Die Soziologen nennen sie "Postmaterialisten", "Lohas" oder "Best Agers". Journalisten spotten über sie als "Bionade-Biedermänner", "Öko-Spießer" oder die "Latte-Macchiato-Fraktion". Und auch in den Romanen und Filmen jüngerer Autoren und Regisseure tauchen sie nun vermehrt auf: Jene neuen deutschen Wohlstandsbürger zwar in den besten Jahren, aber immer noch auf Sinnsuche, die zwischen 1965 und 1980 in Westdeutschland geboren wurden und mit hohen Selbstverwirklichungsansprüchen durchs Leben laufen.
Eigentlich hatten und haben sie alle Freiheiten, die man sich nur wünschen kann: eine akademische Ausbildung, das postmoderne anything goes - und dazu auch noch oft das nötige Kleingeld. Denn mögen die Arbeitsverhältnisse in ihren Lieblingsbranchen Medien, Kultur und Wissenschaft inzwischen auch prekär geworden sein: Viele ehemalige Nutellakinder können es sich trotzdem leisten, für Dumpinglöhne oder gleich gar kein Geld zu arbeiten, weil sie mit Unterstützung oder vom Erbe ihrer Eltern leben. Was für vom Schicksal bevorzugte Zeitgenossen, sollte man meinen. Doch merkwürdig: Irgendwie scheint gerade die Freiheit von allen niederen Zwängen für die Erbengeneration Golf eine Bürde zu sein. Ja, ihre Privilegien scheinen sie geradezu in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu hemmen und moralisch zu deformieren.
Diesen Eindruck konnte man zumindest auch schon in Katharina Hackers 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Habenichtse" gewinnen. Hacker bescheinigte den neuen Möchtegernbürgern einen eklatanten Mangel an Empathiefähigkeit und Humanität. Auch im ebenfalls hochgelobten Roman von Anna Katharina Hahn "Kürzere Tage" von 2009 kam einem das politisch korrekte Milieu bessergestellter Öko-Mütter bei genauerem Hinsehen alles andere als sympathisch vor. Und in Maren Ades Kinofilm "Alle anderen" führte das angeberische Status-Gequatsche im Freundeskreis beim Liebespaar Chris und Gitti zu Mordgelüsten und einem Suizidversuch.
Nein, so heil, nachhaltig und tolerant, wie ihr Design nach außen vorgibt, ist die Neue Bürgerlichkeit nicht. Auch und vor allem darum nicht, weil hier allzu oft ein gnadenloser Optimierungswille im eigenen Kopf wütet, der auf Perfektion in allen Lebensbereichen abzielt. So entpuppt sich das Scheitern der neuen Wohlstandsbürger meistens als ein Scheitern an den eigenen vermessenen Ansprüchen.
Das ist auch in Silke Scheuermanns neuen Buch "Die Häuser der anderen" so. Auch ihre zwei Hauptfiguren, das Ehepaar Christopher und Luisa, kann man der jüngeren Erbengeneration zurechnen. Christopher hat nämlich gerade ein schickes Haus in der Straße Am Kuhlmühlgraben geerbt, mitten in einem gehobenen Frankfurter Fantasieviertel gelegen. Wer Ähnlichkeiten mit Prenzlauer Berg, dem Münchner Glockenbachviertel oder auch der Kölner Südstadt vermutet, liegt nicht falsch. Und wie so viele heutige Akademiker sind auch Scheuermanns Selbstverwirklicher mit Ende 30 immer noch nicht richtig im Berufsleben angekommen. Christopher schreibt an seiner Habil über die Selbstbestäubung von Zwitterpflanzen. Luisa, eine promovierte Kunsthistorikerin, gibt zweimal die Woche ein Seminar an der Uni. Ansonsten arbeitet sie an einem Buch über Raffael. Obwohl beide keine Großverdiener sind, leistet sich das Paar trotzdem teure Designermöbel, eine exquisite Garderobe und luxuriöse Fernreisen, was beide dann auch gern vor den Nachbarn zur Schau stellen. Ebenso wie ihren Mischlingshund Benno, der natürlich hundert Prozent Bio-Hundefutter bekommt. Denn Am Kuhlmühlgraben müssen sogar die Hunde als Statussymbole herhalten. Oder, wie Luisa gleich zu Anfang des Buches erklärt:
Das Leben am Kuhlmühlgraben begann früh. Das lag weniger an den kleinen Kindern – die gab es hier kaum – es waren die Hunde, die den Tagesrhythmus bestimmten. Sie beschützten die Grundstücke und nahmen die Plätze in den leeren Heimen ein, wenn der Nachwuchs die Familie verlassen hatte. Den jüngeren Paaren, die sich nicht sicher waren, ob sie ein Baby wollten, dienten die Hunde als Versuchslebewesen. Zwei Dalmatiner lebten am Kuhlmühlgraben, ein Windhund, ein Bernhardiner, ein Riesenpudel, zwei Chow-Chows und ein 18 Jahre alter, halb blinder und tauber Pekinese, der nur noch Kalbsleberwurst fraß. Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.
