Bei diesem Text handelt es sich um die lange Version des Hintergrundes, welche auch dem Podcast-Audio entspricht. Die im Radio gesendete Version ist der vorgegebenen Sendezeit angepasst und entsprechend kürzer.
Der 21. August 1968 in Prag. Ein Mittwoch. Es ist bedeckt, aber schwül. Über den Wenzelsplatz rollen sowjetische Panzer. Die Tschechoslowakei ist von vier Staaten des Warschauer Pakts okkupiert. Mit 200.000 Soldaten sind sie über Nacht einmarschiert. Offiziell um den Sozialismus zu retten. Aber die Tschechen und Slowaken wissen: Um den demokratischen Weg, den ihr Land eingeschlagen hat, zu beenden. Der Versuch, Demokratie, bürgerliche Freiheit und wirtschaftliche Effizienz mit kommunistischen Grundsätzen zu vereinen, wird gewaltsam gestoppt. Der Prager Frühling ist vorbei.
Der Vortag hat sich noch ganz normal angefühlt. Die Menschen in der Tschechoslowakei sind ihrer Arbeit nachgegangen, und nach Feierabend ihren Freizeit-Vergnügungen.
"Ich war allein in Prag, was mir recht war."
Erinnert sich Jindrich Mann, Regisseur und Filmemacher, Schriftsteller und Enkel von Heinrich Mann. Damals 20 Jahre alt und auf dem Sprung an die Filmakademie.
"An dem Abend war ich mit meiner damaligen Freundin im Kino. Haben uns so einen alten tschechischen Film angeschaut. Es war so, als würde man sich in Deutschland Heinz Rühmann oder so was angucken."
"Wir dachten, es ist das Ende des Bangens"
"Wir sind am 20. nachmittags aus der Schweiz gekommen und haben von allen möglichen Leuten gehört: Kommt nicht zurück. Die Russen kommen", erzählt Alena Volfova, damals noch 19 Jahre alt und Angestellte im staatlichen Außenhandel.
"Die Panzer standen zwar dicht an der Grenze. Aber wir haben gesagt, es ist nur eine Drohung."
Der österreichische Journalist Hugo Portisch hat sich ein paar Tage vorher noch mit Außenminister Jiří Hájek getroffen und ihn nach den sowjetischen Militärmanövern gefragt.
"Hájek aber zeigte sich gelassen und zuversichtlich, keine Sorge, auch er gehe jetzt auf Urlaub."
"Es war dieses Treffen in Cierna nad Tisou an der Grenze zwischen Sowjetunion und Tschechoslowakei."
Lida Rakusanova, Journalistin, vor 50 Jahren Studentin an der Prager Karls-Universität.
"Und da waren Dubček and Co. und von der anderen Seite Breschnew and Co. Und die Stimmung dort war doch so, dass der Breschnew zum Schluss sagte: Eto vase delo. Das ist Eure Sache. Und damit haben wir uns alle zufrieden gegeben und haben gemeint, es ist das Ende des Bangens. Wir brauchen jetzt nichts mehr zu fürchten."
"Niemand hat damit gerechnet. Also wenn es irgendwelche Geheimdienste gibt, dann haben sie wirklich schlecht gearbeitet ... in der Fröhlichkeit. Niemand hat es richtig gewusst. Ich auf keinen Fall. Meine Freunde auch nicht."
Heinrich Böll in Prag: "Die Russen sind da!"
20. August. In Prag berät seit dem Nachmittag das Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei über den weiteren Kurs. Ein heftiger Schlagabtausch zwischen Reformern und Hardlinern, denen die Liberalisierung zu weit geht. Die Reformpolitik von Generalsekretär Alexander Dubček steht auf der Kippe. Dubček steht für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz und ist das Gesicht des Prager Frühlings.
"Um 22 Uhr oder so sind wir dann aus dem Kino, und ich ging nach Hause. Und in der Nacht wurde ich durch das Dröhnen der Flugzeuge geweckt. Dieses Dröhnen war für einen unverständlich, was das sei. Es war wirklich ein unablässiges Flugzeuggeräusch, was sich über die Stadt niederlegte."
"Ich bin am Dienstagabend gekommen, acht oder neun Uhr, also in der Nacht vor dem Einmarsch." Der Schriftsteller Heinrich Böll ist auf Einladung des Schriftstellerverbands der CSSR in Prag, zusammen mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René.
