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Die Orgelszene im Internet
Gut vernetzt, aber ohne Chance

Ein Grüppchen junger Organistinnen und Organisten entwickelt seit ein paar Monaten Formate in den Sozialen Medien. Auf den großen Plattformen haben sie alleine aber kaum eine Chance, ein größeres Publikum zu erreichen.

Niklas Rudolph im Gespräch mit Jonas Zerweck |
    Blick senkrecht von unten nach oben in einer Kirche, wo über einer Brüstung zwischen mächtigen Steinsäulen die Edelstahl-Pfeifen einer Kirchenorgel hängen.
    Sucht noch ihre Wege im Digitalen: die Orgel. (Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund mbH)
    Zerweck: Jetzt geht sie wieder los, die Lockdown-Zeit. Seit Montag ist es wieder so, dass keine Konzerte stattfinden dürfen. Mal abwarten also, wie sich in den nächsten Tagen diese Lockdown-Zeit auch wieder in eine Livestream-Zeit verwandelt. Wer also wieder mit viel gutem Willen und ganz viel Kraft kostenlos die Lücken füllen wird, die Corona in das Kulturbedürfnis aller Menschen geschlagen hat. In den letzten Monaten haben auch Organisten die Zeit genutzt, um digitale Experimente zu probieren. Jetzt gibt es Orgel-Podcasts, es gibt YouTube-Konzerte und, was bei Orgeln so gut funktioniert wie bei keinem anderen Instrument, es gibt sogar Führungen durch Instrumente von der ganzen Welt. Mit meinem Kollegen Niklas Rudolph spreche ich darüber, was die gesamte Orgel-Branche, also wirklich von den Interpreten bis hin zu den Musikverlagen, nachzuholen hat und auch, was es für Einkommensmöglichkeiten gibt, die bisher vielleicht vernachlässigt worden sind. Wie steht denn die Orgelbranche gerade da im Moment?
    Rudolph: Ich glaube, wie der ganze restliche Kulturbetrieb: Alarmstufe Rot. Und das bezieht sich nicht nur auf die Aufführungsituation, sondern auch auf den gesamten Markt. Also wir stellen ja einfach seit mehreren Jahren fest, dass die Umsätze von gestreamter Musik den Verkauf von physischen CDs überholen. Also auch dieser Schallplattenhype, den es vor ein paar Jahren noch gab, der ist wieder komplett vorbei.
    Auch die aktuelle Pandemie trägt dazu bei, dass sich die Angebote immer mehr ins Internet verlagern. Und da können wir feststellen, dass die gesamte Hochkultur diesen Trend einfach bisher verschlafen hat. Man denke nur an unsere geliebten öffentlich-rechtlichen Sender, die immer noch CDs besprechen und produzieren. Und dabei verlieren sogar schon Musik-Downloads, wie sie von Amazon oder Qobuz angeboten werden, zunehmend an Bedeutung. Es ist also höchste Zeit, dass man ein entsprechendes Angebot entwickelt.
    Orgelmusik für den Lebensalltag?
    Zerweck: Immer wenn vom Niedergang der CD gesprochen wird, dann sagen viele, dass da ein Kulturgut verloren geht. Aber immer wenn etwas niedergeht, dann geht was anderes auch auf und es eröffnen sich andere Chancen, andere Geschäftsmodelle. Wie groß sind da die Chancen und wie werden die genutzt, gerade im Bereich von Orgelmusik?
    Rudolph: Ja, es finden ja erste Begegnungsversuche statt. Also ganz spannend fand ich, dass das Label Organic Classics schon 2018 in ein Album investiert hat: "Calvaire" mit Christoph Keggenhoff an der Domorgel in Speyer, das speziell auf die Bedürfnisse von Streaming-Plattformen zugeschnitten war. Anstelle eines ausschweifenden Zyklus waren so kurze, prägnante Titel drauf, so ganz "snackable" wie der Social-Media-Experte sagt. Also gut zu verdauen, keine schwer verdauliche Vierne-Symphonie. Das passt einfach nicht in den Lebensalltag: 50 Minuten Orgelmusik am Stück. Wie soll man das bei all den kleinen Aufmerksamkeitsfressern, die man so vom Smartphone bis zum sprechenden Kühlschrank irgendwie hat, noch gehört bekommen? Auch das Artwork dieser CD war ganz fantastisch gestaltet. So kleine digitale 3D-Modelle, also etwas, was sich auch sehr gut auf einem Social Media share pic eignen würde.