Der klassische Proletarier, der klassische Bourgeois und auch der klassische Bildungsbürger mögen verschwunden sein: Der Klassenkampf aber tobt bei Silke Scheuermann unterschwellig weiter. Nur, dass das Abgrenzungsverhalten heute anderen Codes gehorcht. Fuhr man früher in die Toskana, jettet man heute in die USA. Und an die Stelle des neuen Farbfernsehers ist bei Scheuermann die Marcel-Breuer-Liege gerückt. Das liest sich zwar nicht unbedingt up to date, ist aber ganz gut beobachtet. Zumal es zu Anfang wie ein witziger Kniff wirkt, dass im neobürgerlichen Kosmos von Christopher und Luisa das sonst so gern hergezeigte Wunschkind buchstäblich auf den Wunschhund gekommen ist. Denn ständig um sich selbst kreisende Selbstverwirklicher wie sie wollen natürlich nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen. Allenfalls ein pflegeleichtes "Versuchslebewesen" wie Hund Benno ist für das Paar gerade noch tragbar. Der Ferienbesuch von Luisas achtjähriger Nichte Anne bringt die Tante dann bezeichnenderweise schon am ersten Abend an den Rand des Nervenzusammenbruchs:
"Halt mal den Kopf wieder nach unten, Tante Luisa", sagte Anne auf einmal.
"Was? Wie meinst du? So?" Was in Dreiteufelsnamen hatte das Mädchen nun im Sinn?
"Jetzt siehst du aus wie die Madonna im Grünen", meinte Anne und erklärte: "Das Bild habe ich in Wien gesehen. Da sitzt eine Frau in einem roten Kleid und mit hochgesteckten Haaren bei einem Picknick und sieht nach unten. Genauso wie du eben. Du hast auch ein rotes Oberteil an, nur die Jeans passt nicht." Anne nickte zufrieden vor sich hin. Luisa konnte sich undeutlich an das Bild erinnern – es war ein Raffael.
Hatte sie auch diesen leicht weggetretenen Madonnenblick? Jedenfalls war das eine unglaubliche Behauptung für ein Kind. Luisa wollte nicht, aber sie musste lachen. Sie lachte erst leicht und glucksend auf, dann wurde ihr Lachen stärker, geradezu unaufhaltsam, es tat ihr in der Brust und in den Augen weh, bis diese anfingen, zu tränen und die Tränen ihr in Bächen die Wangen herab liefen. Da kommt eine Achtjährige und richtet mich her, dachte Luisa, damit ich in ihr Bild passe, es ist nicht zu fassen. Luisa lachte direkt in Annes erwartungsvolles Gesicht hinein, und dabei wünschte sie sich, dieses Mädchen wäre nie bei ihnen aufgetaucht.
Wir sind hier erst auf Seite 36. Und bis hierhin liest sich die Geschichte von Christopher und Luisa eigentlich noch ziemlich spannend. Denn noch sieht es so aus, als könnte "Die Häuser der anderen" zu einer halbwegs bösen Satire auf das heutige, oft so selbstgefällige Juste Milieu werden. Immerhin bekommt man es hier mit der völlig überspannten Kunsthistorikern Luisa zu tun, die allen Ernstes auf ein achtjähriges Mädchen eifersüchtig ist, weil es sich als frühreife Raffael-Expertin entpuppt. Das wirkt hochneurotisch und böte eigentlich viel schwarzhumorigen Konfliktstoff. Denn Luisa erweist sich auch im weiteren als echte Drama Queen, die ihrem Christopher schon bald so auf die Nerven geht, dass es zur Ehekrise kommt.
Doch leider nutzt Scheuermann diese dann nicht dazu, um die Borniertheit und Piefigkeit ihrer Figuren auszustellen, sondern lässt die Geschichte ziellos, ja geradezu geschwätzig indifferent vor sich hinplätschern. Der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit des Erzählten drängt sich umso mehr auf, als auf Seite 60 plötzlich mitten im Ehestreit ein längerer und völlig unmotivierter Schwenk hinüber in die Nachbarschaft erfolgt.
Während Luisa und Christopher offenbar kurz vor der Trennung stehen, wird der Leser nun auf einmal mit einem schwulen Haumeisterpaar von nebenan konfrontiert. Die beiden Herren um die 50 wirken mit ihren karierten Hemden, behaarten Beinen und Sandalen schon äußerlich wie Karikaturen des spießigen Kleinbürgers. Und sie benehmen sich auch prompt wie Blockwarte aus dem Bilderbuch: schikanieren die anderen Mieter mal mit der Heckenschere, mal mit terpentinverseuchtem Blumenwasser oder auch mit vergifteter Hundeschokolade. Die benachbarte Fernsehmoderatorin, die wir wenig später kennenlernen, wirkt ebenfalls wie ein wandelndes Klischee. Sie schreibt nicht nur das promitypische Diät-Kochbuch, sondern hat auch das promitypische Adoptivkind an der Backe. Ihrer Putzfrau Gaby ist dann auch noch einmal ein ganzes Kapitel gewidmet. Gaby - eben ganz ehrgeiziger Underdog - schreckt in ihrem Aufstiegswahn noch nicht einmal davor zurück, ihre einzige Tochter "Britney" mit dem wohlstandsverwahrlosten Adoptivsohn der Moderatorin zu verkuppeln.