"In der Nacht haben wir schon die Flugzeuge gehört. Eine ungewöhnliche Anzahl von offenbar schweren Maschinen, die tief über die Stadt flogen."
Ab 22 Uhr haben auf dem Prager Flughafen sowjetische Spezialkräfte die Kontrolle übernommen – mit Hilfe tschechischer Kollaborateure, wie sich hinterher herausstellt. Dann folgt ein Militärtransporter nach dem anderen mit Soldaten, Ausrüstung, Waffen.
"Nach Mitternacht klingelte das Telefon bei uns. Papa ging ans Telefon: Wie bitte, was bitte, wer bitte? Und dann haben wir das Donnern gehört. Papa hat das Telefon aufgelegt und gesagt: Die Russen sind da."
Kurz vor Mitternacht hat das immer noch tagende Präsidium des Zentralkomitees davon erfahren. Ein Teilnehmer berichtet hinterher anonym über die eigentlich geheime Sitzung. "Um 23.40 Uhr kam Genosse Cernik zum letzten Mal vom Telefon und erklärte dem Präsidium: Die Truppen der fünf Staaten haben die Grenzen unserer Republik überschritten und besetzen unser Land. Das Präsidium war erschüttert, zumindest einige Mitglieder."
Alexander Dubček, der Parteichef, spricht von einer Tragödie, die er nicht erwartet habe.
"Ich erinnere mich, dass Genosse Dubček erklärte: 'Das tun sie mir an. Mir, der sein ganzes Leben der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gewidmet hat!' Ich sah Tränen in seinen Augen."
Sowjetischer Kampf gegen die Konterrevolution im Land
Das Präsidium des Zentralkomitees verabschiedet gegen ein Uhr nachts einen Aufruf an die Bevölkerung, in der die Okkupation verurteilt wird. Gegen den Text stimmen vier Mitglieder des Gremiums. Sie haben, wie sich später herausstellt, in einem Brief die sowjetische Führung zur Intervention aufgefordert. Es gelte die Konterrevolution in ihrem Land zu bekämpfen.
Ab halb zwei wird im tschechoslowakischen Rundfunk mehrmals der Aufruf verlesen. Darin werden die Bürger über die Invasion informiert. Sie sollen Ruhe bewahren und keinen Widerstand leisten. Die Verteidigung der Staatsgrenzen sei unmöglich.
"Das Präsidium des ZK der KPC betrachtet diesen Akt nicht nur als im Widerspruch zu den grundsätzlichen Prinzipien der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten stehend, sondern auch als Verletzung der Grundnormen des Völkerrechts."
Im Verlauf der Nacht werden Alexander Dubček, Ministerpräsident Cernik, und weitere drei Mitglieder der Parteiführung verhaftet und in die Sowjetunion geflogen. Bis zum frühen Morgen sind Regierungs- und Parteigebäude und andere wichtige Schaltstellen der Macht besetzt.
"Ich war in meiner Geburtsstadt Budweis und meine Mutter weckte mich um fünf Uhr in der Früh, hat geweint, und hat nur immer gestottert: Wir werden schon wieder besetzt."
"Das war eine Invasion, wie man sie wahrscheinlich auf den Militärakademien lehrt und lernt. Und die wurde prima durchgeführt. Also insofern haben sie das alles so gemacht, wie man sich das vorstellt, wie man ein anderes Land besetzt, besonders, wenn sich das Land nicht wehrt."
Verteidigungsminister Dzur hat angeordnet, dass die Soldaten der CSSR in den Kasernen bleiben. Aber nicht überall ergeben sich die Menschen kampflos den Okkupanten. In Liberec, ehemals Reichenberg, kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen. Und auch in Budweis läuft die Besetzung nicht reibungslos, wie sich Lida Rakusanova erinnert.
"Das Bodenpersonal des Budweiser Flughafens, ein Militärflughafen, hat die Landeflächen verstellt mit allen möglichen Sachen. Und so konnten die nicht landen."
Budweis wird erst mit Verspätung von Panzerverbänden auf dem Landweg erreicht.
"Weil man dann schon überall die Wegweiser verstellt hatte, haben sie rumgeirrt und sind tatsächlich erst nach fast 48 Stunden nach Budweis gekommen."
Demonstranten versuchen mit den Soldaten zu reden
"Der ganze Wenzelsplatz war ja voller Panzer, die auch immer gezielt die Abgase in die Leute reingeblasen haben." René Böll, der Sohn des Schriftstellers Heinrich Böll.
