Archiv


"Die Passagierin"

Bereits 1968 stellte Mieczysław Weinberg seine Oper "Die Passagierin" fertig; im künstlerisch rigiden bis gefährlichen Klima der alten Sowjetunion wurde sie jedoch nie gezeigt. Nun feierte das Werk bei den Bregenzer Festspielen seine Premiere.

Von Wolf-Dieter Peter |
    Künstlerische Wiedergutmachung - dazu geriet die szenische Uraufführung von Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin" im Bregenzer Festspielhaus: Weinbergs Musikdrama fußt auf dem Roman der Polin Zofia Posmysz, die Auschwitz überlebte, später meinte, ihrer KZ-Aufseherin wieder zu begegnen und dieses Grauen künstlerisch überhöht hat.

    15 Jahre nach Kriegsende, auf der Überfahrt nach Brasilien, glaubt die inzwischen mit einem deutschen Diplomaten verheiratete, also "arrivierte" Ex-Aufseherin Lisa in einer Passagierin die KZ-Insassin Martha zu erkennen. Sie hat die junge Polin damals ausgenutzt, drangsaliert und deren Verlobten letztlich dem Tod ausgeliefert. Die Vergangenheit holt Lisa ein.

    Weinbergs Musik braucht gerade aus deutscher Sicht kein gut gemeintes, moralisch erzwungenes Wohlwollen: Sie ist zuerst exzellente Theatermusik. Weinberg gelingt die fröhliche Atmosphäre eines Luxusliners. Doch diese schicke Oberflächlichkeit wird durch Klänge gebrochen, die Parallelen zu Schostakowitschs Symphonien, den schrägen Tänzen und Umbrüchen in dessen "Lady Macbeth von Mzensk" erkennen lassen. Hartes Schlagwerk um die deutschen SS-Mannschaften, Zitate aus Marsch und Walzer.

    Eine polnische Widerstandskämpferin wird zu Klangschlägen nahe Beethovens 5. Symphonie geprügelt. Marthas Verlobter spielt auf der beschlagnahmten Edelgeige dem Lagerkommandanten nicht den gewünschten Walzer, sondern die entlarvend "saubere" Musik einer Bach-Chaconne – sein Todesurteil durch "deutsche Musik". Europäische Sprachenvielfalt bei den Insassinnen erklingt in russischen Volksliedmelodien, gehauchten Leidenschören, Melodien süßer Rückerinnerungen, religiösen Bitten und Hoffnungsphrasen.

    Insgesamt erweist sich Weinbergs "Passagierin" als "weibliches Pendant" zu den Männerschicksalen in Janáčeks "Aus einem Totenhaus" – ein künstlerischer "Ritterschlag" erster Güte. Das machte der junge griechische Dirigent Teodor Currentzis mit den Wiener Symphonikern auf fesselnde Weise klar: mit sicht- und spürbarem Elan führte er ein glänzendes Ensemble zu einem Triumph.

    Diese tief beeindruckende Werkentdeckung ist aber auch Regisseur David Pountney und der dramaturgisch perfekten Bühnenlandschaft von Johan Engels zu danken: Auf dem weißen Schiffsoberdeck in halber Bühnenhöhe bewegte sich eine arrivierte Nachkriegsgesellschaft "in blütenweißer Weste". Darunter lag die halb-, aber eben nur halb verdeckte düstere Lagerwelt. Zwei Gleise mit Prellböcken am Orchesterrand signalisierten "Endstation", dazu seitlich Wachttürme mit gefährlichem Scheinwerferlicht. Auf einem Gleiskreis konnten halbrunde Gebäudeteile heranfahren: mal Zuschauerchor, mal Schiffskabinen, mal Lagerbaracke – vor denen dann die Prellböcke auch wie Kniebänke für Gebete wirkten.

    Der Schluss überwältigte: die zuvor kahlköpfige Insassin Martha kam als grauhaarige Passagierin an den Bühnenrand und sang von der nie verblassenden Erinnerung an die toten Freundinnen – und in den schüchtern einsetzen Applaus führte Pountney dann die 87-jährige Zofia Posmysz herein – die real Überlebende nahm ihre Kunstfigur an der Hand, das Publikum erhob sich zu einer Ehren-Ovation, denn mit dieser Uraufführung triumphierte die Kunst über das Grauen. Ein unvergesslicher Moment der Opern- und Kulturgeschichte.