Das alles sind Klischeeschicksale. Und es fragt, was sie dem Leser eigentlich sagen sollen. Beziehungsweise: Was diese Nachbarschaftsanekdoten nun eigentlich mit Luisa und Christopher zu tun haben? Die Antwort ist leider: tatsächlich nicht allzu viel. Denn auch, wenn vordergründig eine Menge in den "Häusern der anderen" passiert: Besonders anrührend oder gar erkenntnisstiftend lesen sich diese stereotypen Geschichten nicht. Es gibt Intrigen, einen Unfalltod, Heroin- und Alkoholsucht und schließlich sogar einen Mord mit dem Baseballschläger. Aber alle diese Tragödien lassen einen schon deshalb völlig kalt, weil sie als auf Pointe getrimmte Episoden erzählt werden. Und zunehmend klingen wie aus dem Skript einer Soap Opera. Oder besser gesagt: wie "Sex in the City", nur diesmal aus Main-, nicht aus Manhattan.
Und was diesen Roman, der sich mehr und mehr als eine Sammlung nur sehr lose miteinander verbundener Erzählstückchen herausstellt, dann wirklich richtig ärgerlich macht, ist, dass darin leider nicht nur achtjährige Mädchen sprechen, als wären sie gerade dem universitären Oberseminar entsprungen. Auch der schwule Blockwart von nebenan räsoniert hier gleich Absätze lang über Thomas Manns "Tod in Venedig", als er sich Hals über Kopf in einen studentischen Tadzio verliebt. Putzfrau Gaby macht sich nicht nur Gedanken über den Plural von Trauma, nämlich Traumata, sondern verspricht ihrer Arbeitgeberin auch in bestem Managerdeutsch "Diskretion" und "integer" zu sein. Und vor allem Alkoholikerin Dorothee, die für Luisa und Christopher gelegentlich auf Hund Benno aufpasst, wirkt ungefähr so lebensecht wie Heidi Klum als Obdachlose. Als unser krisengeschütteltes Pärchen in den USA Urlaub macht, quartiert sich die Trinkerin zusammen mit Benno im leeren Haus von Luisa und Christopher ein. Und das klingt dann tatsächlich so:
Ich sammele die Post, die durch den Briefkastenschlitz gefallen ist, vom Boden auf und lege sie auf den Telefontisch. Mir haben sie auch eine Karte geschrieben, aus Seattle. Luisas schwungvolle Handschrift, die mich und Benno grüßt. Sie hat mit dem Reisefüllfederhalter geschrieben. Den hat sie mir vor der Abreise gezeigt. Reisefüllfederhalter. Manchmal verachte ich sie. Wie an dem Tag, als sie mir die neu gestaltete Wohnung zeigte und immer wieder diese Namen sagte: Stanislassia Klein, Philippe Strack, Marcel Breuer, Ettore Sottsass, Joe Colombo. Sie hat sie immer wieder runtergebetet. Der Kühlschrank steht offen, er ist abgetaut. Mehrere Weinflaschen liegen in einem eigens dafür angefertigten Gerüst. Luisa hat mir erzählt, dass sie unbedingt Delphin-Caparccio essen will. Ich habe ihr geantwortet, dass es sicher ziemlich klug ist, so intelligente Tiere zu essen. Da hat sie nicht recht gewusst, ob ich einen Witz mache oder nicht. Ich weiß es auch nie in solchen Fällen. Ich öffne eine Flasche. Der Wein schmeckt mir. Weiß, kühl. Er ist fruchtig und riecht ein wenig nach Johannisbeere. Ich setze mich an Luisas Schreibtisch – er heißt Rockabilly, fällt mir plötzlich ein – und blättere ein bisschen. Gustave Courbet. Nichts Modernes, ältere Sachen. Stillleben, Schiffsbilder, junge Frauen in langen Kleidern, die im Grünen herumliegen. Durch den Wein kann ich alles wahrnehmen, mich ganz in die Gemälde versenken.
Pardon, aber spricht so wirklich eine bereits schwer angetrunkene Alkoholikerin, die wenig später im Vollrausch zusammenbricht? Redet so eine völlig verzweifelte Frau ohne Perspektive, die über den tragischen Unfalltod ihres Mannes nicht hinwegkommt? Wohl kaum. Stattdessen klingt es einfach nur zynisch, wenn ausgerechnet jemand wie Dorothee, die kurz vor dem Abgrund steht, von Philippe-Starck-Leuchten, Delphin-Carpaccio und Gustave Courbet vor sich hindoziert.
Mag sein, dass Silke Scheuermann mit diesem Monolog dem Alltag einer Trinkerin auch einmal ganz andere, eventuell sogar komische Seiten abgewinnen wollte. Nur falls dem so wäre: Dieser Versuch geht gründlich schief. Durch das snobistische Namedropping wirkt ihre Sozialverliererin Dorothee nämlich einfach nur lächerlich. Womit wir wieder beim Hauptproblem dieses Buches wären: seine Unentschlossenheit. Für eine Parodie oder Satire ist es einerseits viel zu wenig böse und zu wenig skurril. Für eine ernsthafte Milieustudie über die Neue Bürgerlichkeit aber ist es andererseits zu oberflächlich, zu stereotyp und zu unrealistisch. Und so wirkt schlussendlich auch der entscheidende Trennungsstreit von Luisa und Christopher, der 130 Seiten nach ihrem letzten Auftritt und vier Jahre später in einem Restaurant in Venedig stattfindet, bloß wie ein abgenudelter Comedy-Gag:
Als Christophers Risotto kam, veränderte sich Luisas Blick. Man sollte ein Foto schießen, dachte er, und es im Lexikon zum Stichwort Gier veröffentlichen. Er bot Luisa pflichtschuldig an, dass sie probieren könne. Sie probierte drei Bissen von der linken Seite, machte dann eine Anstandspause, um sich danach von rechts die dicksten Tintenfischstücke zu angeln. Dann kippte sie Parmesan über eine kleine Ecke, die sie sich zusätzlich abgetrennt hatte.
