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"Die Piratenpartei möchte die Zukunft gestalten"

Auf dem Parteitag in Neumarkt wollen die Piraten über eine "ständige Mitgliederversammlung" beraten, eine interne Online-Plattform zur Mitbestimmung. Das Internet ermögliche es, Menschen stärker an politischen Entscheidungsverfahren zu beteiligen, sagt Piratenchef Bernd Schlömer.

Bernd Schlömer im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Die Umfrageergebnisse der Piraten sind unterirdisch: um die zwei Prozent, das deckt sich ungefähr mit dem Landtagswahlergebnis von Niedersachsen – das reicht nicht. Deshalb wollen die Piraten sich beim Parteitag, der heute beginnt, neu erfinden und mit Sacharbeit überzeugen. In den vergangenen Wochen und Monaten sorgten sie eher durch Streit und miserable Umgangsformen für Schlagzeilen. Vor 50 Minuten ungefähr haben wir das folgende Gespräch mit Bernd Schlömer aufgezeichnet, dem Vorsitzenden der Piraten. Guten Morgen, Herr Schlömer!

    Bernd Schlömer: Schönen guten Morgen!

    Heinemann: Wovon sind Sie Vorsitzender: von einer Partei, einem Netzwerk oder einem Haufen?

    Schlömer: Ich bin Vorsitzender einer politischen Partei, die sich zugleich als Bürger- oder Bürgerrechtsbewegung bezeichnet.

    Heinemann: Ihr letzter Parteitag in Bochum ließ andere Deutungen zu.

    Schlömer: Nein, da habe ich eine andere Bewertung. Basisdemokratie dauert einmal ein bisschen. Wir können trotzdem Beschlüsse fassen. Ich bin da ganz zuversichtlich, dass wir auch in Neumarkt an diesem Wochenende schöne Beschlüsse fassen können, damit wir unsere Kandidaten, die ja in den Bundestag einziehen wollen, solide legitimieren können. Ich freue mich schon auf die nächsten Tage.

    Heinemann: Die "tageszeitung" zitierte Sie jüngst mit dem Satz: "Uns fehlt die Motivation für den Wahlkampf." Sie haben klargestellt, das hätten Sie so nicht gesagt. Der hessische Landesverband hat Ihnen, nachdem das Zitat dann in der Welt war, genauer gesagt in der "taz", digital den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt. Können Sie sich an solche Umgangsformen gewöhnen?

    Schlömer: Wenn man in der Piratenpartei Funktionen übernimmt, dann muss man damit rechnen, dass es eine sehr lebhafte und sehr heterogene Debattenkultur gibt. Ich würde mir natürlich auch wünschen, dass mancher Beitrag etwas zielführender wäre, aber das muss man hinnehmen. Die Piraten sind sehr motiviert, sie sind sehr engagiert, sie wollen sowohl in den hessischen Landtag einziehen als in den bayrischen Landtag. Sie wollen die Kommunalparlamente in Schleswig-Holstein jetzt erobern. Und sie wollen natürlich auch in den deutschen Bundestag einziehen. Deswegen sind alle ein bisschen nervös, aber gut motiviert und voller Kraft, wie man sieht.

    Heinemann: Was hatten Sie denn eigentlich in dem Interview mit der "taz" gesagt?

    Schlömer: Ich hatte eigentlich gesagt, dass es vielleicht so wirken könnte. Ich wurde danach befragt, ob nicht angesichts einiger prominenter Parteiaustritte hier in Berlin die Partei nicht mehr so wirklich motivationsreich wäre. Und ich habe dann entgegnet, dass das vielleicht so wirken könne, ich sei aber sehr zuversichtlich, dass wir mit dem Bundesparteitag in Neumarkt auch neue Kraft, neuen Elan, neue Motivation tanken können – wir haben ja zuvor auch schon tolle Kandidaten gewählt –, und dass wir dann auf breiter Fläche angreifen können.

    Heinemann: Zur Politik gehört in der Demokratie Disziplin, und ganz ohne Respekt geht es dann auch nicht. Wieso fällt Ihren Leuten das so schwer?

    Schlömer: Nun, ich würde vorschlagen, dass man nicht immer auf die Mitglieder der Piratenpartei so schaut und das etwas ins schlechte Licht rückt. Es gibt sehr, sehr viele Mitglieder und Piraten, die tolle Arbeit leisten, die sehr konstruktiv arbeiten, die sachlich sind, zielführend – ich weise nur auf die Landtagsabgeordneten der Fraktion, auf die vielen Landesvorstände, auf die Themenbeauftragten, die alle Themeninhalte, Ziele voranbringen wollen, die eine andere Politik in Deutschland etablieren möchten, die die Politik in den Bundestagen jetzt herausfordern möchte. Und ich glaube, es ist eine tolle Mannschaft, und es ist keine schlechte Mannschaft.

