Das Problem des deutschen Volkes mit seinem historischen Gedächtnis (...) betrifft uns Europäer alle ganz direkt. Das deutsche Volk ist nämlich seit seiner Wiedervereinigung (...) das einzige Volk Europas, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muss: dem Nazismus und dem Stalinismus. In seinem Kopf und Körper hat es diese Erfahrungen erlebt und kann sie nur überwinden - und ohne dass daraus ein Präzedenzfall wird, könnte man in diesem Zusammenhang einmal den Hegelschen Begriff der Aufhebung verwenden -, kann sie also nur überwin- den, indem es beide Erfahrungen kritisch übernimmt und aufhebt, um so die demokratische Zukunft Deutschlands zu bereichern. Von dieser hängt ja (...) die Zukunft eines demokratisch wachsenden Europas zu einem großen Teil ab.
Jorge Semprún, Sohn eines republikanischen Ministers wurde 1923 in Madrid geboren, wuchs jedoch vor allem in Paris auf und besuchte Eliteschulen. Nach dem endgültigen Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg Anfang 1939 befand er sich mit seinen Eltern im Exil und schloß sich unter dem Tarnnamen Georges Sorel der Résistance an. Von der Gestapo gefaßt, wurde er ins KZ Buchenwald verschleppt und überlebte als "Rotspanier" durch den Schutz der illegalen Lagerleitung in der "Arbeitsstatistik":
In der Zentralkartei waren wir zu sechst für die bürokratische Ordnung der Toten und Lebenden, der Zugänge und Abgänge zuständig. Man musste in jeder Minute genau wissen, wo einer arbeitete, warum er krank war, zu welchem Außenkommando er möglicherweise eingeteilt worden war. Die Ordnung ist einfach. Und jeder von uns sechs hatte eine bestimmte Anzahl von Zehntausenden Karteikarten unter seiner Kontrolle. Und jedes der Blätter, sowohl das der Todesfälle wie das der Arbeitseinsätze, das der Fluchtversuche wie das der Krankheitsfälle, alle von den zuständigen Verwaltungsabtei- lungen säuberlich mit der Maschine getippten Blätter ging durch unsere Hände, und jeder von uns bearbeitete den Zahlenabschnitt, für den er verantwortlich war, und gab das Blatt an den nächsten weiter, nachdem er die Erkennungsnummer, um die er sich zu kümmern hatte, mit dem Bleistift abgehakt hatte.
Das Eröffnungsbild des Romans "Die große Reise", der 1963 geschrieben wurde: der Erzähler steht vor dem abschüssigen Gelände des Lagers und sieht weit in die thüringische Landschaft. Es entsteht die Phantasie, dass die Natur sich all der Trümmer des Lagersbemächtigen, sie lautlos vernichten werde: die Hoffnung auf Vergessen erschließt die Erinnerung. Das Buch markiert den Beginn einer groß angelegten Gedanken- und Erinnerungsarbeit, die um Signalwörter mit großen Bedeutungshöfen kreist: Exil, das Lager, Hitler, Stalin, der Terror, der Tod, das Vergessen. Allmählich ist der leere Gedächtnisort, den die Geschichte des abgelaufenen Jahrhunderts für Jorge Semprún bildet, mit lebenden Zeugen dicht besetzt-. mit seinen Büchern. Die Rückgewinnung des Lebens oder nur die Verzögerung des Endes heißt: sich erinnern zu müssen. All diese mit verschwenderischer Intellektualität unter der schwärzesten Sonne streunenden Bücher sind in diesen poetischen Dienst gestellt: das Gedächtnis aus der persönlichen Amnesie, aus der Verschollenheit der früheren Tage und aus den politisch verordneten Verdrängungen zu retten.
Die Reihe dieser Bücher begann mit einem Akt der politischen Entdisziplinierung. Als Semprun, in der Franco-Zeit von Paris aus mit Untergrundarbeit in Spanien befasst, anfing, die Logik der kommunistischen Partei zu bezweifeln, löste sich seine Geschichte, wie sie in dem Roman "Die große Reise" von 1963 erzählt ist. [Ineinander verlaufen die Fahrten eines zwanzigjährigen Jungen nach Buchenwald und zurück, die Reise ins Lager und die Fahrt in die physische Freiheit, die als eine innere nur schwer wiederzugewinnen war.] Das Buch markierte nicht nur Semprúns literarischen Beginn, sondern auch den Anfang vom Ende einer persönlichen politischen Entwicklung. Er war nach der Befreiung der Buchenwald-Häftlinge nach Paris gezogen und hatte sich der spanischen Exil-KP angeschlossen. Er wurde politischer Funktionär und stieg auf. [Über den Verbalradikalismus der führenden Genossen, ihre Illusionen und ihre betonierten Hoffnungen hat er später das von Alain Resnais verfilmte Drehbuch "Der Krieg ist aus" geschrieben.] Francos Polizei wäre dem Mann mit dem Decknamen Federico Sánchez gerne auf die Schliche gekommen, konnte ihn jedoch nicht fassen. 1963 wurde das Spiel mit wechselnden Identitäten jäh beendet. Der spanische KP-Chef Santiago Carillo und Dolores Ibarruri, die legendäre "Passionaria", enthoben ihn aller Ämter, zwei Jahre später flog er wegen "eurokommunistischen Abweichlertums" aus der Partei, der "heiligen Familie". Die Zweifel und die Selbstreflexion des Kommunisten Semprún haben den Schriftsteller in ihm befreit. In seiner "Autobiographie des Federico Sánchez" hat Semprún nicht nur das dogmatische Verhalten und die starre Haltung der KP kritisiert, sondern auch eine Abrechnung mit sich selbst betrieben:
Ich mauere mein Gedächtnis nicht zu. Ich war ein stalinistischer Intellektuel- ler.