"Du bekommst natürlich auch noch von meinem Teller!", versprach Luisa großzügig. Aber als Christopher die insgesamt sechs Häppchen kalten Fisch und Garnelen sah, die sie bekam, brachte er es nicht übers Herz, ihr etwas davon wegzuessen. Sie war in Windeseile fertig und sah ihm zu, wie er zufrieden sein Steak kaute.
"Wie ist es?"
"Fantastisch."
Sie wartete, er wartete. Dann schob Christopher Luisa, ruhig und verärgert, den Teller hin. Sie probierte, und er zog den Teller trotz ihres anklagenden Blicks wieder zu sich hin. Das Steak war perfekt Medium, und die leicht süßliche Cassis-Sauce und die Polenta passten hervorragend. Es wäre auch genau die richtige Portion gewesen, eigentlich. Luisa ließ sich vom Kellner noch einen Teller kommen
"Guck mal, er versteht mein Italienisch wirklich!"
Der Nachtisch war schließlich zehn Löffel groß. Er bekam zwei, sie acht. Christopher überlegte, ob in seinem Handgepäck noch eine Studentenfuttertüte steckte, auf die er eventuell zurückgreifen könnte, trank den Wein aus und rief den Kellner.
Noch sechs Tage, dachte er. Sechsmal Mittag- und Abendessen. Halte ich aus.
Mal ehrlich: Braucht es für solche Eheszenen wirklich ein Buch? Oder passen die nicht tatsächlich viel besser ins Unterhaltungsfernsehen, woher man sie ja auch zur Genüge kennt?
Nun ist die Grenze zwischen E- und U-Literatur bekanntlich schon seit den 90er-Jahren aufgehoben. Und das konnte man damals auch aus berechtigten Gründen begrüßen. Nur ist der Unterhaltungsroman inzwischen so vorherrschend geworden, dass man sich schon manchmal fragen kann, ob vor lauter U das E in der Gegenwartsliteratur überhaupt noch zum Zuge kommt. Silke Scheuermanns neuer Roman, der niemandem wehtut und der sich gleichzeitig doch irgendwie trendy gibt, wirkt da prototypisch für viele andere handwerklich solide gearbeitete, aber formal wie inhaltlich letztlich risiko- und substanzlose Titel.
Dabei hat diese 1973 geborene Autorin eigentlich bewiesen, dass sie schreiben kann. Allerdings vor allem als Lyrikerin. 2001 bekam Scheuermann mit 27 Jahren den Leonce- und Lena-Preis. Danach galt sie schnell als Hoffnungsträgerin der deutschen Gegenwartsliteratur und versuchte, sich auch als Prosaautorin zu etablieren. Diese Versuche waren dann jedoch nicht nur erfolgreich. Während ihr Romandebüt "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" 2007 zu Recht sehr gelobt wurde, fielen der Erzählband "Reiche Mädchen" von 2005 und auch ihr zweiter Roman "Shanghai Performance" aus dem letzten Jahr bei der Kritik weitgehend durch. "Die Häuser der anderen" ist nun schon der dritte Romantitel, den die Vielschreiberin aus Offenbach in nur fünf Jahren vorlegt. Und wie bei einigen anderen ehemaligen Wunderfräuleins der Literatur kann man sich nun auch um Scheuermann schon etwas Sorgen machen, dass sie ihr Talent - unter welchem Druck auch immer – vielleicht ein wenig arg leichtfertig verschleudert.
Zumindest wird man den Verdacht nicht los, dass in ihrem neuen Buch eine eigentlich nur kurzgeschichtentaugliche Idee zum gängigen, heiter vergnüglichen 250-Seiten-Roman aufgepumpt wird, wie er gerade dutzendfach in den Buchläden herumsteht. Denn Kurzgeschichten gelten - ebenso wie Gedichte und Essays - in der Branche schon etwas länger als sperrig und angeblich schwer verkäuflich. Das Resultat dieses vorherrschenden, verkürzten Verständnisses von Literatur als Wohlfühlprodukt ist dann aber einigermaßen fatal. Zu Ende gedacht läuft es auf nichts Geringeres als den Tod der Literatur hinaus. Denn ausgerechnet in unserer extrem beschleunigten, global vernetzten Mediengesellschaft, die immer komplexer, immer unvorhersehbarer und immer riskanter wird, bekommen wir es nun mit einer Vielzahl von konfektionierten Romanen zu tun, die, statt unbequeme Fragen zu stellen, tröstlich-amüsante Surrogate liefern. Das mag Konsumenten mit Entspannungsgelüsten kurzzeitig zufriedenstellen. Es macht unsere komplizierte Gegenwart aber um nichts verständlicher. Vor allem jedoch verrät diese Art von Roman die vornehmste Aufgabe der Literatur: nämlich ein ästhetisch-kritisches Korrektiv zu sein. Genau zu beobachten, Phänomene wirklich zu hinterfragen und den Leser durchaus auch mal zu verstören oder zu provozieren. Auch und gerade dann, wenn's wehtut.
