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"Die politische Macht habe ich nie angesteuert"

Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog spricht über Kindheit in einem liberalen Elternhaus, das Bildungssystem in Deutschland, die Gewaltenteilung und seine Art, Deutschland in der Welt zu repräsentieren.

    Professor Dr. Roman Herzog, geboren am 5. April 1934 in Landshut. Bundespräsident a. D. Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 1987 bis 1994. Kultusminister von Baden-Württemberg 1978 bis 1980, danach dort bis 1983 Landesinnenminister. Verschiedene Funktionen in CDU-Gremien. Roman Herzog ist in zweiter Ehe mit Alexandra Freifrau von Berlichingen verheiratet und hat zwei Söhne aus erster Ehe.

    Roman Herzog: Ich habe auch keine Berührungsängste.

    Kindheit in einem liberalen Elternhaus.

    Rainer Burchardt: Herr Bundespräsident Herzog, wenn wir gewissermaßen von Ihrer Herkunft und über Ihre Herkunft sprechen, so gibt es - von Ihnen selbst auch aufgezählt - eine bunte Mischung von Handwerkern, von Baumeistern, Stuckateuren und Flussschiffern. Wie fühlen Sie sich eigentlich, sozusagen, als vorläufiges Ende dieser Fahnenstange, wie fühlen Sie sich eingebettet in diese Herkunft?

    Herzog: Also ich glaube, so etwas überträgt sich ja nicht über viele Generationen und trotzdem habe ich gelegentlich den Eindruck, dass meine Unrast, an einem Ort zu bleiben und umzuziehen, vielleicht auch damit zusammenhängt, mit diesen Flößern, mit diesen ... Die ja nun von ihrem schwäbischen Ausgangspunkt teilweise bis Belgrad gekommen sind oder vielleicht auch im Zusammenhang mit den ganzen Gastwirten, Müllern, und so weiter, von denen ich abstamme, die ja auch immer von irgendeiner Gemeinde angestellt worden sind. Bei den Stuckatoren ist es klar, die sind jedes Frühjahr ausgezogen und haben die ganzen Kirchen im süddeutschen und Schweizer und österreichischen Raum stuckiert, die waren ständig unterwegs. Das mag sein, dass davon irgendetwas hängen geblieben ist, aber sonst ist das natürlich lang vorbei.

    Burchardt: Sie haben eben das schwäbische erwähnt, wie viel bayerisch ist da eigentlich in Ihrem Blut?

    Herzog: Relativ wenig, wenn ich meine acht Urgroßeltern durchzähle, dann ist nur ein einziger Altbayer dabei, drei Schwaben, zwei Franken und zwei Lausitzer

    Burchardt: Ihre Eltern sind gewissermaßen, was die Konfession angeht, ja geteilt, nämlich katholisch und evangelisch ...

    Herzog: Es war eine sogenannte Mischehe, ja.

    Burchardt: Sie sind also auch hier jemand, der, ja zwischen den Polen könnte man vielleicht sagen, angesiedelt ist. Sie selber sind evangelisch, haben Sie sich jemals dem Katholizismus verbunden gefühlt, es gibt ja Passagen in Ihren Erinnerungen, wo sie auch eine große Bewunderung für Papst Paul Johannes II. äußern.

    Herzog: Eine wirkliche Nähe zum Katholizismus besitze ich eigentlich nicht, aber ich habe auch keine Berührungsängste, ich bin unter lauter Katholiken aufgewachsen. In meiner Schulklasse, das waren vielleicht so 30 Schüler, da waren drei oder vier evangelische dabei, und das war selbstverständlich, wir haben uns behauptet. Wir sind natürlich auch, unsere Geistlichen sind aus der Verfolgung im Dritten Reich gekommen, wo die sehr eng aneinander rücken mussten oder zueinander rücken mussten, das alles hat sich eigentlich ganz gut aufgelöst. Was ich überhaupt nicht vertrage, ist Frömmelei, Bigotterie, aber die gibt es ja auch in allen Konfessionen.

    Burchardt: Apropos Drittes Reich, Sie sind ja mitten ins Dritte Reich hineingeboren, 1934. Wie ist Ihre Kindheit, die ja eine Kriegskindheit im Wesentlichen gewesen sein muss, wie ist die verlaufen und welche Auswirkungen hat diese Zeit auf Ihr späteres Leben gehabt?

    Herzog: Wir haben natürlich in einer sehr geschonten Gegend gelebt, die ersten Bombenangriffe, die ich miterlebt habe, waren 1944, es war schon Ende 1944, dann 1945. Man hat natürlich die zunehmenden Einschränkungen in der Lebensmittelversorgung und dergleichen verspürt, aber auch das war ja erst nachher, nach Kriegsende, wegen der ganzen Zerstörung der letzten Kriegsmonate und auch deswegen, weil es keine besetzten Länder mehr gab, die man ausplündern konnte. Wirklich bemerkbar ... Was man wirklich verspürt hat, so als Kind, als zehnjähriges Kind, dass wir eben mit unserem Gymnasium, ich bin im Sommer oder Herbst 1944 ins Gymnasium übergetreten ...

    Burchardt: Da waren Sie zehn Jahre alt.

    Herzog: Jawohl, dass man da also alle drei Wochen das Schulhaus wechseln musste, weil eine Schule nach der anderen zum Lazarett geworden ist.

    Burchardt: Wie waren die Lehrer damals, wie haben Sie die empfunden, waren das Durchhaltelehrer, waren das Nazis, die bis zuletzt versucht haben, zu indoktrinieren, oder hatten die sich schon damit abgefunden, dass es zu Ende geht?