Der Roman "Die Ohnmacht", erstmals 1967 auf Französisch veröffentlicht, hat im Deutschen aus unerfindlichen Gründen bisher gefehlt. Er ist ein Nachläufer und schließt an "Die Große Reise" an. Manuel Mora ist drei Monate nach seiner Befreiung aus einem Pariser Vorortzug gefallen. In einer Apotheke, wohin der Ohnmächtige geschafft worden ist, erwacht er zu einem Kalenderdatum, dem 6. August 1945, dem Tag, an dem auf Hiroshima die Atombombe fiel. In seinen halluzinatorischen Zustand gehören die hunderttausende Opfer dort stillschweigend mit dazu:
Undeutlich, in der von den heftigen Blitzen des Schmerzes, der in seinem Gehirn, in seinem ganzen Körper aufbricht, durchzuckten Schlaflosigkeit, undeutlich gibt es Schnee. Er versucht, diese Erinnerung an Schnee einzukreisen, dieses flockige Gedächtnis, in dem er schwebt, erstarrt in dem Schmerz, der sich hinzieht, und es ist erst zehn Uhr abends, er hat soeben auf seine Uhr geschaut im Schein der Nachttischlampe, die auf einem Stuhl steht, und ihr Schirm ist aus rosafarbenem, gefälteltem, verblichenem Stoff, aber man hat ein Tuch darüber gelegt oder ein Stück Stoff, das lediglich einen schmalen, an der Spitze gekappten Lichtkegel durchläßt, links von seinem Bett, zu dem er das Handgelenk hat ausstrecken müssen. Der Schnee kann sich nur in seinem Gedächtnis befinden, auch wenn er manchmal den Eindruck hat, als sähe er ihn dunstig im Zimmer schweben, auch wenn er zuweilen in die knirschende Weichheit verschneiter Wälder einzusinken meint. In Wirklichkeit würde er, wenn er sich anstrengte, genau wissen, dass das weit geöffnete Fenster auf den Monat August geht.
Er versucht, aus dem gestaltlosen Nebel wieder aufzutauchen und, an den beiden obsessiven Wörtern "Schnee" und "Flieder" entlang, ins erinnernde Bewußtsein zurückzufinden. Der Roman kreist, im Perspektivenwechsel von dritter und erster Person erzählt, in die Vergangenheit zurücktauchend und im Vorgriff auf einige zukünftige Jahre, die Lebensgeschichte in Momentbildern ein. Manuel wird in seine Wohnung gefahren, die ebenso wenig die seine ist wie eine andere: er ist ein politischer Flüchtling aus Spanien und wird sich dort im Untergrund betätigen. Er muss sich einer Operation unterziehen, denn sein Ohr ist bei dem Sturz halb abgerissen, so dass er am kommenden Tag noch einmal aus einer Betäubung erwachen wird. Das Weiß des Schnees erinnert an Wintertage in Buchenwald, bezieht sich auf die Landschaft am Lago Maggiore, wohin Manuel ein halbes Jahr später zur Erholung fahren wird, ruft Körper und Gesten einiger Geliebten in nächtlichen Betten auf, bezieht sich auf politische Erstarrung und den Zustand der Bewusstlosigkeit gleichermaßen. Die Wellen des Schmerzes, die ihn nach seinem Sturz heimsuchen, erinnern ihn an die Schläge, die der Maquisard erhielt, als ihn die Gestapo schnappte.
["Vorhin, vor dem Spiegel, hätte er, wenn er sein Haar ein wenig zurückgestrichen hätte, auf der linken Seite des Schädels die Spur eines dieser Schläge auf den Kopf sehen können, eine weiße Narbe, ziemlich breit, die fühlbar seine Schädeldecke furchte. Der Griff der Selbstladepistole war auf ihn niedergesaust, und sofort waren seine Augen voller Blut gewesen, er war von all dem Blut auf seinem Gesicht blind gewesen. ] - Ich erinnere mich an den Blutgeschmack, denkt er, ich erinnere mich wirklich an den Blutgeschmack, es war keine Halluzination.