    Das Projekt war insofern spannend, als dass dieses digitale Geschäft dann doch eher eine Marketingmaßnahme als ein Vertriebsweg war, weil mir der Gründer des Labels, Klaus Faika, gesagt hat, dass die Umsätze, die sich im digitalen Bereich generieren, dann doch nicht so stark sind, dass man davon wirklich leben könnte. Deswegen sind das erste Gehversuche, die da stattfinden.
    Zweifelhafte Orgel-Hits
    Zerweck: Das ist eher etwas, was tatsächlich in der Popmusik funktioniert, wenn ein Titel so oft gestreamt wird, dass da tatsächlich etwas abfällt, von dem man finanziell leben kann. Bei der Orgelmusik gibt es vermutlich nur ein paar Klassiker, die so etwas mal reißen können, oder?
    Rudolph: Ja, man muss im Prinzip nur mal Orgelmusik bei YouTube suchen. Dann sieht man, wo der Hase langläuft. Also die Toccata und Fuge in d-Moll, das ist noch kein Problem. Da gibt es Abrufe in zweistelliger Millionenhöhe. Dann wird es auch ganz schnell düster, weil dann kommt mit fast 10 Millionen Ansichten und über 60.000 Gefällt-mir-Angaben der epische Vangelis-New-Age-Hit "Conquest of Paradise" auf einer Heimorgel.
    Zerweck: Aber das ist natürlich auch keine wirkliche Orgelmusik, die da da gespielt wird, sondern sie wird halt auf einer Orgel gespielt.
    Rudolph: Genau. Das ist das, was dann letztendlich das größte Potenzial hat, erfolgreich zu werden auf diesen Plattformen. Aber Musik wie von Dietrich Buxtehude beispielsweise kommt im Vergleich zu diesen 10 Millionen auf mickrige 200 000 Abrufe.
    Neue Instagram-Formate
    Zerweck: Auf der anderen Seite muss man sich aber auch die Frage stellen, wie groß denn tatsächlich die Ambitionen der Orgelbranche sind, in diesen Bereichen große Erfolge zu feiern. Gibt's da wirklich ernsthaftes Bestreben?
    Rudolph: Man muss dazu sagen, dass die Community der Organistinnen und Organisten sehr klein und sehr speziell ist. Und ich finde immer wieder spannend, wie sehr sie auch tatsächlich miteinander bekannt sind. Das ist ja erst einmal etwas sehr Gutes für soziale Medien. Ich bin zum Beispiel auf ein sehr schönes Format von der Organistin Alexandra Bartfeld gestoßen. Sie ist Titularorganistin in Versailles. Sie führt "Organ-Talks" durch, bei denen sie sich einfach mit Leuten aus dieser Community trifft und dann tatsächlich mit Menschen aus der Branche spricht, von italienischen Orgelbauern bis zum Star-Organist Cameron Carpenter.
    Bartfeld: "Er ist ganz toll, eine wunderbare Persönlichkeit. Und es war wirklich schön mit ihm zu sprechen. Es war vom Publikum her der größte "Organ-Talk" und es gab auch ganz viel Feedback. Es gab beispielsweise auch sogar Menschen, die danach nicht mehr mit mir gesprochen haben."
    Rudolph: Das sind schöne Zufallsfunde, die bei ihr, wie sie mir erzählt hat, auch tatsächlich zufällig entstanden sind.
    Bartfeld: "Ich war im Lockdown in Russland, sehr überraschend, denn ich konnte einfach nicht zurück aus meinen Ferien kommen. Auf einmal hatte ich kein Instrument in der Nähe, nicht mal meine Orgelschuhe. Alle meine Freunde waren im Ausland und ich habe mich auch gefragt, wie das weitergehen wird. Und eines Tages war ich auf Instagram und habe jemanden gesehen, der diese Doppel-Livestreams gemacht hat. Und dann war wirklich nur noch eine kleine Frage. In zwei Tagen hatten wir den ersten 'Organ-Talk'."