Als die Familie morgens gegen sieben von der Besetzung erfährt, macht er sich mit seiner kleinen Minox-Kamera gleich auf den Weg zum Wenzelsplatz. Er will sehen, was vor sich geht. 50 Jahre später erinnert er sich am Ort des Geschehens: "Es waren doch große Mengen, die hier unterwegs waren, die demonstrierten, versuchten mit den Russen zu diskutieren, sie aufzuhalten. Die Soldaten fühlten sich sehr unwohl, das konnte man schon sehen. Sie dachten, sie würden empfangen wie '45, mit Blumen und Küssen."
"Am nächsten Tag standen die Panzer überall. Da saßen ein paar junge Burschen, 16, 17. Unausgeschlafen, ungewaschen, total müde, mit Kalaschnikow, haben geguckt, aus welcher Ecke irgendein Faschist oder was rauskommen sollte."
"Das waren junge Burschen, kahlgeschorene Jugendliche." Erinnert sich Jindrich Mann. Auch er hat sich auf den Weg gemacht, von der Kleinseite über die Karlsbrücke Richtung Zentrum und dann weiter nach Vinohrady.
"Sie wussten nicht, wo sie sind. Manche haben gemeint, sie sind in Westdeutschland, in der Bundesrepublik. Der eine meinte, mit dem habe ich gesprochen, er ist vielleicht in Paris, weil hier dieser Turm, er meint, das ist Eiffelturm. Die anderen wussten schon irgendwie: Prag Konterrevolution. Die meinten, die Deutschen sind einmarschiert. Es herrschte, würde ich mal meinen, unter den sowjetischen Soldaten eine totale Konfusion, was eigentlich los ist."
Gegen halb acht rücken vom Wenzelsplatz einige Panzer vor in Richtung Rundfunkgebäude, das etwa 100 Meter weiter oben liegt. Der Rundfunk soll besetzt werden. Mehrere hundert Menschen versuchen das zu verhindern, errichten Barrikaden und stellen sich in den Weg.
"Vom Wenzelsplatz kommen Armee und Panzer. Die Leute versuchen, sie zu stoppen, andere rennen. Gegenüber wurde geschossen. Es ist 7:27 Uhr. Sie kommen immer näher, es wird mit Leuchtmunition und scharfen Geschossen gefeuert."
"Es wurde geschossen. Und ein Panzer ist explodiert, auf der Ecke. Zwei brannten, sind von den Leuten in Brand gesteckt worden. Ich meine, die hätten Benzinfässer hinten drauf gehabt. Auf die Fässer hat man dann auch ein Hakenkreuz gemalt."
Plädoyer gegen gewaltsamen Widerstand
"Freunde, solange ihr mich noch hört, macht nichts, was zu unnötigem Blutvergießen führt. Wartet, bis sich die legale Regierung meldet. Es hilft nichts, wenn wir Barrikaden bauen. Das macht keinen Sinn. Es führt nur zu Opfern. Freunde, bleibt ruhig, geht auseinander, es hat hier keinen Sinn. Danke."
Bei den Kämpfen vor dem Radiogebäude kommen an diesem Morgen 15 Zivilisten ums Leben. Das Gebäude wird besetzt, aber der Rundfunk verstummt nicht. Die Mitarbeiter des Radios senden zunächst aus einem Geheimstudio, später aus improvisierten Studios in wechselnden Privatwohnungen.
"Das war der springende Punkt der nächsten sieben Tage, dass das nicht glückte, und dass das Land mehr oder weniger von Rundfunk und Fernsehen regiert wurde."
"Wenn Ihr auf dieser Welle andere Stimmen hört als die Euch vertrauten, dann heißt das, dass wir nicht mehr senden. Hört nicht auf die Informationen anderer Stimmen."
Zwei Mal an diesem Tag wendet sich Ludvík Svoboda, der Staatspräsident, über den Rundfunk an die Bevölkerung der CSSR. Er ruft die Menschen dazu auf, Ruhe zu bewahren. Seine Haltung zur Okkupation bleibt unklar.
"Ich bin mir der Probleme der derzeitigen Situation bewusst, aber ich wende mich noch einmal an Euch mit der Bitte, allem aus dem Weg zu gehen, nicht zu politisieren mit nicht änderbaren Folgen. Vor allem Euch Jugendliche bitte ich darum."