Zuerst hatte ich einen Schlag in den Nacken erhalten, vielleicht mit einem Knüppel, von dem zweiten Typ, dem, der klein und fett war, dem, der eine Brille mit Goldrand trug. Als ich die Küche betreten hatte, hatte er sich trotz seiner Beleibtheit sehr rasch hinter mich gestellt, um mir den Weg zur Tür zu ver- sperren. Ich hatte noch Zeit gehabt, diese Bewegung wahrzunehmen sowie die Geste dieses Mannes, dessen rechte Hand in seiner Jackentasche steckte, noch bevor ich begriff, dass Fremde in der Küche waren, eine Frau und zwei Männer. Später hatte ich gedacht, dass er mir diesen ersten Schlag mit einem Knüppel versetzt hatte, als ich sah, dass sie englische Schlagstöcke hatten, die ihnen sicherlich bei einem Fallschirmabwurf in die Hände gefallen waren, aus glänzendem, biegsamen Stahl mit einer kleinen quadratischen Masse aus Stahl am Ende, Schlagstöcke, die sich auseinanderziehen ließen wie ein Fernrohr, so dass sie, zusammengeschoben, sowenig Platz wie möglich ein- nahmen, und man sie bequem in einer Manteltasche unterbringen konnte. [Kurz bevor ich jenen Schlag auf den Nacken erhielt und in die Knie ging vor dem anderen Mann, der mich mit brutalem und zugleich entsetztem Blick ansah, hatte ich die hysterischen Schreie gehört, die die Frau ausstieß, die die beiden Typen von der Gestapo begleitete.
Die Dolmetscherin der Gestapo memoriert die Gestalt des Kinderfräuleins, das den Jungen mit deutscher Kultur erstmals in Berührung brachte So holt sich das durch "diese Lepra des Vergessens" mehrfach geschlagene Bewusstsein die Einzelheiten aus verschiedenen Zeitzonen zurück. Es sammelt blitzlichtartig erhellte Augenblicke, die von schwarzer, leerer Zeit umfasst sind - unwillkürlich, nicht der Regel der Chronologie folgend, denn:
Der Reihe nach sind die Dinge unsagbar.
So existiert dieser Roman wie ein Orchester aus Namen, Stimmen, Bildern, die zueinander finden und die einander brechen, einer Bewegung der Willkür folgend, die mehr ausdrückt als das lrreguläre des Gedächtnisses, die vielmehr eine dunkle Schicksalslinie ausmacht. Ein anderer als Semprún würde sie vielleicht als deus abscondidus bezeichnen, zur Instanz personalisieren. Man kann schon bei diesem Buch vermuten, dass das Gedächtnis bei Semprún jene Größe ist, die nach dem Zerfall fast aller Werte, nach dem Zerbrechen jeden metaphysischen Horizonts, nach dem Verlust jeden Glaubens übrigbleibt: eine moralische Instanz, die eine fragile Substanz des Humanen auf der Bühne der Schrecken sichert. Die magnetische Kraft, die von dieser Instanz Erinnerung ausgeht, ruft verschollene Namen wach und ruft Szenen der Brüderlichkeit auf, z. B. die nahe Verbindung zu seinem Lehrer, dem Soziologen Maurice Halbwachs, den Semprún in Suchenwald wiedergefunden hat,
Sonntags ging er ins Kleine Lager hinunter. Nach dem Mittagsappell. Dort fanden immer politische Versammlungen statt. Manchmal auch in den Kellern des Dusch- und Desinfektionsgebäudes, ein knapper Bericht an die militärischen Verantwortlichen. Aber in dem dichten Leben der Sonntage fand er Zeit, ins Kleine Lager hinunterzugehen. Auch Hamelin. Hamelin begleitete ihn, oder sie trafen sich an Ort und Stelle. Der Block 56 war die Baracke der lnvaliden-. der Greise, der Krüppel, der fast schon Toten, für die der Tod das einzig vorhersehbare Ereignis ihres Lebens war. Sie stießen die Tür auf, sie drangen ein in den Gestank, Hamlin und er. Die Amputierten, die Greise, die an Durchfall leidenden, die eiternden Verletzten, am Teich mit den fünf Säulenhallen. Sie bahnten sich einen Weg, Hamelin und er. Seite an Seite auf derselben Pritsche, sie kommen sehend, mit schon verschleiertem Blick, lagen dort Halbwachs, Maspéro. Dann stützten sie sich mit dem Ellbogen auf die Pritsche, sie sprachen mit Halbwachs, mit Maspéro. Mehr konnten wir nicht tun, mit ihnen sprechen.
Die sich wiederfindende Erinnerung ist in diesem Roman "Die Ohnmacht" noch nicht das eminent politische Motiv, das die nachfolgenden Aufzeichnungen "Was für ein schöner Sonntag" durchzieht. Es fehlt in dem geradezu familiären Kleinformat dieses Romans noch die ständige Reibungsfläche des Stalinismus, die in den späteren Aufzeichnungen das Gedächtnis über den Eisernen Vorhang hinweg bestimmt. Aber diese Technik, aus lauter Bruchstücken des Erinnerns gleichsam ein unnachahmlich musikalisches Mosaik zu fügen, ist auch in "Die Ohnmacht" auf eine artistische Weise vorgeführt. Der Roman wirkt, im nachhinein gelesen, wie die glanzvolle Skizze seines später ausgeführten Verfahrens, die verlorene Zeit wiederzugewinnen.