    Herzog: Das weiß ich nicht, was die Motivation war, aber Sie müssen sehen, die waren alle mittlerweile an der Front zum Teil gefallen, zum Teil in Kriegsgefangenschaft, wir sind in diesem letzten Jahr von einer jungen Lehrerin, einer Referendarin und einem alten, aus der Pension zurückgeholten, Oberstudienrat unterrichtet worden. Der war ein altes Mitglied der bayrischen Volkspartei, also in der christlichen Partei gewesen, da hat es also nicht sehr viel gegeben, was also wirklich noch auf Durchhalten und so weiter geschaltet gewesen wäre. Das war in der Nachbarschaft, in der Umgebung eigentlich noch eher der Fall, aber auch da wusste man nie genau, ist das jetzt Überzeugung oder redet da nur einer, damit er mit etwas anderem nicht erwischt wird, also da bin ich unsicher in der Beurteilung.


    Herzog: Gerechtigkeit ist für mich ein Ideal, das man immer wieder vor Augen haben muss, das aber nie erreicht werden kann, und das im Allgemeinen auch nicht erkannt werden kann.

    Ein Jurist und die Gerechtigkeit.

    Burchardt: Sie haben 1953 Abi gemacht ...

    Herzog: Ja.

    Burchardt: Mit der Gesamtnote 1,0, was ja auch heute noch aller Ehren wert ist, dann haben Sie das Jurastudium ergriffen. Was hat Sie zum Juristen geführt, war das eine Verlegenheitslösung?

    Herzog: Ja.

    Burchardt: Oder war das eine Überzeugung?

    Herzog: Also eine Verlegenheitslösung war es insofern nicht, als mir viele von meinen Lehrern und im Übrigen auch - wenn ich mich recht erinnere - mein Vater mir dazu geraten haben. Ich selber habe geschwankt zwischen drei Fächern, Jura, Geschichte und Physik und habe dann nebenher, das war damals noch möglich, im ersten Jahr, oder zumindest im ersten Semester, im Grunde in den beiden ersten Semestern, soviel an physikalischen Vorlesungen mitgenommen, wie überhaupt möglich war. Aber dann habe ich einen gigantischen Fehlschluss begangen, ich war der Meinung, ich will nicht, wenn ich Physiker werde, gehe ich in die theoretische Physik und die wäre mir dann wieder zu theoretisch gewesen, ich wollte mit Menschen und etwas Praktisches arbeiten. Und habe mich dann für Jura entschieden, die Geschichte immer als Hobby nebenher betrieben, für Jura entschieden und, aber ich habe diese Überlegung dann auch vergessen, und als sie mir eines Tages wieder eingefallen war, war ich also Professor für öffentliches Recht, und damit wieder voll in der Theorie drin.

    Burchardt: Und Sie waren ein sehr junger Professor, 1966, im Alter von 32 Jahren und sind dann an die FU nach Berlin gegangen.

    Herzog: Ja.

    Burchardt: In dem Zusammenhang, vielleicht auch gerade vor dem Hintergrund Ihrer weiteren Karriere, was bedeutet, und wie haben Sie auch damals vielleicht den Begriff Gerechtigkeit empfunden?

    Herzog: Gerechtigkeit ist für mich ein Ideal, das man immer wieder vor Augen haben muss, das aber nie erreicht werden kann, und das im Allgemeinen auch nicht erkannt werden kann. In einer Zeit wie der unseren, wo das Leben so kompliziert ist, wo die Gesellschaft, die Technik, und alles, was um uns herum ist, so kompliziert ist, ist es schon ganz schwierig, das herauszufinden, was wirklich in der konkreten Situation gerecht ist. Wenn das einer behauptet, dann überschätzt er sich wahrscheinlich und genauso ist es mit der ständigen Veränderung der Verhältnisse, die sich ja auch immer schneller verändern. Es könnte möglicherweise eine auf wenige Tage begrenzte Gerechtigkeit geben, ich habe solche großen Sprüche nicht gern.

    Burchardt: Vielleicht dann kein großer Spruch und auch keine Wortklauerei, aber wie gerechtfertigt waren denn aus Ihrer Sicht die damaligen Studentenproteste gegen Verkrustung an den Honoratioren der Universitäten, und später in Ihrer berühmten Berliner Rede, der sogenannten Ruck-Rede, haben Sie ja auch gerade gegen Verkrustung innerhalb der Gesellschaft mobilgemacht.

    Herzog: Die Verkrustungen hat es ohne Zweifel gegeben, was ich schon sehr schwer beurteilen kann, ist die Behauptung, man hätte über die Vergangenheit im Dritten Reicht, die Diskussion erzwingen müssen, weil sie nicht geführt worden ist. Das mag in der Öffentlichkeit richtig sein, war auch in der Personalpolitik nach 1949 zu beobachten, wobei man wieder die Frage stellen muss, wie hätte es anders und besser geschehen können...

    Burchardt: Sie meinen jetzt die Adenhauer-Ära?

    Herzog: Genau, so, das ist schon richtig. Aber in meinem Elternhaus und auch bei mir, hat es das nicht gegeben. Also wir haben uns mit - ich mehr als mein Vater und mein Bruder - aber, wir haben uns mit der Frage des Antisemitismus, der Judenverfolgung, der Judenvernichtung und dergleichen offen auseinandergesetzt. Möglicherweise die ältere Generation etwas zurückhaltender als die jüngere Generation, aber das war alles nichts neues, das sind Vorwürfe, die ich also für viele von den Erwachsenen, die ich damals gekannt und erlebt habe, eigentlich nicht gelten lassen kann.

    Burchardt: Aber haben Sie nicht damals irgendwie doch das Gefühl gehabt, es muss so etwas - es gab ja damals dieses Schlagwort der Bewältigung der Vergangenheit - da muss was geschehen, da muss offen was angesprochen werden, wir haben da eine Last, teilweise ja die Generation auch noch eine Schuld, aber die danach folgende Generation zumindest eine Verantwortung zu tragen.