Ein Land im Ausnahmezustand
Ausnahmslos alle Institutionen und Organe des Landes verurteilen in diesen August-Tagen die Okkupation. Sie stellen sich hinter die legale Regierung und verlangen, dass Dubček und die anderen vier verschleppten Politiker freigelassen werden: Die Nationalversammlung, der Parteitag der KPC, die Hochschulen, der Schriftstellerverband, die Gewerkschaften und so weiter. Eine ganze Gesellschaft ist mobilisiert.
"Die Menschen waren verblüfft, dass so etwas möglich war. Überall waren plötzlich die Flugblätter: Lenin, wach auf, der Breschnew ist wahnsinnig geworden! Oder: Geh nach Hause Iwan, die Natascha hat einen anderen. Die Russen haben nur geguckt, so was haben die nicht erwartet."
"Das Hauptgefühl, das man hatte, war: Das erkenne ich nicht an, was hier stattgefunden hat. Das erkenne ich nicht an. Das kann nicht sein, dass das, womit wir bis jetzt gelebt haben, zu Ende ist." Lida Rakusanova, die Studentin, ist inzwischen von Budweis zu ihrem Freund nach Prag gefahren.
"Die ersten Tage, wo die Führung weg war, waren tatsächlich aufregend, weil wir uns getroffen haben in verschiedenen Wohnungen. Freunde, die sich engagiert haben im Rundfunk, Rundfunkjournalisten und so weiter, die schliefen nicht zu Hause, die schliefen bei Bekannten."
Ein Generalstreik wird ausgerufen. Die Besatzer verhängen eine nächtliche Ausgangssperre. Ein Land im Ausnahmezustand.
"Die Stadt, die war ganz lahm. Keine Straßenbahn, keine Busse, nix", erinnert sich Alena Volfova. "Natürlich gab es sofort die Probleme mit den Lebensmitteln. Weil jede ältere Oma wusste Bescheid, dass Mehl, Zucker, Butter und so weiter fehlen würde. Es bildeten sich Schlangen."
Dass sich die Versorgungslage verschlechtert, merkt auch die Familie Böll in ihrem Hotel: "Zum Schluss gab es nicht mehr so viel, aber vorher war es ganz normal. Es wurde normal bedient. Alkohol gab es, glaube ich, tageweise nicht."
"Und jetzt spricht der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll zu uns. Er ist gerade hier zu Besuch." Heinrich Böll ist in diesen Tagen ein gesuchter Gesprächspartner, für seine Gastgeber in Prag, für den tschechoslowakischen Rundfunk, aber auch für Radiostationen in Westdeutschland.
Angst vor einer Verhaftungswelle
"Es wurde gestern Abend gewarnt über den Rundfunk, der ja immer noch arbeitet. Und den Sender haben die Besatzungstruppen noch nicht entdeckt. Der hat alle Schriftsteller gewarnt, nicht in ihren Wohnungen zu übernachten, weil man eine Verhaftungswelle befürchtet. Die ist aber nicht gekommen."
In der sowjetischen Botschaft in Prag berät der moskautreue Flügel der KPC. Hier wird eine Liste für eine "provisorische revolutionäre Regierung" aufgestellt. Mit der geht eine Delegation am nächsten Morgen, am Donnerstag, 22. August auf die Prager Burg. Aber Präsident Svoboda weigert sich, diese neue Regierung zu ernennen.
"Die Invasion hat geklappt, aber im Prinzip hat sie nichts in dem ersten Moment bewirkt, weil die Machtübernahme nicht stattgefunden hat."
23. August, Tag drei der Okkupation. Ludvík Svoboda informiert morgens über das Radio die Bevölkerung, dass er noch an diesem Tag nach Moskau reisen wird, um mit der sowjetischen Führung zu erhandeln. Die in einem Gefängnis in der Ukraine inhaftierten fünf tschechoslowakischen Politiker werden nach Moskau gebracht. Ab jetzt soll alles nach Verhandlungen aussehen.
"Nun, wir haben nur uns gesagt, dass die hoffentlich nicht weich werden in Moskau."
"Das war der Punkt der Niederlage, das habe ich sehr schnell begriffen."
In Moskau wird der politische Rebell gebrochen
Drei Tage dauern die sogenannten Verhandlungen in Moskau. Am 26. August unterzeichnet die Delegation der Tschechoslowakei ein Geheimpapier. Das Moskauer Protokoll legt fest: Die Zensur wird wieder eingeführt, die Reformen werden kassiert. Und in der CSSR werden auf Dauer sowjetische Truppen stationiert.