Sein Leben zeigt sich mir (...) als eine lange Reihe aufeinanderfolgender Reglosigkeiten, getrennt durch große Leerräume, konfuses Nichts. Als eine Sammlung von Schnappschüssen, deren chronologische Ordnung durcheinandergebracht worden wäre und die, vor meinem Blick auftauchend, mir eine Anstrengung des Gedächtnisses oder der Phantasie abverlangte, um anhand ihrer wahrscheinlich verblassten Oberfläche, auf der sich Gesichter, Lachen, Gärten, Eukalyptusbäume, Hunde, Kinder, Äpfel - mit oder ohne Apfelbäume -, Meere, Frauen, Traurigkeiten sowohl verbergen wie enthüllen würden, um anhand all dieser erstarrten Zeichen die verdunkelte Bewegung zu rekonstruieren, die zu diesen vom Zufall herausgehobenen Momenten geführt hatten, die, keiner weiß warum, vielleicht zum Nachteil sehr viel wichtigerer Ereignisse, bewahrt wurden.
Reglosigkeiten, jedoch schwindelerregende, glatt an der Oberfläche, vielleicht sogar flach, oder trübe, jedoch von innen her durch einen schrecklichen reglosen Wirbel aufgewühlt, ein entfesseltes Gedächtnis, das in einer blendenden Momentaufnahme alle dunklen, jäh evident gewordenen, unstreitigen Zusammenhänge zwischen den zumindest dem Anschein nach heterogenen Ereignissen aufdeckt: ein Sommerregen und eine gewisse Heftigkeit der Gefühle; ein eisiges Licht auf einem Parkplatz an der Gare de Lyon und eine bestimmte zwanghafte Gestalt des Todes; die strahlende und zugleich trübe gelbe Farbe eines Glases Pastis und die plötzlich aus dem Nichts aufgetauchte Architektur eines Romans, den man schreiben möchte. Dinge dieser Art, geistige Begegnungen dieser Art, blitzartig.
In mehreren Drehbüchern, die neben Alain Resnais von Costa-Gavras verfilmt wurden, hat er leerlaufenden Dogmatikerkult, die Praxis des Terrors und die Schauprozesse dargestellt. Die Erlebnisse im KZ blieben noch ausgespart. In zwei Büchern widmete sich Jorge Semprún nach dem Roman "Die Ohnmacht' seinen Erfahrungen als Häftling 44 904 in der Hölle des Konzentrationslagers. Von den 72 Sonntagen im Lager, dem Aschengeruch der verbrannten Leichen, der Agonie in Schnee und Kälte auf dem Ettersberg nahe Weimar erzählte er in den Aufzeichnungen "Was für ein schöner Sonntag" von 1981. Goethe und Eckermann spazieren in diesem Buch durchs Höllenrevier, die stalinistischen Gulags werden mitbedacht. An diesem Buch hat Semprún weitergeschrieben: 1995 erschienen seine Aufzeichnungen "Schreiben oder Leben". Er folgte der selbstgestellten Passion:
Diesen Tod zum Ende zu erzählen, eine unendliche Aufgabe.
Als der Schriftsteller 1992 zum erstenmal wieder nach Buchenwald kam, vermeinte er in der dramatischen Leere des Appellplatzes "heimgekehrt' zu sein. Das KZ, in dem Semprún vorn Januar 1944 bis Ende April 1945 war, bezeichnete er als "mein sonderbares Vaterland".
In den beiden ausholenden Büchern hat sich Semprún immer dichter hineinversenkt ins Lager, in die Hölle, die Gedankenfluchten, die Parallelaktion des Gulag, die gestorbenen Kameraden, zu ihren Gräbern in den Lüften, in die Willkür des Oberlebens, hat aber auch Hegel und Goethe und eine erlesene Schar poetischer Geister an diesen Ort geträumt. Jorge Semprúns literarischen Bücher liegen nun, die meisten von ihnen in den vorzüglichen Übersetzungen Eva Moldenhauers, auf Deutsch vor. Aber eines bedürfte dringend einer Neuausgabe: Die "Autobiographie des Federico Sanchez", die Lossagung des führenden Kommunisten Semprún von der Partei, die Bilanz eines lrrwegs, die Abrechnung mit der heroischen Pose Carillos und der Passionaria, ist 1981 nur verstümmelt und in mangelhafter Übersetzung erschienen. Eine komplette und fehlerlose deutsche Ausgabe wäre fällig. Mit dem Roman "Die Ohnmacht" ist nun ein Schlußstein im lmperium der erzählten Augenblicke Jorge Semprúns gesetzt. Ein einzigartig instrumentiertes Werk liegt vor, das die Suche nach der verlorenen Zeit als einen Kampf gegen das Vergessen thematisiert, das sich aber auch als das große Zeremoniell eines erzählenden Orpheus lesen lässt.
Der Künstlerroman steht neben der Vergegenwärtigung des Terrorismus, Ramon Mercader, der nom de guerre des Trotzki-Mörders, neben dem zauberischen Ingenium eines Vermeer, der "akademische Kolportageroman" über den Pariser Mai neben dem politischen Krimi, der mit dem Namen des russischen Attentäters Netschajew spielt. Die Totenklage und die erotischen Episoden überlagern einander. Kaum ein anderer Erzähler hat sich so intensiv und mit vergleichbar ausholender Energie dem Doppelgedächtnis an die unterschiedlichen und doch vergleichbaren Lager gewidmet.] Eine gewisse Abschiedsfeierlichkeit könnte sich breitmachen. Aber ein Ende dieser Erinnerungsarbeit ist nicht abzusehen. Jedes Rätsel dieser gelebten Substanz, das gelöst, jeder Zufall, der entschlüsselt ist, verweisen auf neue Rätsel und undurchschaute Fügungen. Das Gedächtnis bewegt sich für Semprún in einem unendlichen Raum. Schon gibt es in Frankreich ein neues Buch von ihm zu lesen.