    Herzog: Völlig klar, ich habe, ich glaube, 1966 einen Artikel in dem, von mir mit herausgegebenen, evangelischen Staatslexikon geschrieben, wo das alles drinsteht. Wo im Übrigen auch schon drinsteht, und wenn einer von diesen KZ-Verbrechern 95 Jahre oder 90 Jahre alt ist, und man weiß, dass er nicht mehr haftfähig ist, dann muss er trotzdem vor Gericht. Also dafür habe ich Verständnis, das ist klar.

    Burchardt: Also ein Stück Gerechtigkeit auch im späteren Zeitraum?

    Herzog: Ja, ob das noch Gerechtigkeit ist, das ist ja gerade die Frage. Ob das nicht gegenüber den Opfern, ob das auch gegenüber den Opfern, den Toten gegenüber leichter, als gegenüber den Lebenden, die man dann wieder als Zeugen vor Gericht zitieren muss. Also ich will das Wort Gerechtigkeit damit nicht verbinden, aber ich finde, es musste sein, und ich bin da auch heute noch der Meinung, und wenn sie 107 sind, dann müssen sie vor Gericht.


    Herzog: Wir haben dann mit den Kohleländern gesprochen.

    CDU-Politiker und Landesminister.

    Burchardt: Sie sind dann peu à peu in die Politik, um auch zu sagen, dann in die Spitzenpolitik gegangen, zunächst einmal über die Landesvertretung, zunächst Rheinland-Pfalz-Bevollmächtigter, und sind dann Kultusminister in Baden-Württemberg geworden und anschließend Innenminister. Gab es für Sie auch eine Situation, wo Sie sagen, das war für mich das Ereignis, wo bei mir eine Art von politischer Erweckung stattgefunden hat.

    Herzog: Nein, das war es eigentlich nicht, ich war - ich weiß nicht, woher -, aber ich war also politisch interessiert, und zwar zunächst nicht nach irgendwelchen Parteibüchern oder Parteiprogrammen, eigentlich von Kindesbeinen an. Und meine erste Erinnerung, die aber haften geblieben ist, war der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich, und die jubelnden Massen in Wien ...

    Burchardt: Da waren Sie vier Jahre alt.

    Herzog: Vier Jahre, noch nicht ganz vier Jahre, und ich erinnere mich noch wie heute, wie mein Vater zu meiner Mutter gesagt hat, dreh den Radio aus, die spinnen doch die Österreicher, die müssen doch wissen, was bei uns los ist. Also das, also eine Erweckung war dazu nicht nötig, aber ich habe nie gedacht, aktiver Politiker zu werden.

    Burchardt: Sie sind 1970 in die CDU eingetreten, exakt jetzt vor 40 Jahren. 1969 war die CDU sozusagen weg vorm Fenster, es gab die Sozialliberale Koalition, die Brandt-Scheel-Koalition, war das für Sie auch so ein Stück persönlicher innerer Widerstand, zu sagen, jetzt muss ich aber bei den anderen, bei den Oppositionsparteien mitmachen? Sie haben ja auch irgendwann mal so nebenher gesagt, Sie hätten auch mal mit dem Gedanken gespielt, in die SPD einzutreten.

    Herzog: Nein, ich habe nicht gesagt, ich hätte mit dem Gedanken gespielt, aber ich hätte zu bestimmten Zeiten eintreten können, weil das soziale Element, also schon in meinem Elternhaus immer vorhanden war. Nicht groß tönend, aber im konkreten Handeln, und das hätte ich durchaus machen können, auch wenn Sie als Protestant im katholischen Niederbayern geboren werden, da haben Sie nicht automatisch schon mit dem Taufschein zusammen das CSU-Parteibuch überreicht bekommen, so ist das nicht. Es war auch nicht das Erlebnis der großen Koalition, der Regierungswechsel, der - mein Gott -, der lag damals jahrelang schon in der Luft, es war etwas ganz anderes, ich habe in der Auseinandersetzung mit den 68ern folgendes beobachtet: Da waren also zum Teil berechtigte, sehr berechtigte Anliegen, dann war sehr viel Schwärmerei à la - na ich sage mal - Jugendbewegung mit drin, und solchen Dingen gegenüber bin ich von vornherein immer skeptisch gewesen, egal in welche Richtung sie gehen. Aber es war dann ein harter Kern, bei dem, in Berlin jedenfalls, ganz deutlich war, das war Marxismus, Leninismus reinsten Wassers, und das wollte ich nicht.

    Burchardt: Es war ja auch gewissermaßen so etwas wie eine Identitätskrise in der CDU, über die Haltung zur Ostpolitik ...

    Herzog: Ja.

    Burchardt: Es dauerte ja eine ganze Zeit, ehe dann irgendwann mal Rainer Barzel den Knoten durchschlagen hat, sind Sie da intern mit gefragt worden, haben Sie da mitgewirkt?

    Herzog: Nein, überhaupt nicht. Sie müssen wissen, ich war damals, also zu der Zeit, wo ich in die CDU eintreten ... mich entschlossen habe, in die CDU einzutreten, das war so in den 1968, und da war ich gerade so zwei Jahre ordentlicher Professor und hatte andere Dinge zu tun. Ich bin als Person eingetreten und zwar erst, als ich von Berlin weggegangen war nach Speyer, da hatte ich Wohnung in Heidelberg, in der nähe von Heidelberg, also in Baden-Württemberg.

    Burchardt: Von Bonn weg?

    Herzog: Nein, nicht von Berlin.

    Burchardt: Also von der FU weg, ja?

    Herzog: Von der FU weg, und dann bin ich also ganz normal in den Kreisverband - was ist das - Heidelberg Land wahrscheinlich, eingetreten und an eine politische Karriere habe ich nicht gedacht. Und als der Bundesvor ... oder der kommende Bundesvorsitzende der CDU, der Dr. Helmut Kohl mich zum Staatssekretär in Bonn machen wollte, da hat er gesagt, also um Gottes Willen, jetzt nicht sofort in die CDU eintreten, aber Sie können es ja mal in Erwägung ziehen. Der konnte das gar nicht wissen, der war nämlich Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz und ich war Mitglied in Baden-Württemberg.