"Es wurde dort 'als ob' verhandelt, aber im Prinzip haben die Leute dort kläglich kapituliert. Bis auf den heldenhaften Herrn Kriegel, das war der einzige, der nicht unterschrieben hat. Sonst haben sie alle aus Angst um ihr eigenes Ergehen – was einerseits legitim ist, andererseits nicht immer – haben sie dort eine Kapitulation unterschrieben, die mich sehr hart traf, und ich glaube, viele sehr hart traf. Weil man das Gefühl hatte, die ist nicht notwendig gewesen."
"Als die dann gekommen sind und aus dem Flugzeug stiegen, bereits im Flughafen sagte Dubček diesen berühmten Satz, dass sie das unterschrieben haben, dass sie so ein Abkommen erzielt haben mit ... Erzielt!"
Alexander Dubček erläutert im Radio die Moskauer Verhandlungen. Er bleibt im Allgemeinen. Das Wort Normalisierung fällt. Er redet nicht so, wie man es von ihm gewohnt ist. Er macht lange Pausen, ab und zu bricht ihm die Stimme.
"Als die Fünf zurückkamen, war erst mal nichts klar. Der Dubček hielt eine Rundfunkansprache, die jämmerlich war, weil er jedes fünfte Wort nicht weiterreden konnte, weil er schluchzen musste. Es war eine Ansprache eines niedergeworfenen Besiegten."
"Der Mann, der immer so stramm stand, der hat geweint, Ringe unter den Augen. Man konnte es wirklich sehen, wie der Mann alt geworden ist. Das war nicht er. Das war plötzlich eine Maske."
"Der sprach wie ein gebrochener Mensch. Deshalb war klar, dass er alles unterschrieben hat, was die gewollt haben. Unsicherheit war in dem Sinne, dass wir noch hoffen konnten, dass diese Veränderung nicht ganz schlimm sein wird."
"Und indem der Dubček das aufgab, war das so, als wäre jetzt eine Festung gefallen. Da war es klar, die haben gesiegt. Und das, was sie wollten, haben sie erreicht."
Im September 1968 bekennt sich Alexander Dubček zusammen mit Weggefährten und dem Staatspräsidenten dazu, die Reformpolitik fortzusetzen. Aber einer nach dem anderen wird abgesetzt. Dubček verliert im April 1969 seinen Posten an Gustáv Husák, einen Mann ganz nach dem Geschmack der Führung in Moskau.
Die abstruse Verkehrung des Wortes "Normalisierung"
"Nachdem ich in den 60er Jahren groß geworden bin, erwachsen sozusagen, konnte ich mir gar nicht vorstellen, was dann gekommen ist, nämlich dieser widerliche Neostalinismus, der sich da verbreitet hat wie die Pest, und das bis heute die Leute kennzeichnet, die das damals erlebt haben."
"Plötzlich kamen die Menschen raus, die all die Jahre im Hintergrund gestanden sind und immer 'Ja, ja, natürlich' gesagt haben… und plötzlich mit Hörnern raus. Wie immer. Du konntest wirklich sehen, wer wer ist."
"Das, was die Normalisierung in der abstrusen Verkehrung des Wortes mit sich brachte, das war keinem bekannt. Aber andererseits kannte man die Mechanismen des Kommunismus und überhaupt der Diktatur: geschwungene Reden, funktionierende Geheimpolizei und Terror, mäßig oder nicht mäßig."
Es ist ein schleichender Prozess der Repression, der nun einsetzt, von Dubček selbst veranlasst. Die gesamte intellektuelle Elite, sofern sie seine Reformpolitik unterstützt und umgesetzt hat, gerät ins gesellschaftliche Abseits. Wer gestern noch Professor war, ist heute Heizer. Journalisten werden Fensterputzer, Parteifunktionäre werden subalterne Bahn-Angestellte.
"Alle Menschen, die etwas konnten, oder die wirklich fair waren, die mussten gehen, die wurden gefeuert, die sind geflüchtet, die sind verschwunden."
Die neuen Machthaber verlangen Unterwerfung und Anpassung. "Selbst meine Mama, die in einer Ziegelei an der Pforte gearbeitet hat, Pförtnerin, selbst die wurde Anfang der 70er Jahre vor eine Kommission vorgeladen", erinnert sich Lida Rakusanova.