Jorge Semprún, Sohn eines republikanischen Ministers wurde 1923 in Madrid geboren, wuchs jedoch vor allem in Paris auf und besuchte Eliteschulen. Nach dem endgültigen Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg Anfang 1939 befand er sich mit seinen Eltern im Exil und schloß sich unter dem Tarnnamen Georges Sorel der Résistance an. Von der Gestapo gefaßt, wurde er ins KZ Buchenwald verschleppt und überlebte als "Rotspanier" durch den Schutz der illegalen Lagerleitung in der "Arbeitsstatistik":
In der Zentralkartei waren wir zu sechst für die bürokratische Ordnung der Toten und Lebenden, der Zugänge und Abgänge zuständig. Man musste in jeder Minute genau wissen, wo einer arbeitete, warum er krank war, zu welchem Außenkommando er möglicherweise eingeteilt worden war. Die Ordnung ist einfach. Und jeder von uns sechs hatte eine bestimmte Anzahl von Zehntausenden Karteikarten unter seiner Kontrolle. Und jedes der Blätter, sowohl das der Todesfälle wie das der Arbeitseinsätze, das der Fluchtversuche wie das der Krankheitsfälle, alle von den zuständigen Verwaltungsabtei- lungen säuberlich mit der Maschine getippten Blätter ging durch unsere Hände, und jeder von uns bearbeitete den Zahlenabschnitt, für den er verantwortlich war, und gab das Blatt an den nächsten weiter, nachdem er die Erkennungsnummer, um die er sich zu kümmern hatte, mit dem Bleistift abgehakt hatte.
Das Eröffnungsbild des Romans "Die große Reise", der 1963 geschrieben wurde: der Erzähler steht vor dem abschüssigen Gelände des Lagers und sieht weit in die thüringische Landschaft. Es entsteht die Phantasie, dass die Natur sich all der Trümmer des Lagersbemächtigen, sie lautlos vernichten werde: die Hoffnung auf Vergessen erschließt die Erinnerung. Das Buch markiert den Beginn einer groß angelegten Gedanken- und Erinnerungsarbeit, die um Signalwörter mit großen Bedeutungshöfen kreist: Exil, das Lager, Hitler, Stalin, der Terror, der Tod, das Vergessen. Allmählich ist der leere Gedächtnisort, den die Geschichte des abgelaufenen Jahrhunderts für Jorge Semprún bildet, mit lebenden Zeugen dicht besetzt-. mit seinen Büchern. Die Rückgewinnung des Lebens oder nur die Verzögerung des Endes heißt: sich erinnern zu müssen. All diese mit verschwenderischer Intellektualität unter der schwärzesten Sonne streunenden Bücher sind in diesen poetischen Dienst gestellt: das Gedächtnis aus der persönlichen Amnesie, aus der Verschollenheit der früheren Tage und aus den politisch verordneten Verdrängungen zu retten.
Die Reihe dieser Bücher begann mit einem Akt der politischen Entdisziplinierung. Als Semprun, in der Franco-Zeit von Paris aus mit Untergrundarbeit in Spanien befasst, anfing, die Logik der kommunistischen Partei zu bezweifeln, löste sich seine Geschichte, wie sie in dem Roman "Die große Reise" von 1963 erzählt ist. [Ineinander verlaufen die Fahrten eines zwanzigjährigen Jungen nach Buchenwald und zurück, die Reise ins Lager und die Fahrt in die physische Freiheit, die als eine innere nur schwer wiederzugewinnen war.] Das Buch markierte nicht nur Semprúns literarischen Beginn, sondern auch den Anfang vom Ende einer persönlichen politischen Entwicklung. Er war nach der Befreiung der Buchenwald-Häftlinge nach Paris gezogen und hatte sich der spanischen Exil-KP angeschlossen. Er wurde politischer Funktionär und stieg auf. [Über den Verbalradikalismus der führenden Genossen, ihre Illusionen und ihre betonierten Hoffnungen hat er später das von Alain Resnais verfilmte Drehbuch "Der Krieg ist aus" geschrieben.] Francos Polizei wäre dem Mann mit dem Decknamen Federico Sánchez gerne auf die Schliche gekommen, konnte ihn jedoch nicht fassen. 1963 wurde das Spiel mit wechselnden Identitäten jäh beendet. Der spanische KP-Chef Santiago Carillo und Dolores Ibarruri, die legendäre "Passionaria", enthoben ihn aller Ämter, zwei Jahre später flog er wegen "eurokommunistischen Abweichlertums" aus der Partei, der "heiligen Familie". Die Zweifel und die Selbstreflexion des Kommunisten Semprún haben den Schriftsteller in ihm befreit. In seiner "Autobiographie des Federico Sánchez" hat Semprún nicht nur das dogmatische Verhalten und die starre Haltung der KP kritisiert, sondern auch eine Abrechnung mit sich selbst betrieben:
Ich mauere mein Gedächtnis nicht zu. Ich war ein stalinistischer Intellektuel- ler.