    Burchardt: Gut, aber Sie sind ja ...

    Herzog: Also das ist relativ locker alles bei mir abgelaufen.

    Burchardt: Sie sind ja dann doch aber Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz geworden und haben auch eine gewisse Nähe zu Helmut Kohl dann gefunden.

    Herzog: Natürlich.

    Burchardt: Was bedeutet Helmut Kohl für Sie, auch nachträglich betrachtet, und was bedeuten Sie für ihn?

    Herzog: Also um das gleich zu sagen, was ich für ihn bedeute, weiß ich nicht. Wir sind beide keine Menschen, die also gemeinsam sich hinstellen und Gesinneserforschung treiben. Ich habe an ihm immer respektiert - das ist eigentlich für mich das Wichtigste - die Zuverlässigkeit, und auch die Zuverlässigkeit oder den Spielraum, den er mir gelassen hat. Im Bundesrat ist es ja so, da fallen unter Umständen in letzter Minute noch Entscheidungen und man muss entscheiden, stimmt man mit Ja oder stimmt man mit Nein und dergleichen. Und da war es eben klar, ich habe, wenn ich so eine Entscheidung selber treffen musste, was selten ist, aber doch immer wieder passiert ist, ich habe eben versucht, ihn zu erreichen und mit ihm drüber zu reden. Wenn ich ihn nicht erreicht habe, dann habe ich entschieden, und dann bin ich nie von ihm desavouiert worden - was vielen meiner Kollegen in beiden großen Parteien passiert ist -, nie, er wusste allerdings, dass ich eben vorher alles versucht hatte, ihn zu erreichen, und das ist eine gute Basis für die gegenseitige Arbeit.

    Burchardt: Es gibt ja eigentlich, bezogen auf den Bundesrat, also auf die Macht, die Bundesmacht der Landespolitiker, gibt es ja immer wieder die Frage, eigentlich sei das ja die eigentliche Opposition, dass im Bundesrat sehr viel, in Anführungsstrichen, "blockiert" werden könne, was im Bundestag eigentlich schon verabschiedet ist. In diesem Zusammenhang, Sie sind ja Landespolitiker gewesen von 78 bis 83.

    Herzog: Ja.

    Burchardt: Wie dringend war für Sie eigentlich die Forderung, dass man nicht im Bundesrat ständig den Vermittlungsausschuss anrufen muss, sondern dass man vielleicht auch mal zu einer Verschlankung des Föderalismus kommen müsste.

    Herzog: Ja gut, wie ich 1973 da in dem Kreis der Bevollmächtigten, und damit der Ministerpräsidenten, bekommen bin war auf der CDU-Seite aus naheliegenden Gründen - das ist später der SPD genauso gegangen - natürlich die Meinung, wir müssen möglichst viel Mitspracherecht für den Bundesrat reklamieren, und das heißt, bei jedem Gesetzt möglichst nachweisen, dass es zustimmungsbedürftig ist. Ich habe mich natürlich auch einige Male an solchen Spielen beteiligt, aber dann habe ich folgendes bemerkt, wenn man dann die Zustimmung verweigert, beziehungsweise einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss zustande bringt, dann passiert folgendes: Erstens besteht immer die Gefahr, dass die regierende Mehrheit dann versucht, in späteren Gesetzen, das so klammheimlich den Kompromiss wieder etwas in ihre Richtung zu verschieben. Zweitens, Sie gehen am Abend in die Versammlung Ihrer Wähler und erzählen das, dann sagen die, das interessiert uns gar nicht, hätten Sie das verhindern können, das war ein Zustimmungsgesetz. Und wenn man dann sagt, verhinderter Staatshaushalt zum Beispiel, Bundeshaushalt ist nie verhindert worden, also die wirklich wichtigen Dinge, da macht man dann den Kompromiss, dann interessiert es nicht mehr, man bezieht also noch Prügel, und die ganze Presse schreibt, dass die CDU - oder später die SPD - die Regierungspolitik blockiert. Das heißt, und was das Schlimmste ist, da man ja der Meinung ist, die Regierungspolitik ist in dem Punkt falsch, erspart man es dem Bürger auch noch, die Folgen dieser falschen Politik zu verspüren, am eigenen Leib zu verspüren, und deswegen habe ich dann frühzeitig gesagt, gut, was eindeutig ein Zustimmungsgesetz ist, muss wie ein Zustimmungsgesetz behandelt werden. Aber bitte hört die Geschichte mit dem Erfinden von Zustimmungsgründen auf, da bin ich ziemlich allein geblieben. Aber ich bin noch heute der Meinung, und die Verminderung dieser Zustimmungsbedürftigkeiten in den letzten Jahren, die haben meine volle Zustimmung gefunden, deswegen.

    Burchardt: Es gab ja damals, wir sprechen über die Bonner Jahre, die Unterteilung in A- und B-Länder. A-Länder waren die SPD-regierten, B-Länder die CDU-regierten, ich habe irgendwo bei Ihnen gefunden, dass man irgendwo auch von Weinländern und Kohleländern gesprochen hat.

    Herzog: Ja, alles mögliche.

    Burchardt: Waren die Weinländer diejenigen, die Lebensqualität boten, und Kohleländer die dann eben auch von der SPD regierten Malocher?

    Herzog: Nein, das ist nur mein allererstes Bundesratsgeschäft gewesen, ich weiß gar nicht mehr, worum es im Einzelnen gegangen ist. Aber wir hatten für die Weinländer, und das war damals das rot Regierte, das war damals also Bayern, das war Baden-Württemberg, das war Rheinland-Pfalz, aber auch...