Buchinfos:
Silke Scheuermann: "Die Häuser der anderen". Roman, 264 Seiten, Schöffling & Co. Verlag, Preis: 19,95 Euro
Eigentlich hatten und haben sie alle Freiheiten, die man sich nur wünschen kann: eine akademische Ausbildung, das postmoderne anything goes - und dazu auch noch oft das nötige Kleingeld. Denn mögen die Arbeitsverhältnisse in ihren Lieblingsbranchen Medien, Kultur und Wissenschaft inzwischen auch prekär geworden sein: Viele ehemalige Nutellakinder können es sich trotzdem leisten, für Dumpinglöhne oder gleich gar kein Geld zu arbeiten, weil sie mit Unterstützung oder vom Erbe ihrer Eltern leben. Was für vom Schicksal bevorzugte Zeitgenossen, sollte man meinen. Doch merkwürdig: Irgendwie scheint gerade die Freiheit von allen niederen Zwängen für die Erbengeneration Golf eine Bürde zu sein. Ja, ihre Privilegien scheinen sie geradezu in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu hemmen und moralisch zu deformieren.
Diesen Eindruck konnte man zumindest auch schon in Katharina Hackers 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Habenichtse" gewinnen. Hacker bescheinigte den neuen Möchtegernbürgern einen eklatanten Mangel an Empathiefähigkeit und Humanität. Auch im ebenfalls hochgelobten Roman von Anna Katharina Hahn "Kürzere Tage" von 2009 kam einem das politisch korrekte Milieu bessergestellter Öko-Mütter bei genauerem Hinsehen alles andere als sympathisch vor. Und in Maren Ades Kinofilm "Alle anderen" führte das angeberische Status-Gequatsche im Freundeskreis beim Liebespaar Chris und Gitti zu Mordgelüsten und einem Suizidversuch.
Nein, so heil, nachhaltig und tolerant, wie ihr Design nach außen vorgibt, ist die Neue Bürgerlichkeit nicht. Auch und vor allem darum nicht, weil hier allzu oft ein gnadenloser Optimierungswille im eigenen Kopf wütet, der auf Perfektion in allen Lebensbereichen abzielt. So entpuppt sich das Scheitern der neuen Wohlstandsbürger meistens als ein Scheitern an den eigenen vermessenen Ansprüchen.
Das ist auch in Silke Scheuermanns neuen Buch "Die Häuser der anderen" so. Auch ihre zwei Hauptfiguren, das Ehepaar Christopher und Luisa, kann man der jüngeren Erbengeneration zurechnen. Christopher hat nämlich gerade ein schickes Haus in der Straße Am Kuhlmühlgraben geerbt, mitten in einem gehobenen Frankfurter Fantasieviertel gelegen. Wer Ähnlichkeiten mit Prenzlauer Berg, dem Münchner Glockenbachviertel oder auch der Kölner Südstadt vermutet, liegt nicht falsch. Und wie so viele heutige Akademiker sind auch Scheuermanns Selbstverwirklicher mit Ende 30 immer noch nicht richtig im Berufsleben angekommen. Christopher schreibt an seiner Habil über die Selbstbestäubung von Zwitterpflanzen. Luisa, eine promovierte Kunsthistorikerin, gibt zweimal die Woche ein Seminar an der Uni. Ansonsten arbeitet sie an einem Buch über Raffael. Obwohl beide keine Großverdiener sind, leistet sich das Paar trotzdem teure Designermöbel, eine exquisite Garderobe und luxuriöse Fernreisen, was beide dann auch gern vor den Nachbarn zur Schau stellen. Ebenso wie ihren Mischlingshund Benno, der natürlich hundert Prozent Bio-Hundefutter bekommt. Denn Am Kuhlmühlgraben müssen sogar die Hunde als Statussymbole herhalten. Oder, wie Luisa gleich zu Anfang des Buches erklärt:
Das Leben am Kuhlmühlgraben begann früh. Das lag weniger an den kleinen Kindern – die gab es hier kaum – es waren die Hunde, die den Tagesrhythmus bestimmten. Sie beschützten die Grundstücke und nahmen die Plätze in den leeren Heimen ein, wenn der Nachwuchs die Familie verlassen hatte. Den jüngeren Paaren, die sich nicht sicher waren, ob sie ein Baby wollten, dienten die Hunde als Versuchslebewesen. Zwei Dalmatiner lebten am Kuhlmühlgraben, ein Windhund, ein Bernhardiner, ein Riesenpudel, zwei Chow-Chows und ein 18 Jahre alter, halb blinder und tauber Pekinese, der nur noch Kalbsleberwurst fraß. Vorn protzte man mit den Autos, hinten mit den Hunden – so war die Straße eben auch, und diese Ambitioniertheit gefiel Luisa und Christopher sehr gut, schließlich wollten sie genauso wenig auf der Stelle treten.