Der Roman "Die Ohnmacht", erstmals 1967 auf Französisch veröffentlicht, hat im Deutschen aus unerfindlichen Gründen bisher gefehlt. Er ist ein Nachläufer und schließt an "Die Große Reise" an. Manuel Mora ist drei Monate nach seiner Befreiung aus einem Pariser Vorortzug gefallen. In einer Apotheke, wohin der Ohnmächtige geschafft worden ist, erwacht er zu einem Kalenderdatum, dem 6. August 1945, dem Tag, an dem auf Hiroshima die Atombombe fiel. In seinen halluzinatorischen Zustand gehören die hunderttausende Opfer dort stillschweigend mit dazu:
Undeutlich, in der von den heftigen Blitzen des Schmerzes, der in seinem Gehirn, in seinem ganzen Körper aufbricht, durchzuckten Schlaflosigkeit, undeutlich gibt es Schnee. Er versucht, diese Erinnerung an Schnee einzukreisen, dieses flockige Gedächtnis, in dem er schwebt, erstarrt in dem Schmerz, der sich hinzieht, und es ist erst zehn Uhr abends, er hat soeben auf seine Uhr geschaut im Schein der Nachttischlampe, die auf einem Stuhl steht, und ihr Schirm ist aus rosafarbenem, gefälteltem, verblichenem Stoff, aber man hat ein Tuch darüber gelegt oder ein Stück Stoff, das lediglich einen schmalen, an der Spitze gekappten Lichtkegel durchläßt, links von seinem Bett, zu dem er das Handgelenk hat ausstrecken müssen. Der Schnee kann sich nur in seinem Gedächtnis befinden, auch wenn er manchmal den Eindruck hat, als sähe er ihn dunstig im Zimmer schweben, auch wenn er zuweilen in die knirschende Weichheit verschneiter Wälder einzusinken meint. In Wirklichkeit würde er, wenn er sich anstrengte, genau wissen, dass das weit geöffnete Fenster auf den Monat August geht.
Er versucht, aus dem gestaltlosen Nebel wieder aufzutauchen und, an den beiden obsessiven Wörtern "Schnee" und "Flieder" entlang, ins erinnernde Bewußtsein zurückzufinden. Der Roman kreist, im Perspektivenwechsel von dritter und erster Person erzählt, in die Vergangenheit zurücktauchend und im Vorgriff auf einige zukünftige Jahre, die Lebensgeschichte in Momentbildern ein. Manuel wird in seine Wohnung gefahren, die ebenso wenig die seine ist wie eine andere: er ist ein politischer Flüchtling aus Spanien und wird sich dort im Untergrund betätigen. Er muss sich einer Operation unterziehen, denn sein Ohr ist bei dem Sturz halb abgerissen, so dass er am kommenden Tag noch einmal aus einer Betäubung erwachen wird. Das Weiß des Schnees erinnert an Wintertage in Buchenwald, bezieht sich auf die Landschaft am Lago Maggiore, wohin Manuel ein halbes Jahr später zur Erholung fahren wird, ruft Körper und Gesten einiger Geliebten in nächtlichen Betten auf, bezieht sich auf politische Erstarrung und den Zustand der Bewusstlosigkeit gleichermaßen. Die Wellen des Schmerzes, die ihn nach seinem Sturz heimsuchen, erinnern ihn an die Schläge, die der Maquisard erhielt, als ihn die Gestapo schnappte.
["Vorhin, vor dem Spiegel, hätte er, wenn er sein Haar ein wenig zurückgestrichen hätte, auf der linken Seite des Schädels die Spur eines dieser Schläge auf den Kopf sehen können, eine weiße Narbe, ziemlich breit, die fühlbar seine Schädeldecke furchte. Der Griff der Selbstladepistole war auf ihn niedergesaust, und sofort waren seine Augen voller Blut gewesen, er war von all dem Blut auf seinem Gesicht blind gewesen. ] - Ich erinnere mich an den Blutgeschmack, denkt er, ich erinnere mich wirklich an den Blutgeschmack, es war keine Halluzination.
Zuerst hatte ich einen Schlag in den Nacken erhalten, vielleicht mit einem Knüppel, von dem zweiten Typ, dem, der klein und fett war, dem, der eine Brille mit Goldrand trug. Als ich die Küche betreten hatte, hatte er sich trotz seiner Beleibtheit sehr rasch hinter mich gestellt, um mir den Weg zur Tür zu ver- sperren. Ich hatte noch Zeit gehabt, diese Bewegung wahrzunehmen sowie die Geste dieses Mannes, dessen rechte Hand in seiner Jackentasche steckte, noch bevor ich begriff, dass Fremde in der Küche waren, eine Frau und zwei Männer. Später hatte ich gedacht, dass er mir diesen ersten Schlag mit einem Knüppel versetzt hatte, als ich sah, dass sie englische Schlagstöcke hatten, die ihnen sicherlich bei einem Fallschirmabwurf in die Hände gefallen waren, aus glänzendem, biegsamen Stahl mit einer kleinen quadratischen Masse aus Stahl am Ende, Schlagstöcke, die sich auseinanderziehen ließen wie ein Fernrohr, so dass sie, zusammengeschoben, sowenig Platz wie möglich ein- nahmen, und man sie bequem in einer Manteltasche unterbringen konnte. [Kurz bevor ich jenen Schlag auf den Nacken erhielt und in die Knie ging vor dem anderen Mann, der mich mit brutalem und zugleich entsetztem Blick ansah, hatte ich die hysterischen Schreie gehört, die die Frau ausstieß, die die beiden Typen von der Gestapo begleitete.