    Heinemann: Stichwort tolle Mannschaft: Hat Johannes Ponader Ihrer Partei geschadet?

    Schlömer: Nein, das hat er nicht. Johannes Ponader ist Teil der Partei. Er repräsentiert eine nicht kleine Gruppe in der Piratenpartei, die sich sehr stark für Basisdemokratie, für Beteiligung einsetzen, die sich sehr stark auch für die Idee einer anderen Sozialpolitik einsetzen. Insofern spiegelt er auch dieses facettenreiche Bild der Piratenpartei wieder.

    Heinemann: Aber Sie sind froh, dass er geht.

    Schlömer: Na ja, er war mein Kollege. Er gibt sein Amt freiwillig auf, und ich finde diese Frage etwas provozierend, muss ich sagen.

    Heinemann: So war sie auch gemeint.

    Schlömer: Ja, aber da muss ich ja nicht drauf antworten.

    Heinemann: Vor rund 20 Monaten sind die Piraten in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. Was ist seither schiefgelaufen? Nächste provozierende Frage.

    Schlömer: Ja, das gehört dazu zu Radiointerviews, das finde ich auch nicht weiter tragisch, ich sehe das ja auch unter sportlichen Gesichtspunkten.

    Heinemann: Prima.

    Schlömer: Die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus macht aus meiner Sicht gute Arbeit. Sie hat sich sehr viel Anerkennung und Reputation erworben bei der Aufklärung der doch traurigen Umstände beim Bau des Großflughafens in Berlin. Sie engagiert sich in Fragen der Einführung eines Transparenzgesetzes. Sie versucht, bundespolitische Themen – weil sie nicht im Deutschen Bundestag sitzt – aufzugreifen, über Bundesratsinitiativen vorzustellen und damit auch die Piratenpartei im parlamentarischen System als wichtige Debattenpartei zu etablieren. Insofern bin ich eigentlich zufrieden.

    Heinemann: Herr Schlömer, Hintergrund dieser Frage waren die schlechten Umfrageergebnisse. Deshalb noch mal die Frage, was läuft bei Ihnen schief?

    Schlömer: Nein, ich lasse mich auf diese Fragestellung nicht ein.

    Heinemann: Also sind Sie zufrieden mit den jetzigen Umfrageergebnissen?

    Schlömer: Die Piratenpartei ist keine Partei, die ausschließlich auf Umfragewerte schaut.

    Heinemann: Aber Sie wollen gewählt werden?

    Schlömer: Ja, natürlich wollen wir gewählt werden. Und wir versuchen, über ein gutes Wahlprogramm auch die Zustimmung der Menschen wieder zu gewinnen. Ich würde den Prognosen zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht sehr viel Aussagekraft geben. Schauen wir einmal zurück in den Januar diesen Monats: Die FDP lag in den Umfragen bei zwei Prozent und schnitt dann am Wahlsonntag mit zehn Prozent ab. Ich glaube, dass wir auch im Sommerwahlkampf, der jetzt kommen wird, auch wieder auf die Zustimmung der Bürger stoßen können.

    Heinemann: Genau, das ist der Unterschied zwischen FDP und Piraten, die Piraten haben mit 2,1 Prozent in Niedersachsen abgeschnitten.

    Schlömer: Ja, es freut mich, dass Sie so viele provozierende Fragen stellen, aber davon lasse ich mich leider nicht aus der Reserve locken. Ich glaube an die Piratenpartei, ich glaube an ihre Idee, und ich bin mir sehr, sehr sicher, dass die Piratenpartei in den nächsten Jahren und auch in diesem Jahr bei den Wahlen um den deutschen Bundestag eine große Rolle spielen.

    Heinemann: Diskutiert wird auch über eine ständige Mitgliederversammlung, das heißt, Mitglieder könnten dann stets online mitentscheiden. Ist Politik dafür nicht längst viel zu kompliziert?

    Schlömer: Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als seien Dinge viel zu komplex. Es wird oftmals gesagt, die Dinge seien zu komplex, zu schwierig, man sollte die Entscheidung Experten überlassen. Ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig, dass man Menschen beteiligt an politischen Entscheidungen. Und wir haben ein Instrument, das Internet, das es ermöglichen kann, dass Menschen, Bürger in diesem Land, auch stärker am politischen Entscheidungsverfahren beteiligt werden. Insofern sollten wir das auch als Chance begreifen, vielleicht neue Modelle, andere Modelle einer digitalen, einer direkten Demokratie zu nutzen.

    Heinemann: Kann man Politik organisieren wie eine Wohngemeinschaft?

    Schlömer: Das ist eine Frage, die ich nicht bewerten kann. Es geht ja nicht darum, dass es eine Wohngemeinschaft ist. Es geht darum, Abstimmungsformen zu finden, die zur Zufriedenheit der Menschen gereichen. Und all das, was zur Zufriedenheit der Bürger, der Menschen in diesem Land beitragen kann, sollte man doch auch versuchen. Man sollte es doch nicht schlecht reden.

