"What do you think? How do songs get created?" (John Seabrook)
"Also ich kenne keinen, der singt, produziert und alles schreibt." (Michelle Leonard)
"Viele Leute sind dann oft verdutzt und denken: Ach wie, die schreibt nicht ihre eigenen Songs?"(Keshav Purushotham)
"99 von 100 Leuten, die anfangen mit Musikmachen, denen ist nicht klar, dass man Songs für andere schreiben kann."(Daniel Nitt)
"Es gab immer Performer, also Frank Sinatra oder so, und große Songwriter dahinter, die eher im Hintergrund waren." (Keshav Purushotham)
"Das nimmt einem die Illusion, wenn man dann erfährt: Wie entsteht das in der Popbranche wirklich ganz weit oben? Dass da die Bands wenig Einfluss auf das haben, was sie eigentlich interpretieren." (Phil)
"Ich dachte immer, dass einer den Text schreibt und ein anderer sich ans Klavier setzt und eine Melodie entwirft. Dann wird der Song aufgenommen und produziert. Ich dachte: So läuft es. Aber das ist komplett falsch." (John Seabrook)
Das Popmärchen von Rihanna
"Umbrella" von Rihanna, irgendwie nervt dieser Song doch. "Wenn die Sonne scheint, strahlen wir gemeinsam, wenn nicht, dann komm unter meinen Regenschirm." Und dann dieses "ella", "ella", "ella". Tausend Mal gehört und im Kopf mitgesungen - ohne es wirklich zu wollen. Ein typischer Popsong mit vielen Hip-Hop-Elementen drin. Ein Beispiel für den Pophit neuen Typs. Nicht nur der Sound der Pophits hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – auch die Art, wie sie geschrieben werden. In diesem Corso-Spezial blicken wir in die Pop-Fabriken von heute. Wie werden Hits gemacht? Um das zu beantworten, besuchen wir ein so genanntes Songwriting Camp, blicken in die Geschichte des Song-Schreibens und treffen einige der aktuell gefragtesten Hit-Macher.
Um die Industrie hinter den großen Hits zu verstehen, muss man die Bedeutung einzelner Songs anschauen: Rihannas "Umbrella" verändert vor zehn Jahren ihre Karriere. Ein einziger Song. Und das, obwohl ihr Popmärchen schon 2003 beginnt. Da lebt sie noch als Robyn Fenty auf Barbados, 15 Jahre alt, der Vater Alkoholiker, die Eltern geschieden. Sie spielt kein Instrument, hat noch nie einen Song geschrieben. Aber sie hat einen Traum. Sie will Sängerin auf der ganz großen Bühne werden. Und sie will es mehr als alles andere in der Welt.
Glitzern in den Augen
"Diese Sehnsucht der Popstars ist das, womit sich auch die Fans identifizieren können. Und genau danach suchen die Manager in den Verlagen und Labels, weil sie dieses große Verlangen nicht einfach künstlich produzieren können", schreibt US-Journalist John Seabrook in seinem Buch "The Song Machine – Inside the Hit Factory". Darin berichtet er auch, wie Evan Rogers, ein A&R, also ein Labelmitarbeiter, der sich um Artists, also Künstler und um deren Repertoire, die Songs, kümmert, während eines Urlaubs die junge Robyn Fenty trifft. Er sieht sofort dieses Glitzern in ihren Augen.
Wenig später schleppt er sie zu Labels, unter anderem zu Jay-Z von Def Jam. Auch er sieht dieses gewisse Etwas in ihren Augen. Und ganz langsam beginnt Robyn Fentys Aufstieg als Rihanna. 2005 schreiben Evan Rogers und sein Partner Carl Sturken ihr "Pon de Replay". Aber das Stück ist noch kein Signature-Song, schreibt Seabrook. Also kein Hit, der wie kein anderer für Rihanna als Star steht, der die künstlerische Richtung vorgibt und sie von anderen Sängerinnen unterscheidet. Erst zwei Jahre später wird "Umbrella" Rihannas Signature-Song.