Die Dolmetscherin der Gestapo memoriert die Gestalt des Kinderfräuleins, das den Jungen mit deutscher Kultur erstmals in Berührung brachte So holt sich das durch "diese Lepra des Vergessens" mehrfach geschlagene Bewusstsein die Einzelheiten aus verschiedenen Zeitzonen zurück. Es sammelt blitzlichtartig erhellte Augenblicke, die von schwarzer, leerer Zeit umfasst sind - unwillkürlich, nicht der Regel der Chronologie folgend, denn:
Der Reihe nach sind die Dinge unsagbar.
So existiert dieser Roman wie ein Orchester aus Namen, Stimmen, Bildern, die zueinander finden und die einander brechen, einer Bewegung der Willkür folgend, die mehr ausdrückt als das lrreguläre des Gedächtnisses, die vielmehr eine dunkle Schicksalslinie ausmacht. Ein anderer als Semprún würde sie vielleicht als deus abscondidus bezeichnen, zur Instanz personalisieren. Man kann schon bei diesem Buch vermuten, dass das Gedächtnis bei Semprún jene Größe ist, die nach dem Zerfall fast aller Werte, nach dem Zerbrechen jeden metaphysischen Horizonts, nach dem Verlust jeden Glaubens übrigbleibt: eine moralische Instanz, die eine fragile Substanz des Humanen auf der Bühne der Schrecken sichert. Die magnetische Kraft, die von dieser Instanz Erinnerung ausgeht, ruft verschollene Namen wach und ruft Szenen der Brüderlichkeit auf, z. B. die nahe Verbindung zu seinem Lehrer, dem Soziologen Maurice Halbwachs, den Semprún in Suchenwald wiedergefunden hat,
Sonntags ging er ins Kleine Lager hinunter. Nach dem Mittagsappell. Dort fanden immer politische Versammlungen statt. Manchmal auch in den Kellern des Dusch- und Desinfektionsgebäudes, ein knapper Bericht an die militärischen Verantwortlichen. Aber in dem dichten Leben der Sonntage fand er Zeit, ins Kleine Lager hinunterzugehen. Auch Hamelin. Hamelin begleitete ihn, oder sie trafen sich an Ort und Stelle. Der Block 56 war die Baracke der lnvaliden-. der Greise, der Krüppel, der fast schon Toten, für die der Tod das einzig vorhersehbare Ereignis ihres Lebens war. Sie stießen die Tür auf, sie drangen ein in den Gestank, Hamlin und er. Die Amputierten, die Greise, die an Durchfall leidenden, die eiternden Verletzten, am Teich mit den fünf Säulenhallen. Sie bahnten sich einen Weg, Hamelin und er. Seite an Seite auf derselben Pritsche, sie kommen sehend, mit schon verschleiertem Blick, lagen dort Halbwachs, Maspéro. Dann stützten sie sich mit dem Ellbogen auf die Pritsche, sie sprachen mit Halbwachs, mit Maspéro. Mehr konnten wir nicht tun, mit ihnen sprechen.
Die sich wiederfindende Erinnerung ist in diesem Roman "Die Ohnmacht" noch nicht das eminent politische Motiv, das die nachfolgenden Aufzeichnungen "Was für ein schöner Sonntag" durchzieht. Es fehlt in dem geradezu familiären Kleinformat dieses Romans noch die ständige Reibungsfläche des Stalinismus, die in den späteren Aufzeichnungen das Gedächtnis über den Eisernen Vorhang hinweg bestimmt. Aber diese Technik, aus lauter Bruchstücken des Erinnerns gleichsam ein unnachahmlich musikalisches Mosaik zu fügen, ist auch in "Die Ohnmacht" auf eine artistische Weise vorgeführt. Der Roman wirkt, im nachhinein gelesen, wie die glanzvolle Skizze seines später ausgeführten Verfahrens, die verlorene Zeit wiederzugewinnen.
Sein Leben zeigt sich mir (...) als eine lange Reihe aufeinanderfolgender Reglosigkeiten, getrennt durch große Leerräume, konfuses Nichts. Als eine Sammlung von Schnappschüssen, deren chronologische Ordnung durcheinandergebracht worden wäre und die, vor meinem Blick auftauchend, mir eine Anstrengung des Gedächtnisses oder der Phantasie abverlangte, um anhand ihrer wahrscheinlich verblassten Oberfläche, auf der sich Gesichter, Lachen, Gärten, Eukalyptusbäume, Hunde, Kinder, Äpfel - mit oder ohne Apfelbäume -, Meere, Frauen, Traurigkeiten sowohl verbergen wie enthüllen würden, um anhand all dieser erstarrten Zeichen die verdunkelte Bewegung zu rekonstruieren, die zu diesen vom Zufall herausgehobenen Momenten geführt hatten, die, keiner weiß warum, vielleicht zum Nachteil sehr viel wichtigerer Ereignisse, bewahrt wurden.