    Burchardt: Also alle CDU.

    Herzog: Aber auch das rot regierte Hessen, wir hatten nicht die Mehrheit für so einen Antrag im Bundesrat, aber wir haben dann mit den Kohleländern gesprochen, das war Nordrhein-Westfalen und das Saarland, und gemeinsam hatten wir eine Mehrheit.

    Burchardt: Sie haben ja eben sich schon relativ kritisch über die Macht des Bundesrates geäußert, latent haben wir es nach wie vor bis auf den heutigen Tag mit der sogenannten Föderalismusreform zu tun. Geht die in die richtige Richtung oder sollte man nach Ihrer Meinung einen größeren Schlag vornehmen, nämlich einfach die Zahl der Bundesländer zu reduzieren?

    Herzog: Das ist das letzte, was ich tun würde, weil daraus die Begründung entstünde, auf anderen Gebieten überhaupt nichts mehr tun zu müssen, und die Neugliederung des Bundesgebietes käme überdies auch nicht zustande. Da würde man wieder sechs, acht Jahre drüber reden und dann würde alles beim Alten bleiben. Sinnvoll wäre eine Neugliederung, ich sage das ganz deutlich, für mich, nur dann, wenn sie so wäre, wenn so gleichstarke Länder herauskämen, dass man keinen Länderfinanzausgleich mehr braucht. Aber das, selbst wenn wir das für das Jahr 2020 erreichen würde, 2030 wäre es schon wieder anders.

    Burchardt: Das hieß, die kleinen Bundesländer würden angegliedert?

    Herzog: Ja, das würde das bedeuten und, also dieses Spiel ist aussichtslos. Was ich selber kritisiere, das ist das Grundprinzip unseres Föderalismus, nämlich, dass die Gesetzgebungskompetenzen gesondert verteilt werden, sodass der Bund das absolute Übergewicht hat, die Verwaltungskompetenzen so verteilt sind, dass die Länder das absolute Übergewicht haben. Bei den Gerichten ist es so, dass die ersten zwei Instanzen Landesgerichte sind und dann kommen Bundesgerichte, und bei den Finanzen geht es sowieso drunter und drüber, und das halte ich für falsch. Ich würde an sich, so wie es die Amerikaner, im Prinzip wenigstens machen, Kompetenzen verteilen, und wer die Kompetenz hat, der erlässt die Gesetze, der vollzieht die Gesetze, der finanziert das Zeug auch. Da kann man dann immer noch zwischen Armen und Reichen einen gewissen Ausgleich bringen, aber das wäre eigentlich das, was mir in sehnsüchtigen Nächten vorschwebt.

    Burchardt: Qua Verfassung haben wir es mit der Kulturhoheit der Länder zu tun, ein Hamburger Spitzenpolitiker der SPD hat das mal Verfassungsfolklore genannt. Frage an den ehemaligen Kultusminister: Wäre nicht auch gerade vor der augenblicklichen bildungspolitischen Diskussion, die Bundeskanzlerin hat ja sogar von der Schaffung einer Bildungsrepublik Deutschland gesprochen, wäre da nicht tatsächlich mehr Zentralismus und weniger Föderalismus nötig?

    Herzog: Also ich bin kein Freund irgendeines deutschen Kultusministeriums, aber die Vorstellung, dass unser gesamtes Schulwesen von Berlin aus geregelt würde, die ist noch entsetzlicher, die ist noch entsetzlicher, da bin ich strikt dagegen. Das gilt nicht für die Forschung, das gilt nicht für die Universitäten, da hat man vielleicht in der Föderalismusreform sogar etwas zu viel des Guten getan, aber bei den Schulen ... Erstens beginnt es damit, mit den Fremdsprachen, es ist unmöglich, das was die Franzosen am liebsten hätten, dass wir an der Rheingrenze möglichst erste Fremdsprache Französisch machen, dass dann bundeseinheitlich anzustreben, bei Englisch geht es anders, aber Englisch ist eigentlich schon keine Fremdsprache mehr.

    Burchardt: Aber erste Fremdsprache Deutsch in Frankreich wäre doch auch nicht schlecht.

    Herzog: Ja natürlich, aber das käme auch so nicht. Nein, mir geht es um etwas ganz anderes: Mir geht es darum, mehr Freiheit für die Schule zu schaffen. Ich, wiederum nur ganz grob gesprochen, und ich bleibe jetzt nur bei den Gymnasien, ich würde sagen, bei den Gymnasien fünf Fächer, möglichst einheitlich, landeseinheitlich, die Bundeseinheitlichkeit würde man erreichen durch einheitliche Abiturprüfungen, da wäre ich sehr dafür, bundeseinheitlich. Wobei es dann wurscht ist, ob das in den Ländern gemacht wird und man die Aufgaben nachher gedruckt vergleichen kann, oder ob es genau gleich bundeseinheitlich gemacht wird, und die fünf anderen, nicht durch die Kultusministerien, sondern durch die Autonomie der Schule.

    Burchardt: Herr Professor Herzog, ich kann ...

    Herzog: Das, ich sage Ihnen also wirklich nur meine Idealvorstellungen, aber einem alten Mann steht das ja auch mehr zu.

    Burchardt: Selbstverständlich.


    Herzog: Die Gewaltenteilung ist durch andere Dinge längst aufgelöst.

    Das Verfassungsgericht als letzte politische Instanz.

    Burchardt: Sie sind 1963 zum Bundesverfassungsgericht berufen worden, als Richter, und waren dann auch Vizepräsident. Sie wurden 1983 Vizepräsident und Richter am Bundesverfassungsgericht und gleichzeitig dann 1987 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, bis Sie 1994 dann Bundespräsident wurden. Wenn wir bei der Politik bleiben, was ist, nachträglich betrachtet, Ihr Eindruck über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, wird dem Bundesverfassungsgericht zu viel politische Einflussnahme dadurch zugemutet, dass viele Gesetzgebungen einfach noch einmal dort durch eine Clearing-Stelle gehen müssen? Wir haben jetzt ja gerade das Hartz-IV-Urteil, ist das nicht eigentlich nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, überall noch den Politikern zu sagen, das habt ihr richtig, das habt ihr falsch gemacht?