"Umbrella" hat Rihannas gesamte Karriere verändert
Im großen Popgeschäft geht es um die Hits und Hooks. Rihannas "Umbrella" hat ihre gesamte Karriere verändert: Zehn Wochen auf Platz eins in Großbritannien, sieben Wochen in den USA. Ein Grammy, zwei MTV-Video-Music-Awards und weitere Preise. Aber wie kam der Song zu ihr?
John Seabrook: "Viele Hits werden heute in Songwriting Camps geschrieben. Und die funktionieren so: Ein Musikverlag lädt Komponisten und Produzenten ein und steckt sie ab zehn Uhr morgens in verschiedenen Teams in verschiedene Studios. Der Künstler läuft eher von Studio zu Studio, verbreitet ein bisschen magische Stimmung, hört sich an, wie es vorangeht und steuert vielleicht hier und da mal etwas bei."
Bei "Umbrella" hat Rihanna nicht mitgeschrieben. Den Job haben andere für sie erledigt.
Zu Besuch im Songwriting Camp der Band Wunderwelt
Klaus: "Wir sind auf einem Songwriting Camp und hier sollen neue Songs entstehen."
Ein Wochenende in München. In einer Tiefgarage, in der Nähe der Isar, liegt das Studio von Sepp Music. In den zwei Räumen mit Gitarren, Keyboards, Synthesizern, großen Boxen und Laptops sollen Songs geschrieben werden. Bevor es losgeht, quetschen sich die elf Teilnehmer in einen kleinen Aufenthaltsraum mit einer roten Couch und einer kleinen Küche. Nick, einer der beiden Studiobesitzer, drei Produzenten, drei Songschreiber, ein Manager und seine erfolgversprechende vierköpfige Band: Wunderwelt.
Erster Auftritt war ein Bandcontest
Klaus: "Uns gibt es noch gar nicht so lange, wir haben uns zusammen geschlossen, Phil und ich ursprünglich." In Schwabmünchen, einem kleinen Ort zwischen München und Ulm. Da kommen alle Bandmitglieder her. "Wir dachten: Nee, wir wollen jetzt mal elektronische Musik machen. Haben uns Geräte gekauft, von denen wir keine Ahnung hatten, haben einfach mal angefangen und haben Melissa gefragt, die ist dann mit eingestiegen. Und unser erster Auftritt war ein Bandcontest, wo wir gleich ins Finale gekommen sind, und mit dem zweiten haben wir das Ding gerockt, sind 'Band des Jahres' geworden. Das war unser erster Step."
Der zweite war dann dieser eine Song mit dem Video, in dem die hübsche Melissa - blond, große Augen, tolle Lippen - durch die Nacht geistert. Sie hat dieses gewisse Etwas – bildhübsch, eine klare und warme Stimme. "Wir haben ein Video hochgestellt und eine Stunde nachdem wir es hochgestellt hatten, war der erste Verlag am Telefon. Wir konnten das gar nicht so richtig glauben."
Der Song "Freiheit ist Gold" klingt zeitgeistig, ein bisschen wie Frida Gold. Frech, elektronisch, tanzbar, gut gelaunt. Das passt, fand der Musikverlag Universal, und hat das Songwriting Camp für Wunderwelt organisiert.
Klaus: "Man hat uns gefragt: Hättet ihr damit ein Problem, dass man hier Songs entstehen lässt in so Sessions? Wir haben uns da schon offen gezeigt, haben gesagt: Klar. Also auch uns hat es weiter gebracht." Ein paar Sessions, auf denen Songs für sie und mit ihnen geschrieben wurden, hat die Band schon hinter sich. Und musste sich erstmal an dieses Prozedere gewöhnen: "Das fühlt sich dann schon erstmal komisch an für jemanden, der sonst eigentlich alles selber macht."