Reglosigkeiten, jedoch schwindelerregende, glatt an der Oberfläche, vielleicht sogar flach, oder trübe, jedoch von innen her durch einen schrecklichen reglosen Wirbel aufgewühlt, ein entfesseltes Gedächtnis, das in einer blendenden Momentaufnahme alle dunklen, jäh evident gewordenen, unstreitigen Zusammenhänge zwischen den zumindest dem Anschein nach heterogenen Ereignissen aufdeckt: ein Sommerregen und eine gewisse Heftigkeit der Gefühle; ein eisiges Licht auf einem Parkplatz an der Gare de Lyon und eine bestimmte zwanghafte Gestalt des Todes; die strahlende und zugleich trübe gelbe Farbe eines Glases Pastis und die plötzlich aus dem Nichts aufgetauchte Architektur eines Romans, den man schreiben möchte. Dinge dieser Art, geistige Begegnungen dieser Art, blitzartig.
In mehreren Drehbüchern, die neben Alain Resnais von Costa-Gavras verfilmt wurden, hat er leerlaufenden Dogmatikerkult, die Praxis des Terrors und die Schauprozesse dargestellt. Die Erlebnisse im KZ blieben noch ausgespart. In zwei Büchern widmete sich Jorge Semprún nach dem Roman "Die Ohnmacht' seinen Erfahrungen als Häftling 44 904 in der Hölle des Konzentrationslagers. Von den 72 Sonntagen im Lager, dem Aschengeruch der verbrannten Leichen, der Agonie in Schnee und Kälte auf dem Ettersberg nahe Weimar erzählte er in den Aufzeichnungen "Was für ein schöner Sonntag" von 1981. Goethe und Eckermann spazieren in diesem Buch durchs Höllenrevier, die stalinistischen Gulags werden mitbedacht. An diesem Buch hat Semprún weitergeschrieben: 1995 erschienen seine Aufzeichnungen "Schreiben oder Leben". Er folgte der selbstgestellten Passion:
Diesen Tod zum Ende zu erzählen, eine unendliche Aufgabe.
Als der Schriftsteller 1992 zum erstenmal wieder nach Buchenwald kam, vermeinte er in der dramatischen Leere des Appellplatzes "heimgekehrt' zu sein. Das KZ, in dem Semprún vorn Januar 1944 bis Ende April 1945 war, bezeichnete er als "mein sonderbares Vaterland".
In den beiden ausholenden Büchern hat sich Semprún immer dichter hineinversenkt ins Lager, in die Hölle, die Gedankenfluchten, die Parallelaktion des Gulag, die gestorbenen Kameraden, zu ihren Gräbern in den Lüften, in die Willkür des Oberlebens, hat aber auch Hegel und Goethe und eine erlesene Schar poetischer Geister an diesen Ort geträumt. Jorge Semprúns literarischen Bücher liegen nun, die meisten von ihnen in den vorzüglichen Übersetzungen Eva Moldenhauers, auf Deutsch vor. Aber eines bedürfte dringend einer Neuausgabe: Die "Autobiographie des Federico Sanchez", die Lossagung des führenden Kommunisten Semprún von der Partei, die Bilanz eines lrrwegs, die Abrechnung mit der heroischen Pose Carillos und der Passionaria, ist 1981 nur verstümmelt und in mangelhafter Übersetzung erschienen. Eine komplette und fehlerlose deutsche Ausgabe wäre fällig. Mit dem Roman "Die Ohnmacht" ist nun ein Schlußstein im lmperium der erzählten Augenblicke Jorge Semprúns gesetzt. Ein einzigartig instrumentiertes Werk liegt vor, das die Suche nach der verlorenen Zeit als einen Kampf gegen das Vergessen thematisiert, das sich aber auch als das große Zeremoniell eines erzählenden Orpheus lesen lässt.
Der Künstlerroman steht neben der Vergegenwärtigung des Terrorismus, Ramon Mercader, der nom de guerre des Trotzki-Mörders, neben dem zauberischen Ingenium eines Vermeer, der "akademische Kolportageroman" über den Pariser Mai neben dem politischen Krimi, der mit dem Namen des russischen Attentäters Netschajew spielt. Die Totenklage und die erotischen Episoden überlagern einander. Kaum ein anderer Erzähler hat sich so intensiv und mit vergleichbar ausholender Energie dem Doppelgedächtnis an die unterschiedlichen und doch vergleichbaren Lager gewidmet.] Eine gewisse Abschiedsfeierlichkeit könnte sich breitmachen. Aber ein Ende dieser Erinnerungsarbeit ist nicht abzusehen. Jedes Rätsel dieser gelebten Substanz, das gelöst, jeder Zufall, der entschlüsselt ist, verweisen auf neue Rätsel und undurchschaute Fügungen. Das Gedächtnis bewegt sich für Semprún in einem unendlichen Raum. Schon gibt es in Frankreich ein neues Buch von ihm zu lesen.