Der klassische Proletarier, der klassische Bourgeois und auch der klassische Bildungsbürger mögen verschwunden sein: Der Klassenkampf aber tobt bei Silke Scheuermann unterschwellig weiter. Nur, dass das Abgrenzungsverhalten heute anderen Codes gehorcht. Fuhr man früher in die Toskana, jettet man heute in die USA. Und an die Stelle des neuen Farbfernsehers ist bei Scheuermann die Marcel-Breuer-Liege gerückt. Das liest sich zwar nicht unbedingt up to date, ist aber ganz gut beobachtet. Zumal es zu Anfang wie ein witziger Kniff wirkt, dass im neobürgerlichen Kosmos von Christopher und Luisa das sonst so gern hergezeigte Wunschkind buchstäblich auf den Wunschhund gekommen ist. Denn ständig um sich selbst kreisende Selbstverwirklicher wie sie wollen natürlich nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen. Allenfalls ein pflegeleichtes "Versuchslebewesen" wie Hund Benno ist für das Paar gerade noch tragbar. Der Ferienbesuch von Luisas achtjähriger Nichte Anne bringt die Tante dann bezeichnenderweise schon am ersten Abend an den Rand des Nervenzusammenbruchs:
"Halt mal den Kopf wieder nach unten, Tante Luisa", sagte Anne auf einmal.
"Was? Wie meinst du? So?" Was in Dreiteufelsnamen hatte das Mädchen nun im Sinn?
"Jetzt siehst du aus wie die Madonna im Grünen", meinte Anne und erklärte: "Das Bild habe ich in Wien gesehen. Da sitzt eine Frau in einem roten Kleid und mit hochgesteckten Haaren bei einem Picknick und sieht nach unten. Genauso wie du eben. Du hast auch ein rotes Oberteil an, nur die Jeans passt nicht." Anne nickte zufrieden vor sich hin. Luisa konnte sich undeutlich an das Bild erinnern – es war ein Raffael.
Hatte sie auch diesen leicht weggetretenen Madonnenblick? Jedenfalls war das eine unglaubliche Behauptung für ein Kind. Luisa wollte nicht, aber sie musste lachen. Sie lachte erst leicht und glucksend auf, dann wurde ihr Lachen stärker, geradezu unaufhaltsam, es tat ihr in der Brust und in den Augen weh, bis diese anfingen, zu tränen und die Tränen ihr in Bächen die Wangen herab liefen. Da kommt eine Achtjährige und richtet mich her, dachte Luisa, damit ich in ihr Bild passe, es ist nicht zu fassen. Luisa lachte direkt in Annes erwartungsvolles Gesicht hinein, und dabei wünschte sie sich, dieses Mädchen wäre nie bei ihnen aufgetaucht.
Wir sind hier erst auf Seite 36. Und bis hierhin liest sich die Geschichte von Christopher und Luisa eigentlich noch ziemlich spannend. Denn noch sieht es so aus, als könnte "Die Häuser der anderen" zu einer halbwegs bösen Satire auf das heutige, oft so selbstgefällige Juste Milieu werden. Immerhin bekommt man es hier mit der völlig überspannten Kunsthistorikern Luisa zu tun, die allen Ernstes auf ein achtjähriges Mädchen eifersüchtig ist, weil es sich als frühreife Raffael-Expertin entpuppt. Das wirkt hochneurotisch und böte eigentlich viel schwarzhumorigen Konfliktstoff. Denn Luisa erweist sich auch im weiteren als echte Drama Queen, die ihrem Christopher schon bald so auf die Nerven geht, dass es zur Ehekrise kommt.
Doch leider nutzt Scheuermann diese dann nicht dazu, um die Borniertheit und Piefigkeit ihrer Figuren auszustellen, sondern lässt die Geschichte ziellos, ja geradezu geschwätzig indifferent vor sich hinplätschern. Der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit des Erzählten drängt sich umso mehr auf, als auf Seite 60 plötzlich mitten im Ehestreit ein längerer und völlig unmotivierter Schwenk hinüber in die Nachbarschaft erfolgt.
Während Luisa und Christopher offenbar kurz vor der Trennung stehen, wird der Leser nun auf einmal mit einem schwulen Haumeisterpaar von nebenan konfrontiert. Die beiden Herren um die 50 wirken mit ihren karierten Hemden, behaarten Beinen und Sandalen schon äußerlich wie Karikaturen des spießigen Kleinbürgers. Und sie benehmen sich auch prompt wie Blockwarte aus dem Bilderbuch: schikanieren die anderen Mieter mal mit der Heckenschere, mal mit terpentinverseuchtem Blumenwasser oder auch mit vergifteter Hundeschokolade. Die benachbarte Fernsehmoderatorin, die wir wenig später kennenlernen, wirkt ebenfalls wie ein wandelndes Klischee. Sie schreibt nicht nur das promitypische Diät-Kochbuch, sondern hat auch das promitypische Adoptivkind an der Backe. Ihrer Putzfrau Gaby ist dann auch noch einmal ein ganzes Kapitel gewidmet. Gaby - eben ganz ehrgeiziger Underdog - schreckt in ihrem Aufstiegswahn noch nicht einmal davor zurück, ihre einzige Tochter "Britney" mit dem wohlstandsverwahrlosten Adoptivsohn der Moderatorin zu verkuppeln.
Das alles sind Klischeeschicksale. Und es fragt, was sie dem Leser eigentlich sagen sollen. Beziehungsweise: Was diese Nachbarschaftsanekdoten nun eigentlich mit Luisa und Christopher zu tun haben? Die Antwort ist leider: tatsächlich nicht allzu viel. Denn auch, wenn vordergründig eine Menge in den "Häusern der anderen" passiert: Besonders anrührend oder gar erkenntnisstiftend lesen sich diese stereotypen Geschichten nicht. Es gibt Intrigen, einen Unfalltod, Heroin- und Alkoholsucht und schließlich sogar einen Mord mit dem Baseballschläger. Aber alle diese Tragödien lassen einen schon deshalb völlig kalt, weil sie als auf Pointe getrimmte Episoden erzählt werden. Und zunehmend klingen wie aus dem Skript einer Soap Opera. Oder besser gesagt: wie "Sex in the City", nur diesmal aus Main-, nicht aus Manhattan.