Phil: "Plan ist ja jetzt für die EP, die kommen soll - fünf Tracks kommen darauf... und heute ist geplant, wenn möglich, Songs zu schreiben, die auf die EP kommen. Und wenn ein Album kommt, dann vielleicht auf das Album sogar. Das ist für heute der Plan."
Bevor es losgeht, informiert der Manager die Songwriter, Produzenten und die Band, wie die vier Songs klingen sollen, die an diesem Wochenende geschrieben werden. "Zum Beispiel mehr Songs nach vorne, die werden noch mehr gebraucht, vor allem für das Album später", sagt Björn, einer der drei Produzenten. Auch er will anonym bleiben und nennt vor dem Mikrofon nur seinen Vornamen. "Hier und da noch ein paar Referenzen, die sonst noch gar nicht bekannt sind. Weil: Häufig wird sich an Radiosachen orientiert, häufig aber auch gerade nicht, damit nicht alles gleich klingt. Man muss was Neues schaffen, was die Leute nicht abschreckt, das ist das Schwierige an der Popmusik"
Ganz so, wie Pop-Journalist John Seabrook es in der US-amerikanische Szene beschreibt, scheint es bei den deutschen Songwriting Camps nicht zuzugehen. Aber das Ziel ist das gleiche: einen Titel an einem Tag schreiben. Hits wie am Fließband.
Die Rädchen in der Pop-Fabrik: Keshav, Nitt und RedZone Entertainment
Keshav Purushotham ist Musiker aus Köln. Er ist Sänger der Indieband Timid Tiger und hat im letzten Jahr sein Soloalbum als Keshavara herausgebracht, mit vielen tanzbaren Grooves und elektronischen Spielereien. Als Songschreiber hat er schon Beats für die Rapper Casper und Haftbefehl produziert. Auch Keshav ist ein Rädchen in der Pop-Fabrik: "Das erste war ein Camp, veranstaltet von Warner Chapell in den Studios von Xavier Naidoo in Mannheim."
Diese Camps gibt es schon seit Jahren: "Man kommt an, trifft sich, alle kommen rein. Dann stellt man sich vor, merkt, da sind Leute aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Dann werden so Gruppen eingeteilt, dann gibt es eine Liste mit Songs, die gesucht werden, da war das nicht nur für einen Künstler oder eine Band, sondern verschiedene Sachen. Dann wurden vier Gruppen aufgeteilt und dann geht es los, dann ist es wie in einer Fabrik. Da wird dann gearbeitet und am Ende des Tages soll schon ein Ergebnis da sein." Das Ganze ist halb geheim, halb öffentlich. "Ich überlege gerade, ob ich das sagen darf, fällt mir grade ein."
"Das sind geheime Sachen"
Keshavs aktuelle Anfrage: Eine bekannte deutsche Sängerin sucht Songs für ihr kommendes Album. "Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich das nicht sagen darf. Das ist ja ziemliche Negativwerbung. Das sind ja geheime Sachen, dann wird das ja vermarktet als eigene Idee, ist ja klar." Ihr Verlag wünscht sich Titel im Stil ihrer bekannten Hits. Gerne dürfen aber auch folgende Einflüsse dabei sein: "Chainsmokers 'Closer', 'Shake it off', Taylor Swift, 'Female Power' steht dann da. 'Keine Balladen'.”
"Das läuft so: Der Verlag, wenn er ein großer ist, hat er überall auf der Welt viele Dependancen und die spielen sich untereinander Briefings zu", also die Info, welcher Künstler gerade Songs sucht, erzählt Daniel Nitt. Er hat an der Popakademie in Mannheim studiert und schreibt heute vor allem für und mit Mark Forster. "Der US-amerikanische Ableger von BMG sagt: 'Die Rihanna', die von dir schon viel zitierte, 'die sucht neue Songs. Wer auch immer auf der Welt Bock hat, was zu machen: Sie wünscht sich ungefähr die und die und die Richtung. So könnte das sein.' Dann kann man da Sachen hinschicken, die schicken die weiter nach Amerika. Und mit ganz, ganz viel Glück landet der tatsächlich bei Rihanna. Im echten Leben ist das so, dass da auf anonymen Wege über den halben Globus dahin flattert, das kommt hin und wieder vor, das ist aber hammerselten."
