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Die politische Analyse verknüpft mit präzisen Beobachtungen

Vor genau einem Jahr wurde die 14-jährige Malala Yousufzai von Glaubenskriegern am Hindukush in den Kopf geschossen, nur, weil sie sich für Bildungschancen für Mädchen eingesetzt hatte – sie überlebte schwer verletzt. Und sie ist in ihrem Kampf in Pakistan nicht allein, wie das Buch von Daniel-Dylan Böhmer zeigt.

Von Sabina Matthay |
    Daniel-Dylan Böhmers Buch liest sich wie ein Märchen. Wie eine Geschichte, es könnte auch der Stoff für einen Spielfilm sein. Das Buch endet ja sogar mit einer Geistersage und der gute Geist darin ist unverkennbar der uralte Geoffrey Langlands, der sein Leben erst als Offizier, dann als Lehrer Pakistan widmet und trotzdem durch und durch britisch bleibt.

    Doch Böhmer, Redakteur der Tageszeitung DIE WELT, erzählt Dinge, die tatsächlich geschehen und geschehen sind – non-fiction also:

    Daniel-Dylan Böhmer
    "Nichts in diesem Buch ist ausgedacht, aber ich versuche, das so zu erzählen, dass das Besondere sowohl an dieser Wirklichkeit, die jetzt stattfindet in Afghanistan und Pakistan, an den Menschen, die daran beteiligt sind, dem ungeheuren Reichtum, dem tödlichen Hass, den es da gibt, die das so nebeneinander existieren (...) dass das spürbar wird, erfahrbar wird."

    Das Ergebnis ist überaus lesenswert, weil der Autor Konfliktanalyse und Geschichtsabriss Pakistans mit der Lebensgeschichte des Geoffrey Langlands verknüpft, den er mehrere Monate begleitet hat.

    Der Mathematiklehrer Langlands kommt 1944 als Soldat ins damalige Britisch-Indien, erlebt aus nächster Nähe die chaotische Teilung des Subkontinents, bleibt als Militärberater in Pakistan und lässt sich dann als Lehrer in die Pflicht nehmen.

    Er speist mit pakistanischen Präsidenten und Diktatoren, wird von Stammeskriegern entführt und übernimmt in einem Alter, in dem man in Europa längst im Vorruhestand dümpelt, die Leitung einer Schule in Chitral, einem abgelegenen nördlichen Winkel an der Grenze zu Afghanistan. Langlands beste Schüler schaffen es an renommierte Universitäten. Wohl auch, weil er als Lehrer und Pädagoge den jungen Menschen mit Achtung und Aufmerksamkeit begegnet.
    Sie würden jedoch nicht kommen, wenn der Major sie nicht auf eine besondere Art ernst nehmen würde. An der Tür einer dritten Klasse hängt ein kleiner Zettel, von Hand beschrieben und nachlässig gefaltet, auf dem steht: "I must be something, because God does not create garbage." Keiner weiß mehr, welcher Schüler das gesagt hat. Irgendjemand hat es notiert.

    Der Major will ihnen vor allem klares Denken beibringen, um sie vor dem Wahnsinn des Fanatismus zu bewahren, der Pakistan zerreißt. Chitral, Heimat vieler Völker, Sprachen und Strömungen des Islam, ist dem Schrecken der Taliban dank seiner geografischen Isolation bisher zwar weitgehend entkommen, doch ihre Propaganda greift auch hier. Davon zeugt Böhmers fesselnder Bericht einer Unterrichtsstunde, in der es um Pakistans Ansehen als "gefährlichstes Land der Welt" geht.