    Die Idee einer Orgelplattform
    Rudolph: Dahinter steckt keine Strategie in dem Sinne, sondern es sind so Sachen, die Leute machen und die dann in der Community erfolgreich sind. Aber es ist nicht das, was eine große Breitenwirkung letztendlich erzielt.
    Es ist ein Produkt von der Community für die Community. Das liegt zum einen daran, dass es an strategischer Positionierung auf den Plattformen mangelt. Häufig ist eben das Das bestimmender als das Wie. Dabei ist die Einstiegsfrage für erfolgreiche Digitale ganz einfach: Wie kann ich mit welchem Inhalt über welche Plattform wen erreichen? Und wenn man einfach strategisch vorgehen würde, könnte man viel Strohfeuer-Aktionismus vermeiden. Aber es fehlt eben an einem professionellen Anbieter für Orgelmusik, der im digitalen Raum darauf abzielt, erfolgreich zu sein.
    Zerweck: Also ein Major-Player, der versucht das zu bündeln, was im Digitalen möglich wäre, um Orgel und Orgelmusik auf den verschiedenen Ebenen abzubilden?
    Rudolph: Ja, weil auf den großen Plattformen wird das nicht funktionieren. Da gilt das Prinzip "The winner takes it all". Das heißt, die wenigen erfolgreichen Titel wie eben die Toccata und Fuge in d-Moll, da kann sich noch jemand eine goldene Nase mit verdienen, aber das war's dann auch. Man bräuchte im Prinzip ein Streaming-Plattform, die all das bündelt, was es in dieser Community gibt, die auch auf neuen Sonos-Boxen funktioniert, auf Smart TVs und eine Sprachsteuerung über Alexa ermöglicht. Weil es gibt ja einen großen Vorrat an Musik. Es gibt einen großen Vorrat an Noten. Es gibt einen großen Vorrat an Bedarf in der Community, den man sich aber bisher aus ganz vielen einzelnen Quellen irgendwie zusammensuchen muss.
    Wenn man eine Plattform hätte, die einfach zu bedienen ist, die qualitativ überzeugt und die technisch auf dem neuesten Stand programmiert ist, dann könnte man über Abo-Modelle oder ein werbefinanziertes Freemium-Angebot schon Kunden binden. Ganz besonders spannend wird es natürlich, wenn man noch die Verleger für Orgelnoten miteinbezieht. Dann hätte man tatsächlich ein ganzes Biotop aus Aufnahmen, Interpreten und einem Notenangebot für die Community. Das wäre ein sehr schöner Aspekt, um diese ganzen unterschiedlichen Facetten zu bündeln, auf einer Plattform zu sammeln und damit auch gewinnorientiert anzubieten.
    Was halt spannend ist: Dass diese gesamte Orgel Landschaft auch eigentlich viel ohne gesprochenes Wort klarkommt, das heißt, sie ist einfach sehr international. Das ist eine große Stärke. Wenn man jetzt tatsächlich so ein Angebot schaffen würde, dann könnte man sehr schnell zum größten Anbieter in dem Segment weltweit werden, weil man tatsächlich nicht das gesprochene Wort hat und man nicht diese Regionalisierung hätte.
    Zerweck: Sie haben von der Organistin Bartfeld gesprochen, die auf Instagram diese Talk-Formate macht. Zeigt sich da auch diese Internationalität?
    Rudolph: Ja, es ist natürlich total einfach. Sie können innerhalb weniger Sekunden ein Gespräch mit dem Titularorganisten von Notre Dame führen und kurz darauf gucken, wie die Situation in St. Petersburg ist. Das ist ja alles möglich. Die Herausforderung ist nur: Sie müssen die Leute kennen, die da sind vor Ort. Und wenn die nicht auf Instagram sind, wenn die keine Facebook-Posts schalten, dann werden Sie die Leute nicht finden.