Zwei Stunden, fertig
Heute kann sich Rihanna aussuchen, wer ihre Songs schreibt. Das liegt vor allem an "Umbrella". Dass dieser Song so erfolgreich wird, war tatsächlich nicht abzusehen. Er entstand nicht nach einem erfolgsversprechenden Schema F, glaubt man den Recherchen von John Seabrook:
"Dieser Titel ist ein typisches Beispiel dafür, wie Songs heute geschrieben werden. Die Jungs von RedZone Entertainment haben einfach ein bisschen mit ein paar Samples und Rhythmen aus ihrem Musikprogramm herumgespielt. Dann kam noch die Hi-Hat dazu. Später trat ein anderer Typ ins Studio und hat einfach mal Keyboard dazu gespielt. Und dann war da noch dieser dritte: Der hörte es und irgendwie kam das Wort Umbrella in seinen Kopf. So entstand der Song: total spontan und ungeplant."
Zwei Stunden, fertig. Das Produzententeam von RedZone Entertainment - Terius "The Dream" Nash, Christopher "Tricky" Stewart, Thaddis "Kuk" Harrell - wusste in dem Moment nicht, dass hier gerade ein Mega-Hit entstanden ist. Niemand wisse das sofort, schreibt Seabrook. US-Produzent Tricky Stewart hat ihm erzählt: Ein Hit ist eben ein Hit. Aber einen Smash-Hit, so wie "Umbrella", der zehn Wochen am Stück in den Top Ten in England und sieben Wochen in den Top Ten der Billboard Charts steht, den kann niemand vorraussagen.
"Die Produzenten wollten natürlich, dass ein bereits etablierter Star den Titel zum Hit macht. So macht man als Songwriter Geld. Sie hatten sich Mary J. Blidge und Britney Spears als Sängerin gewünscht. Doch Rihanna war 2007 noch nicht der Star, der sie heute ist. Aber als sie und ihr Team den Song hörten, war ihnen klar: Dieses Stück wird sie zum Star machen. Und dann riefen sie fast täglich bei den Produzenten an, um den Titel "Umbrella" zu bekommen. Das ist ein Aspekt des Musikbusiness‘, den kaum jemand kennt, aber der total wichtig ist. Wie kommst du an den Song, der dich zum Superstar macht? Rihanna ist das gelungen, weil sie Jay-Z und andere einflussreiche Leute hinter sich hatte."
Komponieren mit dem Smartphone: Im Produktionsstudio von Sepp Music
"Da kann man was an der Drumroll machen, oder so eine Snare.”
Das Songwriting Camp im Münchener Studio von Sepp Music ist mittlerweile ein gutes Stück weiter. In einem der zwei Studios, in denen parallel an neuen Wunderwelt-Titeln gebastelt wird, ist der halbe Song schon fertig. Es gibt eine Grundidee, worum sich der Text drehen soll.
Florian: "Es geht um eine Frau, die sich nichts sagen lassen will und ihr Leben genießen will."
Eine ähnliche Geschichte übrigens, wie im Stück "Freiheit ist Gold", der Single, wegen der die Verlage und Labels bei der Band angerufen haben. "Und da ein bisschen von ihrem Freund ausgebremst wird und ihm dann die Meinung geigt", sagt Florian, er ist Miteigentümer des Studios Sepp Music. Seine kleine Pop-Fabrik arbeitet mit dem Verlag Universal zusammen: "Wir haben ein gemeinsames Ziel, viele Songs zu schreiben und kommerziell zu verwerten. Deswegen sind wir jede Woche dabei, was zu schreiben."
Wer braucht schon Papier oder E-Mail?
Autorin: "Kannst du sagen, für wen schreibt ihr?"