Und was diesen Roman, der sich mehr und mehr als eine Sammlung nur sehr lose miteinander verbundener Erzählstückchen herausstellt, dann wirklich richtig ärgerlich macht, ist, dass darin leider nicht nur achtjährige Mädchen sprechen, als wären sie gerade dem universitären Oberseminar entsprungen. Auch der schwule Blockwart von nebenan räsoniert hier gleich Absätze lang über Thomas Manns "Tod in Venedig", als er sich Hals über Kopf in einen studentischen Tadzio verliebt. Putzfrau Gaby macht sich nicht nur Gedanken über den Plural von Trauma, nämlich Traumata, sondern verspricht ihrer Arbeitgeberin auch in bestem Managerdeutsch "Diskretion" und "integer" zu sein. Und vor allem Alkoholikerin Dorothee, die für Luisa und Christopher gelegentlich auf Hund Benno aufpasst, wirkt ungefähr so lebensecht wie Heidi Klum als Obdachlose. Als unser krisengeschütteltes Pärchen in den USA Urlaub macht, quartiert sich die Trinkerin zusammen mit Benno im leeren Haus von Luisa und Christopher ein. Und das klingt dann tatsächlich so:
Ich sammele die Post, die durch den Briefkastenschlitz gefallen ist, vom Boden auf und lege sie auf den Telefontisch. Mir haben sie auch eine Karte geschrieben, aus Seattle. Luisas schwungvolle Handschrift, die mich und Benno grüßt. Sie hat mit dem Reisefüllfederhalter geschrieben. Den hat sie mir vor der Abreise gezeigt. Reisefüllfederhalter. Manchmal verachte ich sie. Wie an dem Tag, als sie mir die neu gestaltete Wohnung zeigte und immer wieder diese Namen sagte: Stanislassia Klein, Philippe Strack, Marcel Breuer, Ettore Sottsass, Joe Colombo. Sie hat sie immer wieder runtergebetet. Der Kühlschrank steht offen, er ist abgetaut. Mehrere Weinflaschen liegen in einem eigens dafür angefertigten Gerüst. Luisa hat mir erzählt, dass sie unbedingt Delphin-Caparccio essen will. Ich habe ihr geantwortet, dass es sicher ziemlich klug ist, so intelligente Tiere zu essen. Da hat sie nicht recht gewusst, ob ich einen Witz mache oder nicht. Ich weiß es auch nie in solchen Fällen. Ich öffne eine Flasche. Der Wein schmeckt mir. Weiß, kühl. Er ist fruchtig und riecht ein wenig nach Johannisbeere. Ich setze mich an Luisas Schreibtisch – er heißt Rockabilly, fällt mir plötzlich ein – und blättere ein bisschen. Gustave Courbet. Nichts Modernes, ältere Sachen. Stillleben, Schiffsbilder, junge Frauen in langen Kleidern, die im Grünen herumliegen. Durch den Wein kann ich alles wahrnehmen, mich ganz in die Gemälde versenken.
Pardon, aber spricht so wirklich eine bereits schwer angetrunkene Alkoholikerin, die wenig später im Vollrausch zusammenbricht? Redet so eine völlig verzweifelte Frau ohne Perspektive, die über den tragischen Unfalltod ihres Mannes nicht hinwegkommt? Wohl kaum. Stattdessen klingt es einfach nur zynisch, wenn ausgerechnet jemand wie Dorothee, die kurz vor dem Abgrund steht, von Philippe-Starck-Leuchten, Delphin-Carpaccio und Gustave Courbet vor sich hindoziert.
Mag sein, dass Silke Scheuermann mit diesem Monolog dem Alltag einer Trinkerin auch einmal ganz andere, eventuell sogar komische Seiten abgewinnen wollte. Nur falls dem so wäre: Dieser Versuch geht gründlich schief. Durch das snobistische Namedropping wirkt ihre Sozialverliererin Dorothee nämlich einfach nur lächerlich. Womit wir wieder beim Hauptproblem dieses Buches wären: seine Unentschlossenheit. Für eine Parodie oder Satire ist es einerseits viel zu wenig böse und zu wenig skurril. Für eine ernsthafte Milieustudie über die Neue Bürgerlichkeit aber ist es andererseits zu oberflächlich, zu stereotyp und zu unrealistisch. Und so wirkt schlussendlich auch der entscheidende Trennungsstreit von Luisa und Christopher, der 130 Seiten nach ihrem letzten Auftritt und vier Jahre später in einem Restaurant in Venedig stattfindet, bloß wie ein abgenudelter Comedy-Gag:
Als Christophers Risotto kam, veränderte sich Luisas Blick. Man sollte ein Foto schießen, dachte er, und es im Lexikon zum Stichwort Gier veröffentlichen. Er bot Luisa pflichtschuldig an, dass sie probieren könne. Sie probierte drei Bissen von der linken Seite, machte dann eine Anstandspause, um sich danach von rechts die dicksten Tintenfischstücke zu angeln. Dann kippte sie Parmesan über eine kleine Ecke, die sie sich zusätzlich abgetrennt hatte.