    "Wir sind nicht der gleichen Meinung wie Madiha", unterbricht plötzlich das Mädchen mit dem scharfen Blick. "Die Taliban sind keine Terroristen", sagt sie. Sobald sie es ausspricht, wird die Klasse unruhig, einige Mädchen seufzen laut, als ginge jetzt etwas wieder los, dessen sie schon lange überdrüssig sind. Eine ruft: "Doch, das sind sie", eine Zweite sagt: "Die Amerikaner haben die Taliban vielleicht erschaffen, trotzdem sind sie Terroristen." Das hochgewachsene Mädchen schweigt mit verhärteten Lippen. Das "Wir", für das sie sprechen wollte, wird zweifelhaft. Wen hat das Mädchen gemeint, als es "wir" gesagt hat? Wir Sunniten, die Ismailitinnen wie Madiha und Zakia nicht für echte Muslime halten? Wir, die den Islam besser kennen als die anderen sunnitischen Mädchen in der Klasse? Das Wir verrät sich nicht. Aber es ist da.

    Kurze Zeit später verüben die Taliban im benachbarten Bezirk Swat das Attentat auf die Schülerin Malala Yousoufzai. In Chitral, auch in Major Langlands’ Schule stürzt man sich in Verschwörungstheorien, statt sich mit dem Vorfall kritisch auseinanderzusetzen. Statt klarem Denken, um dass es Langlands doch geht, der Rückfall in einen Reflex der pakistanischen Gesellschaft. Hat der Major den Krieg um Herz und Verstand seiner Schutzbefohlenen also wirklich überlistet?

    Daniel-Dylan Böhmer:
    "Für’s erste Ja. Aber das ist nur ein Zwischenstand. Das ist nur ein Etappensieg. Weil der Krieg als solcher, das Konfliktpotenzial, die alten Gegensätze aus dieser Weltregion nicht verschwinden werden und auch aus der Welt nicht verschwinden werden. Er kommt ja selbst aus einem kriegerischen Kontinent und aus einer kriegerischen Zeit aus Europa. (...) Aber ich glaube, was er schon geschafft hat, ist, dass zumindest in dem Bereich, auf den er Einfluss hat, diese verschiedenen Kräfte, die einander in solcher Todfeindschaft gegenüberstehen (...) miteinander im Gespräch bleiben."

    Vielleicht, weil der mittlerweile 95-jährige Brite seiner krisengebeutelten Wahlheimat gegenüber loyaler ist als mancher Pakistaner:

    (...) Scheiße ist dieses Land!", schreit der Gast, "Scheiße! Und es wird brennen! Da ist nix mehr zu machen! Da braucht man überhaupt keine Scheißhoffnung mehr drauf zu verschwenden!"

    Da legt der Major das Besteck auf dem Teller ab, macht den Hals und den Rücken grade, und dann brüllt er so laut, dass die Diener zusammenzucken: "Man darf die Hoffnung nicht aufgeben!"

    Bei all seiner Sympathie für den Major, für die Menschen in Chitral, überhaupt für Pakistan unterschlägt Daniel-Dylan Böhmer nicht die Widersprüche, die das Land und seine Bürger verzehren: weder den bequemen Defätismus der Eliten noch das zwiespältige Verhältnis zum bewunderten, gehassten Westen oder die staatlich geförderte religiöse Gleichschaltung, die das Abgleiten in Intoleranz und Extremismus vorantreibt.

    Die politische Analyse verknüpft Böhmer mit präzisen Beobachtungen, Sachkenntnis und anschaulicher Sprache und füllt damit eine Lücke in der deutschsprachigen Literatur zu Pakistan. Deshalb ist dieses Buch ein Glücksfall. Natürlich kann man den "Major, der den Krieg überlistete" als Porträt eines britischen Exzentrikers lesen. Doch Daniel Dylan Böhmers Buch wird einem breiten Publikum in Deutschland zeigen, dass es lohnt, sich mit Pakistan um seiner vielen Facetten willen zu beschäftigen.

    Daniel-Dylan Böhmer:
    Der Major, der den Krieg überlistete. Wie ein britischer Offizier Kindern am Hindukusch eine Zukunft gibt, Insel Verlag, 250 Seiten, 21,95 Euro
    ISBN: 978-345-817588-9