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Die Orchideenwanderung

Frauenschuh, Fingerwurz und Fuchs-Fingerwurz - etwa 70 Orchideenarten gibt es in der Schweiz. Viele blühen in unwirtlichen Bergregionen. Im Berner Oberland können Wandergruppen die Blütenvielfalt der Alpen bewundern - und einiges über Blumen, Kühe und Steinböcke lernen.

Von Renate Rutta | 07.09.2008
    Samstagmorgen, kurz vor neun Uhr: Neun schweizerische und zwei deutsche Wanderer steigen noch etwas müde an der Station Wengernalp aus der Zahnradbahn, die sie von Interlaken aus hier heraufgebracht hat. Früh aufgestanden sind sie alle heute morgen zu einer Orchideenexkursion. Manche kommen bis von Bern, um mit der diplomierten Wanderleiterin Doris die Blütenvielfalt im Hochgebirge des Jungfraugebietes zu erkunden.

    "Guten Morgen, liebe Orchideen-Freunde. Ich will euch mal zeigen, in welcher Gegend wir uns aufhalten werden. Ihr seht da drüben unsere Berggiganten, das ist der Eiger mit der Eigernordwand, dann haben wir den Mönch und hier die ganz breite mit den vielen Gletschern, das ist die Jungfrau."

    Die Wanderer haben Glück heute morgen mit dem Wetter, die Sonne scheint, es weht ein leichter Wind. Nach einer kleinen Stärkung mit Kaffee an der Bahnstation Wengernalp, über 1800 Meter hoch gelegen, sind auch die letzten Nachzügler eingetroffen.

    "Wir haben hier ein hochalpines Klima. Wir werden hier Orchideen sehen, die ganz harte Lebensformen hinter sich bringen müssen und wir wandern nachher hier rüber. Seht ihr da drüben, das ist die Moräne und gleich unten drunter gehen wir in den Wald runter und dort seht ihr im Wald ein bisschen grüne Wiese, das ist die Biglenalp. Dort finden wir Alphütten. Und das Vieh ist jetzt da, die Rinder, die haben manchmal sehr guten Appetit und die haben mir letzte Woche schöne Orchideen weggegessen, ich war ganz traurig."

    Alle cremen sich ein, setzen einen Sonnenhut auf, eine Sonnenbrille und schnüren die Schuhe fest. Gleich wird es losgehen.

    "Wir gehen da drüben über den Bergbach, da ist auch ein Gebiet mit den Orchideen, da hat es kein Vieh drin und ich hoffe, euch dort Wiesen zu zeigen, wo wir noch ganz seltene Orchideen finden, weil uns die die Kühe noch nicht weggefressen haben."

    "Manche haben Hörner, alle haben einen verschiedenen Ton, manche tiefer, manche höher, sind auch verschieden klein und groß, zum Beispiel: Die hat eine kleine Glocke und die da oben ist ganz groß.

    Also, sie fressen sie schon gern, die Orchideen fressen die gern. Es ist schade."

    "Die Orchideen lieben Kalk und durch das haben wir solch eine große Vielfalt an Orchideen. Wir bewegen uns, wenn wir jetzt da runtergehen, im UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn. Also unser Lebensraum der Orchideen ist geschützt und das ist schon seit 1960 Naturschutzgebiet. Es gibt zum Beispiel den Frauenschuh und Forscher meinen, dass es zehn bis 15 Jahre dauert, bis er das erste Mal blüht. Und deshalb sind die Lebensräume äußerst empfindlich. Ich zeig euch einen wunderbaren Lebensraum unserer Frauenschuhe, vor drei Wochen waren da über 50 Stück."

    Die wohl bekannteste Orchideenart ist der Frauenschuh. Charakteristisch ist der gelbe Pantoffel unter einem dunkelvioletten Blütendach. Doch die einzigen gelben Blüten, die die Wanderer bis jetzt erspähen, sind Trollblumen, im Schweizer Dialekt Ankerbauerli genannt, erklärt ein Mitwanderer.

    "Das ist diese gelbe da, meistens feucht wachsend, an feuchten Wiesen, gibt es nicht mehr viele, sind sehr geschützt, findest du nur noch ganz selten.

    Und warum heißen die Ankerbauerli?

    Wenn du einen Stock Butter nimmst und fährst mit dem Messer leicht darüber, dann streicht das so wie ein Span weg, das gibt dann so wie eine Locke in deinem Haar, Ankerbauerli heißt die dann in unserem Dialekt, Anker ist Butter und Bauerli ist ein Ball, also Butterball, Ankerbauerli."