"Du bekommst natürlich auch noch von meinem Teller!", versprach Luisa großzügig. Aber als Christopher die insgesamt sechs Häppchen kalten Fisch und Garnelen sah, die sie bekam, brachte er es nicht übers Herz, ihr etwas davon wegzuessen. Sie war in Windeseile fertig und sah ihm zu, wie er zufrieden sein Steak kaute.
"Wie ist es?"
"Fantastisch."
Sie wartete, er wartete. Dann schob Christopher Luisa, ruhig und verärgert, den Teller hin. Sie probierte, und er zog den Teller trotz ihres anklagenden Blicks wieder zu sich hin. Das Steak war perfekt Medium, und die leicht süßliche Cassis-Sauce und die Polenta passten hervorragend. Es wäre auch genau die richtige Portion gewesen, eigentlich. Luisa ließ sich vom Kellner noch einen Teller kommen
"Guck mal, er versteht mein Italienisch wirklich!"
Der Nachtisch war schließlich zehn Löffel groß. Er bekam zwei, sie acht. Christopher überlegte, ob in seinem Handgepäck noch eine Studentenfuttertüte steckte, auf die er eventuell zurückgreifen könnte, trank den Wein aus und rief den Kellner.
Noch sechs Tage, dachte er. Sechsmal Mittag- und Abendessen. Halte ich aus.
Mal ehrlich: Braucht es für solche Eheszenen wirklich ein Buch? Oder passen die nicht tatsächlich viel besser ins Unterhaltungsfernsehen, woher man sie ja auch zur Genüge kennt?
Nun ist die Grenze zwischen E- und U-Literatur bekanntlich schon seit den 90er-Jahren aufgehoben. Und das konnte man damals auch aus berechtigten Gründen begrüßen. Nur ist der Unterhaltungsroman inzwischen so vorherrschend geworden, dass man sich schon manchmal fragen kann, ob vor lauter U das E in der Gegenwartsliteratur überhaupt noch zum Zuge kommt. Silke Scheuermanns neuer Roman, der niemandem wehtut und der sich gleichzeitig doch irgendwie trendy gibt, wirkt da prototypisch für viele andere handwerklich solide gearbeitete, aber formal wie inhaltlich letztlich risiko- und substanzlose Titel.
Dabei hat diese 1973 geborene Autorin eigentlich bewiesen, dass sie schreiben kann. Allerdings vor allem als Lyrikerin. 2001 bekam Scheuermann mit 27 Jahren den Leonce- und Lena-Preis. Danach galt sie schnell als Hoffnungsträgerin der deutschen Gegenwartsliteratur und versuchte, sich auch als Prosaautorin zu etablieren. Diese Versuche waren dann jedoch nicht nur erfolgreich. Während ihr Romandebüt "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" 2007 zu Recht sehr gelobt wurde, fielen der Erzählband "Reiche Mädchen" von 2005 und auch ihr zweiter Roman "Shanghai Performance" aus dem letzten Jahr bei der Kritik weitgehend durch. "Die Häuser der anderen" ist nun schon der dritte Romantitel, den die Vielschreiberin aus Offenbach in nur fünf Jahren vorlegt. Und wie bei einigen anderen ehemaligen Wunderfräuleins der Literatur kann man sich nun auch um Scheuermann schon etwas Sorgen machen, dass sie ihr Talent - unter welchem Druck auch immer – vielleicht ein wenig arg leichtfertig verschleudert.
Zumindest wird man den Verdacht nicht los, dass in ihrem neuen Buch eine eigentlich nur kurzgeschichtentaugliche Idee zum gängigen, heiter vergnüglichen 250-Seiten-Roman aufgepumpt wird, wie er gerade dutzendfach in den Buchläden herumsteht. Denn Kurzgeschichten gelten - ebenso wie Gedichte und Essays - in der Branche schon etwas länger als sperrig und angeblich schwer verkäuflich. Das Resultat dieses vorherrschenden, verkürzten Verständnisses von Literatur als Wohlfühlprodukt ist dann aber einigermaßen fatal. Zu Ende gedacht läuft es auf nichts Geringeres als den Tod der Literatur hinaus. Denn ausgerechnet in unserer extrem beschleunigten, global vernetzten Mediengesellschaft, die immer komplexer, immer unvorhersehbarer und immer riskanter wird, bekommen wir es nun mit einer Vielzahl von konfektionierten Romanen zu tun, die, statt unbequeme Fragen zu stellen, tröstlich-amüsante Surrogate liefern. Das mag Konsumenten mit Entspannungsgelüsten kurzzeitig zufriedenstellen. Es macht unsere komplizierte Gegenwart aber um nichts verständlicher. Vor allem jedoch verrät diese Art von Roman die vornehmste Aufgabe der Literatur: nämlich ein ästhetisch-kritisches Korrektiv zu sein. Genau zu beobachten, Phänomene wirklich zu hinterfragen und den Leser durchaus auch mal zu verstören oder zu provozieren. Auch und gerade dann, wenn's wehtut.
Buchinfos:
Silke Scheuermann: "Die Häuser der anderen". Roman, 264 Seiten, Schöffling & Co. Verlag, Preis: 19,95 Euro