    Herzog: Das ist richtig, das ist etwas, was mich auch immer gestört hat und nach wie vor stört. Nur wer soll es denn sonst machen, ohne Sanktionen? Sie können ja höchstens über ein Volksabstimmung... Aber nicht die Verfassung durch eine Volksabstimmung interpretieren lassen, das geht ja nicht. Ich meine, unsere Erfahrung ist ja in 200 Jahren Geschichte so: Zunächst waren die Monarchen und wichtige Greise haben sich eingebildet, dass die diese Weisheit mit dem Löffel gefressen hätten. Dann hat man demokratisiert, das heißt, denen ein Parlament gegenübergestellt und wenn Sie das lesen, was die Demokraten im 19. Jahrhundert dazu geschrieben haben, das ist natürlich auch furchtbar bukolisch und, wir wissen heute, dass auch ein Parlament die Weisheit nicht mit dem Löffel gefressen hat. Dann hat man in den Jahren, also spätestens seit 1930 gesehen, was ein Parlament alles an Unfug anrichten kann, und was ist denn dann über geblieben, dann hat man also all die Leute, die schon während des Zweiten Weltkriegs über die Gestaltung des Staatswesens nachgedacht haben, sind zwangsläufig dazu gekommen, eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen. Das hat in Italien begonnen, dann in deutschen Bundesländern und selbst in Jugoslawien war es so, dann kam die Bundesrepublik, es bleibt ja nichts mehr übrig, wenn man nicht die Fuldaer Bischofskonferenz damit betrauen will, es muss jemand da sein. Ich beklage zwei Dinge: Das Eine ist, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder unter dem Druck und vielleicht auch etwas in der Versuchung steht, einfach schlechte gesetzgeberische Arbeit, wie die vorkommt, zu korrigieren. Und zweitens, dass es halt zu weit allmählich zur Verfestigung eines Normensystems beiträgt, das - jedenfalls nach meiner Überzeugung -, irgendwo lockerer sein sollte. Die Probleme werden immer feiner gesponnen, es wird auch immer mehr zugepflastert, dazu kommt die Verfassungsbeschwerde, eine wirklich unserer Glanzleistungen in Deutschland, die aber dazu führt, dass jeder Bürger sagen kann, da hätte man also doch hinter dem Komma noch was anderes machen müssen. Es ist nach wie vor, für meine Begriffe, ein fantastisches System, aber mir wird von Tag zu Tag unwohler bei dieser Festkleisterung unserer politischen Entwicklung.

    Burchardt: Ist das eine schleichende Auflösung der Gewaltenteilung?

    Herzog: Die Gewaltenteilung ist durch andere Dinge längst aufgelöst. In dem Moment, wo Sie ein parlamentarisches Regierungssystem mit politischen Parteien machen - und wie wollen Sie das in einer Massengesellschaft anders machen - in dem Moment, gibt es nicht mehr Parlament und Regierung gegeneinander, sondern es gibt Regierung plus Parlamentsmehrheit und die Opposition, die aber meistens nur eines hat, sicher, nämlich die Minderheit. Insofern ist die Gewaltenteilung, anders als ... Bei uns von vornherein anders als etwa in Frankreich oder vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten. Wir haben immer gelehrt, ich habe das also 20 Jahre lang an den Universitäten gemacht, die wichtige Gewaltenteilung ist eigentlich die zwischen Bund und Länder und Bundesrat, und dann die Korrektur, im Übrigen des Gesetzgebers, nicht nur durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern natürlich auch durch drei Instanzen Verwaltungsgerichtsbarkeit...

    Burchardt: Wenn Sie ...

    Herzog: Aber wir sind irgendwie an einem Punkt, wo man das also eigentlich mal wieder neu durchdröseln müsste.

    Burchardt: Sie waren ja mal führend tätig im Europäischen Konvent, Sie haben nun selber schon gesagt, zwischen Exekutive, Legislative in Deutschland, gibt es eigentlich nicht mehr eine saubere Gewaltenteilung ...

    Herzog: Ja in ganz Europa nicht.

    Burchardt: Und in Europa gibt es sie ja erst recht nicht. Warum eigentlich nicht, es ist doch eigentlich, wie sehen Sie als ehemaliger Verfassungsrichter und Präsident, Professor Herzog, wie sehen Sie das, dass tatsächlich die Exekutive, also die Ministerräte, die Vertreter der jeweiligen Regierung in Europa die Gesetze machen?

    Herzog: Ja gut, weil natürlich sich die Gesetze heute und die Gesetzgebung sich auf Probleme angewandt sieht, die ursprünglich, für die sie ursprünglich nicht gedacht waren. Wenn der alte Montesquieu, der die Gewaltenteilung als erster wirklich publikumswirksam propagiert hat, wenn der gefragt worden wäre, welche Gesetze er sich vorstellt, dann hätte er gesagt, bürgerliches Recht, Handelsrecht, dann vielleicht noch Steuerrecht, Strafrecht, und dann wäre Mattei am Letzten gewesen.

    Burchardt: Nun gibt es eine, schon seit Jahrzehnten kann man sagen, rückläufige Wahlbeteiligung, insbesondere bei den Wahlen zum europäischen Parlament, die erste Direktwahl gab es ja erst 1979, also noch nicht so lange. Wie stehen Sie denn vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben, man kann ja daraus schließen, zunächst einmal, dass Europa nicht so interessiert, obwohl es mehr interessieren sollte. Wie stehen Sie denn in diesem Zusammenhang zu einem möglichen Referendum, etwa auch in Deutschland, über das, was man die europäische Verfassung genannt hat?