    "Wir haben nur 70 Orchideenarten in der Schweiz. Das höchste hab ich im Gletschervorfeld auf 2300 Meter hoch gefunden, aber nur einmal letztes Jahr."

    Am Wiesenhang entdeckt Doris eine Fuchs-Fingerwurz, Dactylorhiza fuchsii, mit vielen purpur-weiß gefleckten Blütenblättern. Fast einen halben Meter hoch ist sie, eine Orchidee, die auffällt durch ihren hohen Wuchs. Und daneben die Breitblättrige Fingerwurz: Dactylorhiza majalis.

    " Hier möchte ich euch den Unterschied zeigen, Fuchsii, das erste Blatt unten ist rund, das ist das majalis, das breitblättige, das hat den Spitz, seht ihr den Unterschied?

    Wir sind jetzt auf der Biglenalp. Wir werden Männertreu sehen und sonst noch, ich hoffe das braunrote Sumpfwurz blüht, es ist da unten ein eigenes Mikroklima. Bis hierhin sind Alpweiden, von da an ist nicht mehr beweidet. Wir werden richtige Magerwiesen am Gletschervorfeld an der Moräne finden und dieses Land gehört den Steinböcken. Wir haben eine Steinbockkolonie und die Gämsen, die müssen ja auch noch wo leben."

    Der schmale Wandersteig wird immer enger und steiniger, je näher wir dem Gletschermassiv der Jungfrau kommen. Es ist schon eine ganze Weile her, dass uns die letzten Wanderer begegnet sind. Kaum einer spricht noch laut. Wir sind gespannt, ob wir die Steinböcke sehen werden.

    "Da drüben, schaut, ein riesengroßer Gletscherabbruch, jetzt könnt ihr wirklich einen Gletscherabbruch beobachten. Wir stehen wirklich unter den Viertausendern und jetzt wird es nachmittags und die Sonne wärmt da oben und dann gibt's Gletscherabbrüche."

    "Du siehst da oben, das ist ja Gletscher und jetzt am Nachmittag hat es mehr Sonneneinstrahlung und dann bricht das Eis los und du siehst da überall die weißen Schneewände, das ist Eisabbruch, die Gletscher gehen jedes Jahr etliche Meter zurück."

    "Hier befinden wir uns in einem Urgebiet für unsere Bergpflanzen, hier haben wir die seltensten Bergblumen, die hier blühen, wie hier zum Beispiel ein Berufskraut. Wir haben hier eine tolle Konstellation, von der Jungfrau haben wir das Urgestein, den Gneis und Kalk, den Gneis, der kommt von oben von der Jungfrau runter und nebendran haben wir einfach Kalkstein. Und dieses Gleichgewicht zaubert uns einen Gottesgarten hervor mit wunderbaren Bergblumen. Hier haben wir zum Beispiel den Wundklee, der Wundklee ist auch eine Heilpflanze, wir haben auch die Arnika hier, wir haben auch den Alpensteinquendel, Quendel ist auch eine Heilpflanze. Und ihr seht hier wirklich Blumen, die sich gegen die Kälte schützen, wie hier das behaarte Habichtskraut, die haben einzigartige Strategien entwickelt, um dem Winter zu trotzen."

    Und endlich, da sind sie, die Steinböcke, gegenüber auf der anderen Talseite am Felsen.

    "Da drüben seht ihr auch den Weg hier, da in der Moräne, da über den Bach, das ist der Jägerweg, weil: da drüben auf diesen Felsbändern hat es eine Steinbockkolonie. Und auf dieser Seite sind die Gämsen zuhause."

    Nach einer kurzen Rast mit Blick auf den Jungfraugletscher geht es wieder bergab, bald kommen wir zu den ersten Bäumen. Es sind kleine Arven. Doris zeigt auf einen Vogel:

    "Das sind junge Tannenhäher und dank der Tannenhäher haben wir auch den Arvenwald, weil die nehmen die Arvenzapfen, die Samen, die legen über 1000 verschiedene Orte an, wo sie Zapfen für den Wintervorrat anlegen. Er kann nicht alle essen, und deshalb haben wir hier unsere Arvenbestände."

    Durch Wiesen und Fichtenwald geht es wieder ins Tal hinunter. Doch zuvor reicht Doris eine kleine Stärkung.

    "Also, das ist Cognac und mit dem Zucker gibt das eine kleine Medizin, eine Jägermedizin, der Zucker geht schnell ins Blut und der Cognac stärkt einfach die Gemüter zum runtergehen und für die gemütliche Stimmung der Tour. Chömmeds Fingerhütli voll, Jakob, bitte, Hans-Ueli, Hans-Peter, wilsch au Cognaci? Also, sehr zum Wohl, Prost, zum Wohl miteinander, des isch guet."