Sandra Schulz: Der Mann hat immer wieder polarisiert und erhitzte Debatten in Polen ausgelöst, und das ist auch jetzt wieder so. Der amerikanisch-polnische Historiker Tomasz Jan Gross muss möglicherweise seinen polnischen Verdienstorden zurückgeben, den er vor 20 Jahren für seine Tätigkeit in der polnischen Opposition bekommen hat. Das Problem, das seine Kritiker mit ihm haben, ist, dass er über den Antisemitismus und die Kollaboration der Polen während der Nazi-Besatzung schreibt, zuletzt in einem Artikel, der in 20 Ländern, darunter auch in Deutschland in der Zeitung "Die Welt", erschienen ist. Mit dem amerikanischen Historiker, der derzeit in Israel an einem neuen Buch arbeitet, hat Sabine Adler gesprochen.
Sabine Adler: Jan Gross, das polnische Präsidialamt soll rund 2000 Anträge bekommen haben mit der Aufforderung, Ihnen den polnischen Verdienstorden abzuerkennen, vermutlich wegen Ihres Artikels, in dem Sie geschrieben haben, dass die Polen im Zweiten Weltkrieg mehr polnische Juden getötet haben als gegnerische Deutsche. Das tut offenbar sehr weh...
Jan Gross: Das tut weh, aber es ist eine Tatsache. Es ist relativ einfach nachzurechnen, wie viele Deutsche von Polen während der deutschen Besatzung getötet wurden: 25 bis 30.000. Die Zahl der polnischen Juden, die von Polen getötet wurden oder denunziert worden sind, ist um ein Vielfaches höher.
Adler: Können Sie Zahlen nennen?
"Zehntausende Juden wurden zweifellos von Polen getötet"
Gross: Man weiß, dass ungefähr 10 bis 20 Prozent der Getto-Insassen geflohen sind. Dann gab es eine Welle, als die lokale Bevölkerung ihre jüdischen Nachbarn umgebracht hat. In Jedwabne und anderen Städten, das waren ebenfalls viele Tausende Juden. Und in dem sogenannten dritten Kapitel des Holocaust, nach der Vernichtung der Gettos, dem Massenmord in den Vernichtungslagern, wo 200.000 bis 250,000 versuchten, zu fliehen und sich unter der polnischen Bevölkerung zu verstecken, waren es Polen, die halfen bei der sogenannten Judenjagd, die häufig von den Deutschen organisiert, aber oft von der polnischen Bevölkerung unterstützt wurde. Nur 40.000 polnische Juden haben überlebt. Es sind viele Zehntausende, die zweifellos von Polen getötet wurden.
Adler: Ihnen soll der polnische Verdienstorden aberkannt werden. Verstehen Sie das als einen Angriff auf Sie als kritische Stimme?
Gross: Das ist eine Reaktion auf den Artikel. Darin ging es mir hauptsächlich um die Verpflichtung Polens, Flüchtlinge aufzunehmen. Polen haben seit Jahrhunderten massenhaft aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Und nun diese Empathielosigkeit. Danach galt ich als Verräter und so weiter.
Adler: Die neue politische Klasse versucht, Polen ein neues Image zu geben, mehr Patriotismus, mehr Stolz, mehr Vaterlandsliebe. Wird das gelingen?
Gross: Bei solchen Dingen kann man nichts fälschen, zumal in Zeiten von Rede- und Diskussionsfreiheit. Geschichte glorifiziert darzustellen, wird durchschaut werden. Es gab etliche Umfragen seit dem Jahr 2000 zu der Frage, wer im Krieg mehr gelitten hat, die Juden oder die Polen. Die große Mehrheit sagte, die Polen hätten mehr oder genauso gelitten wie die Juden. Dabei sind drei Millionen polnische Juden getötet worden! Die Bevölkerung weiß das noch immer nicht und deswegen lösen meine Bücher und Artikel immer wieder eine derartige Hysterie aus. Die Regierung sollte mehr für den Geschichtsunterricht tun, aber ich fürchte, dass sie versuchen, eine eindimensionale, heroische Sicht auf die Geschichte lehren werden, was das Land intellektuell schwächen würde. Es geht in Richtung Autoritarismus.
Adler: Es gibt Stimmen, die Herrn Kaczynski mit Präsident Putin vergleichen. Haben sie recht?
"Kaczynski zerstört alle Institutionen, die ihm anvertraut wurden"
Gross: Ich weiß nicht. Putin ist gewieft, gnadenlos, kühl kalkulierend. Kaczynski ist dagegen getrieben von Frustration, Groll und hat das fantastische Talent, alle die Institutionen und Initiativen zu zerstören, die ihm anvertraut wurden, so wie jetzt den polnischen Staat.
Adler: Einige Polen scheinen, Ihre Bücher als Provokation zu verstehen. Ist für Sie, Herr Gross, die Provokation der effektivste Weg, eine Debatte anzustoßen?
Gross: Ich will niemanden provozieren. Was ich schreibe, gibt der Gegenstand vor. Meine Argumentation begründe ich mit genau geprüften Fakten. Ich will Licht ins Dunkel bringen, wo das noch nicht geschehen ist. Daraus entstehen Debatten, weil im Krieg Heldentum, Brutalität und Kriminalität oft vermischt sind.
Adler: Noch mal zu dem Orden. Haben Sie schon daran gedacht, ihn zurückzugeben?
Gross: Bislang wollte das niemand. Aber wenn ein Botschafter kommt und den Orden will, gebe ich ihn zurück. Und wenn ich eine schriftliche Aufforderung dazu kriege, werde ich sie einrahmen und aufhängen.
Schulz: Mit dem polnisch-amerikanischen Historiker Tomasz Jan Gross sprach Sabine Adler.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.