    Herzog: Ich habe immer zu denen gehört, die für eine echt Verfassung, die ein Referendum verlangt haben, das ist europäische Tradition, dass eine Verfassung eigentlich vom Volk erlassen werden muss, oder von einem Parlament, das ad hoc zu diesem Zweck, und nur zu diesem Zweck, gewählt worden ist, damit beauftragt worden. Das ist in Deutschland aus den Gründen der Jahre 1945 fortfolgende etwas anders gelaufen, aber im Übrigen ist das so. Nur, dann muss es eine Verfassung sein, und das, was also den Franzosen und den Niederländern vor einigen Jahren unterbreitet worden ist, ein Konvolut von fast 500 Artikeln, das ist keine Verfassung. Das ist zu lang, das ist zu unübersichtlich, zu unverständlich. Man kann nicht den Bürger um Entscheidung bitten und auf den Hinweis, ich habe es nicht verstanden, antworten, ja das ist nicht so nötig, dass du das verstehst, das geht eben einfach nicht.

    Burchardt: Sind Sie denn vor dem Hintergrund mit dem, was wir jetzt in Europa haben, mit dieser Art von europäischer Gesetzgebung recht einverstanden?

    Herzog: An sich, über die Qualität dieser Gesetzgebung durchaus, da gibt es etwas ganz anderes, man macht zu viel Vorschriften. Wieder genau wie ich vorher für Deutschland gesagt habe, meine Form, ich bin ein überzeugter Europäer, aber also nicht wegen unserer gemeinsamen Kulturgeschichte, oder so, deswegen auch. Das Entscheidende ist, ich schaue mir die Welt an, wie sie ist, und da sehe ich 1,3 Milliarden Chinesen, da sehe ich eine Milliarde Inder, und dann sehe ich, also 300 Millionen Russen und fast 300 Millionen Amerikaner und dergleichen. Und wenn wir alles in Europa zusammenkratzen, was überhaupt zusammenkratzbar ist, kommen wir auf 500 bis 600 Millionen, in einer Phase, wo die anderen aus naheliegenden Gründen immer stärker werden und wir wirtschaftlich immer schwächer. Da brauchen wir ein starkes Europa, da gibt es überhaupt keinen Zweifel, aber ein bürokratisches Europa, das 70.000 Seiten auf den Tisch, mit Vorschriften und Regeln und so weiter, auf den Tisch knallt, wenn Bulgarien, oder sonst irgendetwas der Europäischen Union beitreten kann, ein solches Europa, ist ein schwaches Europa, das verstopft sich selbst.

    Burchardt: Auch wenn wir jetzt den europäischen Aspekt haben, wir sind sozusagen schleichend in ein ganz wesentliches Ereignis während Ihrer Bundespräsidentschaft gekommen, nämlich die sogenannte Ruck-Rede, die Sie im Berliner Adlon Hotel gehalten haben und gesagt haben, mit diesen Strukturen, mit diesem überbordenden Bürokratismus, mit dem wir es hier zu tun haben, können wir nicht weitermachen, es muss ein Ruck durch Deutschland gehen, und es muss tatsächlich so etwas erfolgen, wie eine dynamische Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik. Ist die Agenda 2010 eine für Sie befriedigende Antwort, oder was müsste jetzt noch kommen?

    Herzog: Befriedigend nicht, aber es war ein guter und kraftvoller Schritt in diese Richtung, darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel, und die Frage ist jetzt ausschließlich, wie es weitergehen soll. Mit der Agenda 2010 ist natürlich bei weitem nicht alles geregelt, ich moniere an der Bildungspolitik, dass man wieder nur von Geld redet, dass man also wieder nur von Schulgebäuden und mehr Lehrerstellen und so weiter redet. Kein Mensch hat in den letzten 50 Jahren bei uns ernsthaft darüber diskutiert, was die Schüler in der Schule lernen sollen. Und wie sie es lernen sollen so, dass sie es nicht nur mal für die nächste Schulaufgabe wissen, sondern für den Rest, auch noch beim Verlassen der Schule. Was braucht ein junger Mensch in dieser Zeit, auch da wird er überfüttert. Ich bin der Überzeugung, wir bringen den Kindern so viel in der Schule bei, dass sie sich nichts mehr merken können. Ist jetzt sehr übertrieben formuliert, aber was sollen sie wirklich lernen? So was muss diskutiert werden in einer Zeit, in der man bei jeder Reform sagt, ja für diese Reform ist kein Geld da, soll man halt mit denen beginnen, die kein Geld kosten.

    Burchardt: Ließe sich das zentralistisch organisieren?

    Herzog: Das glaube ich nicht, weil dann wird wieder irgendwo etwas ausgeschnappst, da bin ich schon für die Konkurrenz zwischen den Bayern und den Hamburgern, und den Sachsen und den Nordrhein-Westfalen und so weiter, innerhalb eines gewissen Rahmens.


    Herzog: Ich habe mich in dem Amt wohlgefühlt.

    Der Bundespräsident.

    Burchardt: Herr Professor Herzog, auch wenn hier jetzt der Ex-Kultusminister sehr engagiert spricht, ich möchte doch zum Schluss unserer Unterhaltung noch mal auf Ihre Zeit als Bundespräsident zu sprechen kommen. Ich hatte es eingangs schon erwähnt, Ihre Bewunderung für den Papst damals, welche Position haben Sie eigentlich während dieser Zeit in den 90er-Jahren - bezogen auf die Kirchen in Europa gesehen - insbesondere auch auf die Frage natürlich, im Zusammenhang mit dem Sturz des Sowjetimperiums, bei dem ja genau dieser Papst eine sehr zentrale Rolle über Polen, über die Danziger Werft, über die Solidarnosc gespielt hat.

