals gab es noch keine schönen Spiralgalaxien, wie wir sie heute kennen. Der Kosmos war voller kleiner Galaxienbausteine, die zumeist ganz unregelmäßig geformt waren."

    Kurz nach dem Urknall, weiß Max Pettini von der Universität Cambridge in England inzwischen, flogen erste kleine Klumpen von Sternen wie ein Schwarm Mücken im Kosmos umeinander. Weil das Universum damals noch viel kleiner und die Galaxienbausteine viel näher beieinander lagen, kam es ständig zu Kollisionen.

    "Die Sinfoni-Kamera des VLT liefert uns dreidimensionale Karten der Galaxien. Sie macht ein zweidimensionales Bild und misst als dritte Dimension die Geschwindigkeit in jedem Bildpunkt. Wir sehen also nicht nur, wie die Galaxien aussehen, sondern auch, wie sich einzelne Bereiche der Galaxien bewegen. Diese Daten sind uns in vielem noch immer ein Rätsel. Zumindest aber lässt sich jetzt präzise verfolgen, was dort draußen passiert – und zwar in einer Detailfülle, die vor fünf oder sechs Jahren noch unvorstellbar war!"

    Zuerst hatte ich mir vorgenommen, das ganze Sternbild des Orion zu zeichnen, aber überwältigt von der ungeheuren Menge der Sterne und aus Mangel an Zeit verschob ich diese Unterfangen auf eine andere Gelegenheit.

    Die beginnende Morgendämmerung taucht den Himmel über den Andengipfeln gen Osten in betörende Blau- und Rosatöne. Von Minute zu Minute wird es heller. Im VLT-Kontrollraum schließen die Astronomen die letzten Messungen ab – dann beendet die aufgehende Sonne die nächtlichen Arbeitsstunden. Bruno Leibundgut:

    "Das ist wirklich für mich in der beobachtenden Astronomie etwas vom Schönsten. Die Konzentration finde ich sonst nirgends. Ich habe Sternwarten auch schon mit Klostern verglichen. Also dass man sein ganzes Leben - in dem Fall nur für ein paar Tage - aber nur für etwas einrichtet und alles andere sekundär wird. Das sind einmalige Erlebnisse. Für mich ist das hier schon sehr, sehr stark."