    Heinemann: Die G7-Finanzminister reden heute unter anderem zum Beispiel über die Basel-III-Bestimmungen für Bankenrücklagen. Kann man darüber spontan mitentscheiden lassen?

    Schlömer: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass politische Entscheidungen nicht von Mittwoch auf Donnerstag zu treffen sind, sondern dass sich politische Entscheidungen auch anbahnen. Wenn wir uns die Verfahren beispielsweise im Deutschen Bundestag anschauen, so gibt es feste Rhytmen, die einzuhalten sind. Es gibt Initiativen, es gibt erste, zweite, dritte Lesungen, ein Gesetzesverfahren dauert beispielsweise zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Monate. In dieser Zeit lässt sich eine Rückkopplung, ein Meinungsbild und eine Beteiligung von Bürgern realisieren. Ich bin da gar nicht so pessimistisch und skeptisch.

    Heinemann: Vielleicht besteht ja die Aufgabe der Piraten darin, die Bürgerinnen und Bürger wieder mit der etablierten Politik zu versöhnen.

    Schlömer: Das kann sein. Es geht auf jeden Fall auch darum, Menschen für Politik zu interessieren. Was erleben wir denn bei den Wahlen in den letzten Jahren? Wir erleben, dass die Wahlbeteiligung kontinuierlich sinkt. Und wenn man ein bisschen für Politik, für Demokratie, für Beteiligung werben kann, so ist es doch eine schöne Sache.

    Heinemann: Gibt es Schnittmengen mit der Alternative für Deutschland? Deren Vorsitzender, Bernd Lucke, soll Sie ja schon einmal kontaktiert haben.

    Schlömer: Nein, ich sehe eigentlich keine Überschneidung zur Alternative für Deutschland. Ich begreife die Alternative für Deutschland als eine eher rückwärtsgewandte Partei, die sehr an liebgewonnenen Gewohnheiten festhalten möchte. Die Piratenpartei möchte die Zukunft gestalten. Sie möchte den Eintritt ins digitale Zeitalter beschreiten, sie möchte Wissen, Informationen und Kultur für nichtkommerzielle Zwecke zur Verfügung stellen. Sie möchte, dass Menschen profitieren und sich freuen auf ihre Zukunft. Das kann ich bei der AfD nicht erkennen.

    Heinemann: Eine Kritik oder eine Schnittmenge gibt es, nämlich die Kritik am Europäischen Stabilitätsmechanismus.

    Schlömer: Ja, wir haben uns auch zum ESM kritisch geäußert, weil wir glauben, dass im Vorfeld trotz genügend Zeit, wie sich dann herausgestellt hat, die Parlamente, unsere Volksvertreter, nicht genügend beteiligt wurden. Außerdem haben wir beklagt, dass die Kontrollmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie nicht ausreichend formuliert worden sind. Insofern haben wir uns dort auch kritisch geäußert.

    Heinemann: Herr Schlömer, die Piratenpartei Nordrhein-Westfalen spricht sich für eine intensive Erforschung von Zeitreisen aus, mit dem Ziel, diese noch in diesem Jahrzehnt im ticketlosen Nahverkehrsbereich von bis zu drei Monaten Realität werden zu lassen – so heißt es in einem Antrag. Die Begründung: Zeitreisen wird es sowieso geben, wir müssen wissen, was uns erwartet, und die eventuellen Folgen erforschen und abfedern. Die Zeitung "Express" bezeichnete das in der ihr eigenen Sprache als "Gaga-Antrag". Ist er das, oder sind die Piraten ihrer Zeit voraus?

    Schlömer: Vielleicht sind die Piraten ihrer Zeit voraus. Zumindest können sie mit Humor Politik machen.

    Heinemann: In welche Zeit möchten Sie denn gern mal reisen?

    Schlömer: Ich möchte in der Zeit leben, in der ich jetzt bin. Ich bin jetzt zufrieden.

    Heinemann: Und wie lange noch als Vorsitzender?

    Schlömer: Das wird sich zeigen. Das wird sich zeigen, wie lange ich im Amt sein möchte – ich bin ehrenamtlich tätig, ich arbeite Vollzeit, und ich muss irgendwann überlegen, ob diese Doppelbelastung sinnvoll ist, richtig ist. Und das wird dann eine persönliche Entscheidung sein.

    Heinemann: Sind Sie auch ehrenamtlich amtsmüde?

    Schlömer: Nein, ich bin relativ motiviert. Ich bin heute Morgen um halb fünf aufgestanden, um mit Ihnen zu telefonieren.

    Heinemann: Bernd Schlömer, Vorsitzender der Piratenpartei. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Schlömer: Wiedersehen!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.