Florian: "Für Gott und die Welt. Also, wir probieren erstmal alles. Sei es deutschsprachig, auch englischsprachig."
Autorin: "Wo hapert es gerade?"
Florian: "Wir sind in der zweiten Strophe und texten. Das ist ein Prozess."
Studiobesitzer Florian steht in einem der zwei Produktionsräume. Er hält sein Smartphone in der Hand und tippt gemeinsam mit Songschreiber Sebastian auf dem kleinen Bildschirm herum: Satzfragmente löschen, hinzufügen, ändern - und wieder von vorne: "Ich will blaue Augen, Augenringe, naja, das ist nicht sexy." Jede neue Version schicken sich die zwei Songschreiber und Produzent Björn gegenseitig in einer WhatsApp-Gruppe. Wer braucht schon Papier oder E-Mail?
Florian: "Es muss ja charmant bleiben, weil es für ein Mädel ist, für einen Typen würde ich das genau so machen. Kippenstummelhusten."
Autorin: "Frauen rauchen nicht, deshalb?"
Florian: "Nee, aber ist ja trotzdem eine schöne Frau."
Denn die Frau im Pop hat eine Rolle. Sie schreibt hier keine Songs, sondern dient als Projektionsfläche. Florian und sein Kollege Sebastian suchen nach Worten, die ihre Idee einer selbstbewussten, unabhängigen Frau mit verschiedenen Bildern beschreiben. Nicht zu derbe, nicht zu süß.
Sex sells
Sebastian: "Ein bisschen Sex-Appeal sollte rein."
Florian: "Sex sells."
"Produzieren ist gerade nicht wirklich gefragt", sagt Björn, der Produzent - beziehungsweise der so genannte Tracker -, der ständig am Rechner klebt und sehr schnell zeitgemäße Beats heraushaut. Selber vorne stehen? Lieber nicht. Wenn man seinen vollständigen Namen googelt, findet man nichts über ihn. Zum Glück, sagt er. Er will unerkannt bleiben und lieber in der Masse untergehen.
Björn ist seit einem Jahr im Songwriter-Business und hat gut 100 Songs geschrieben: "Nee, nee, nicht alle veröffentlicht, einfach nur Songs aus Sessions quasi. Es ist nur ein Bruchteil von dem, was geschrieben wird. Ich würde sagen: 70 Prozent von allem wandert immer in den Papierkorb." Zu den bekannteren Musikern, die zu seinen Beats singen, gehören Schlagerstar Micky Krause und der Gewinner der Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" Piedro mit seiner Sarah. "Ganz ehrlich, vor allem auch wenn man selber beteiligt ist: Jeder Song wächst einem ans Herz, auch wenn es Micky Krause ist. Ich mag alles sehr gerne, ich bin da nicht vor irgendwelchen Genres abgeschreckt."
Sebastian: "Willst du noch eine Drumroll machen?" Die Musiker von Wunderwelt kommen aus einem anderen Studio dazu.
Florian: "Mal gucken, ob die das alles so nehmen. Kann ja sein: Die Line gefällt mir nicht, da gefällt mir die Melodie nicht oder mir gefällt die ganze Aussage nicht."
Björn: "Also die Grundidee, erstmal ganz kurz, klingt von den Akkorden sehr stupide: Wer ist hier die Pussy?"
Klaus: "Geil."
WhatsApp statt Notenblätter
Der Bassist Phil und Keyboard- und Synthesizer-Spieler Klaus von Wunderwelt finden den Song mit dem Arbeitstitel "Pussy" super. Aber Sängerin Melissa hat ihn noch nicht gehört. Sie muss ihn später auf der Bühne performen. Wenn er ihr gar nicht gefällt, war vielleicht alles umsonst. Songschreiber Florian hat die Melodie mit dem Smartphone aufgenommen und spielt sie Klaus und Phil von der Band vor.