    Herzog: Ich muss um Verständnis dafür bitten, dass ich jetzt sage, also für dogmatische Geschichten habe ich kein Verständnis. Also gewissermaßen, ob der heilige Geist vom Vater und vom Sohn oder nur vom Sohn oder nur vom Vater ausgeht, entschuldigen Sie, das würde ich als Amtsrichter nicht durch Urteil, sondern durch einen Vergleich regeln. Ganz wichtig ist, dass diese Kirchen immer wieder moralische Autorität ausstrahlen können, das ist wichtig, das braucht eine Gesellschaft, gerade wie die unsere. Aber es kommt noch ein Zweites hinzu, unsere ganze, nicht nur Kultur, sondern unsere Sprechweise, unsere Denkweise, ist entstanden aus bestimmten Vorgängen, die zum Teil schon aus dem römischen Reich kommen, zum Teil aus Israel kommen, die aber über die Kirchen jahrhundertelang transferiert und praktiziert worden sind. Ich glaube nicht, dass wir eine moderne Wissenschaft hätten, wenn es nicht irgendwann einmal eine kirchliche Scholastik gegeben hätte, die dann überwunden worden ist. Aber die eine große Rolle gespielt hat und daraus hat sich für mich immer ergeben, dass eine große Grenze, nicht etwa zwischen protestantisch und katholisch liegt, dass aber die Orthodoxie jahrhundertelang einen ganz anderen Weg gegangen ist. Und das sehen Sie bis in die letzten Tage, in die ukrainischen Wahlen hinein, und solche Dinge konnte man in aller Nüchternheit und Offenheit und im Übrigen auch ohne den Zwang, dann zu einer Conclusio zu kommen, mit dem verstorbenen Papst Johannes Paul besprechen. Deswegen war er ein faszinierender Gesprächspartner, weil er eben den Osten nicht nur von den wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten, sondern auch von den geistigen Gegebenheiten natürlich wesentlich besser gekannt hat, als ein Deutscher das tun kann.

    Burchardt: Ihre Präsidentschaft in diesem Land gilt ja als eine der kontinuierlichen, der ruhigen, der auch nicht-störenden, um es jetzt mal so, auch positiv gewendet zu formulieren. Haben Sie sich wohlgefühlt in einem Amt, das eigentlich zunächst mal qua Grundgesetz keine direkte politische Macht hat?

    Herzog: Die politische Macht habe ich nie angesteuert, ich habe nur immer gesagt und ich bleibe dabei, wenn der Bundespräsident wirklich politische, permanente politische Macht haben soll, dann muss er vom Volk gewählt werden. Wenn er das nicht hat, dann ist es unsinnig, weil, wenn er dann vom Volk gewählt ist, hat er mehr Stimmen hinter sich, als der erfolgreichste Bundeskanzler, und das geht nicht, dass der eine die Macht hat und der andere die demokratische Legitimation. Die Bundeskanzler, alle, wie sie waren, haben zwangsläufig vom Verständnis ihres Amtes her, viele Dinge gemacht, aber sie konnten viele andere nicht machen. Und ich halte das für eine wirkliche Chance, dass man dann eine zweite Charge hat, die dort eingreifen kann. Man kann sagen, der begnügt sich mit dem, was ihm der Bundeskanzler übrig lässt, das ist, so ist die Wirklichkeit nicht. Aber das ist eine ganz wesentliche Dinge, Kanzler müssen mit ihrer Politik meistens polarisieren, der Bundespräsident kann etwas mehr einen, und auf diese Formel kann man es eigentlich bringen. Ich habe mich in dem Amt wohlgefühlt, ich habe es nie angestrebt, aber es hat mir von Anfang an, also schon als Professor, schon als Student, wenn ich mich mit Verfassungsrecht befasst habe, es hat mir immer gut gefallen.

    Burchardt: Gab es Situationen, wo Sie sagten, jetzt muss ich den Helmut Kohl aber mal anrufen?

    Herzog: Ja, natürlich.

    Burchardt: Und haben Sie sich dann auch inhaltlich einigen können, oder haben Sie ... Sind Sie der Ratgeber gewesen? Hat er Sie gefragt?

    Herzog: Das geht nicht, also weder als Verfassungsrichter, noch als Bundeskanzler kann man also, gewissermaßen mit dem Kanzler unter einer Decke stecken, das geht nicht. Aber wir haben ein enges Vertrauensverhältnis aus vielen Zeiten gegangen. Jeder wusste, dass der andere, also jedenfalls nicht aus Bosheit, dem anderen also einen Prügel zwischen die Beine wirft. Wenn ich der Meinung war, ich muss auf das oder jenes hinweisen, was schiefläuft, dann muss der ja nicht meiner Meinung sein, aber er wusste jedenfalls, dass ich das aus Besorgnis für das Gemeindebeste - wie man so schön sagt -, tue. So sind wir gut miteinander ausgekommen.

    Burchardt: Zum Abschluss eine Frage: Wie beurteilen Sie Ihre Rolle in den damaligen Jahren '94 bis '99 in der Welt, wie hat Deutschland, durch Sie repräsentiert, in der Welt dagestanden.

    Herzog: Es war wahrscheinlich diese lockere, unprätentiöse Art, wie übrigens auch Helmut Kohl im Ausland aufgetreten ist. Und das ist immer gut, dass man den Eindruck gibt, das ist nicht nur ein Mann, sondern das ist bei uns so, als wäre es Fullfilling Prophecy gewesen, als ich dann ja bei der deutschen Weltmeisterschaft, Fußballweltmeisterschaft 2006, das ganze deutsche Volk so benommen. Das hat uns ungeheure Aha-Effekte, und zwar positive Aha-Effekte in der Welt verschafft, und ich freue mich, dass ich da dabei war.


    In unserer Reihe Zeitzeugen hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Bundespräsident a. D. Roman Herzog.