"Und ihr wurde die Frage gestellt, wie sie sich zu dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten stellt. Und sie antwortete auf die übliche Art und Weise, dass sie sich überhaupt nicht um die Politik kümmert, und man solle sie damit in Ruhe lassen, und die hätten wahrscheinlich schon einen Grund gehabt, warum sie gekommen sind."
Der hohe Preis des Exils
Wer sich nicht anpassen will, dem bleibt nur der Weg ins Exil. Zu Zehntausenden gehen Tschechen und Slowaken in den nächsten Monaten in die Emigration. Aber das hat Konsequenzen, nicht nur für den, der sein Land verlässt. Alena Volfova entscheidet sich deshalb zu bleiben.
"Wenn du das Land verlassen solltest, würdest du nicht nur dein Hab und Gut hier für immer ... Alle deine Verwandten wurden dadurch betroffen. Du musst wahrnehmen, dass deine Verwandten nie mehr studieren dürfen. Dass dein Opa oder dein Onkel die Stelle verliert. Dass er nie irgendwie ins Ausland kommen konnte. Also, du hast wirklich die ganze Familie schwer belastet, dadurch, dass du geflüchtet bist."
"Man hatte das Gefühl, jetzt ist es vorbei. Aber meine Mutter speziell, die ja ihre Emigrationserfahrung schon hatte." Leonie Mann, die Mutter von Jindrich Mann, war als Jugendliche 1933 von München nach Prag geflüchtet.
"Wir sind am 31. in den Zug gestiegen und emigrierten, die ganze Familie. Der Zug war voll von Leuten, die das gemacht haben. In dem Zug war, glaube ich, kein einziger Mensch, der nicht in die Emigration fuhr."
Lida Rakusanova verlässt im Herbst die Tschechoslowakei.
"Ich würde eher dazu tendiert haben zu bleiben, weil ich mir irgendwie gedacht habe: In solchen schweren Momenten verlässt man das Land nicht. Aber mein Freund war hundertprozentig überzeugt, dass er weg muss. Und mir war klar, dass ich ihn sehr, sehr liebe und bin mit ihm gegangen."
Offiziell geht sie als Studentin für ein Jahr nach Paris. Aber eine Rückkehr ist dann nicht mehr möglich. In Deutschland bekommen sie und ihr Freund politisches Asyl. Aus 12 Monaten werden über 20 Jahre. Das Ende des Prager Frühling verändert das Leben aller: Der Täter, der Opfer, der Mitläufer, der Dissidenten, der Exilanten: "Es ist eine tragische Geschichte, die wirklich in die Lebensläufe meiner Generation und die Leute, die zehn Jahre älter oder auch die, die ein bisschen jünger sind, total umgeworfen hat. Es gibt keinen im Lande, dem das das Leben nicht total verändert hat."
Und die Folgen dieser "Normalisierung" werfen ihre Schatten bis in die Gegenwart.
"Man hat das Ethos verloren. Man hat zwei Mal das Ethos verloren, 1938 und 1968. Das Ethos heißt, dass man das Gefühl hat, man hat ein Gemeinschaftswesen, das man zusammen aufbaut, was irgendwie gut ist, witzig, auch funktionierend. Das wird zerschlagen, und daraus ergibt sich vielleicht so ein Gefühl, das bringt nichts."
Alexander Dubček wird nach seinem Sturz für ein paar Monate als Botschafter in die Türkei geschickt. Später arbeitet er, abgeschirmt von der Staatssicherheit, in einem Forstbetrieb in Bratislava. Aus der Politik hält er sich heraus.
November 1989. Samtene Revolution in der Tschechoslowakei. Auf dem Balkon des ehemaligen Verlagshauses Melantrich steht Vaclav Havel – und neben ihm Alexander Dubček. "Meiner Meinung nach war der Dubček dort nur, um zu beweisen, dass die neue Ära tatsächlich beginnt. Und Havel war ein Dramaturg, ein Dramatiker, und der hat wirklich diese ganzen Ereignisse auch inszeniert. Und der wusste ganz genau, welche Effekte richtig sind."
"Die Zeit der Reformkommunisten war vorbei. Der Kommunismus war vorbei. Insofern war die Zeit für ihn vorbeigegangen. Aber Symbol dieser kurzen Freiheit war er schon. Und mich hat das schon gerührt, als ich ihn da auf der Tribüne sah, sehr sogar. Das war ein Siegesgefühl, dass er auftauchte, da ist. Ein Held war er nicht."