Björn: "Wir hatten uns nur gegenseitig in die WhatsApp-Gruppe aufgenommen, damit wir das alle auf dem Handy haben, genau für den Fall, dass wir die Melodie vergessen. So wie es jetzt auch gerade war." Popsongs wie diese werden nicht wie früher auf Notenblättern notiert. Ideen für die Melodie werden heutzutage schnell ins Handy gesummt, mit anderen zur Abstimmung per Whatsapp geteilt und später im Studio einfach direkt produziert. Björns Kollege Florian ist der Topliner. Das ist: "Quasi die Gesangsmelodie. Es gibt Leute, die nur toplinen, die schreiben Gesangsmelodie, Vers."
Die Topline wird auch Hook genannt. "Was ja oft den ganzen Song ausmacht. Eine gute Topline ist sehr, sehr wichtig. Hook ist einfach der Refrain. Das muss der Haken sein, wo man sagt: Hab' dich!"
"The Hook is everything!"
John Seabrook: "In vielen dieser Songs geht’s um nichts Spezielles. Vielmehr werden so viele musikalische Ideen und Hooks wie möglich in ein einzelnes Stück gepackt. Ein Song ist sozusagen ein Best-of aus mehreren Songs."
Was eine gute Hookline ist, kann man vor allem in Rihannas Track "Rude Boy" hören, meint Seabrook. Es ist ein Song, der im Grunde nur aus Hooks besteht. So versuchen die Produktionen des 21. Jahrhunderts aus der übersättigten Medienwelt herauszustechen: "Aufmerksamkeit ist ein rares Gut. Fernsehen, Radio, das Internet – sie buhlen alle um unsere Aufmerksamkeit mit Bildern, Wörtern. Und die Popmusik macht dies mit Hooks. Unser Gehirn merkt sich beim zweiten, dritten Hören, wie die Melodie verläuft, und dann wollen wir das Stück noch einmal hören. Es ist fast, als spräche so ein Popsong das Unterbewusstsein an, um die Aufmerksamkeit zu bekommen."
Standardrezept: Das Track’n’Hook-Verfahren
Obwohl die Hook im Zentrum steht, entsteht sie selten zuerst, sagt John Seabrook. "Alles beginnt mit der Produktion, also dem elektronischen Track. Er ist quasi das Instrument und wird am Computer generiert. Da sind keine Musiker im Raum. Ich habe noch nie einen Musiker an einem Instrument gesehen."
Er nennt es das Track’n’Hook-Verfahren. Erst kommt der elektronische Track und dann die Melodie, beziehungsweise die Hook: "Die Topliner gehen ins Studio, hören sich den vorher produzierten elektronischen Track an und dann entwicklen sie einen Hook, also eine kleine Melodie oder so. Und erst ganz zum Schluss kommt der Text. Das alles wird an den Künstler geschickt, der bisher noch nichts zu diesem Song beigesteuert hat, weil er vielleicht gerade eh auf Tour ist - denn mit den Touren verdienen Musiker heute hauptsächlich ihr Geld. Und am Ende nimmt eine Rihanna in einem mobilen Studio in ihrem Tourbus ihren Gesang auf – um drei Uhr morgens auf einem Parkplatz, der nach Pisse stinkt."
Wie viel Input von einer Toplinerin in so einem Rihanna-Song steckt, kann man im Netz entdecken. Dort ist die Demo-Version von Ester Dean zu finden. Sie hat die Topline für "Rude Boy" erfunden. Im direkten Vergleich klingt sie fast wie Rihanna selbst.
Dieses Track’n’Hook-Verfahren ist Standard im US-Popbusiness und seiner Songwriterhauptstadt Los Angeles. "Ich komme ja gerade aus L.A., in einem großen Studio, wo ich war, da kam fast der gleiche Beat aus allen Studios", erzählt Michelle Leonard. Sie ist seit Jahren Songwriterin, das wollte sie schon mit 13 werden. Sie ist eine der wenigen Frauen in dem Fach. "Das sind Beats, gerade wenn man sich die Radiolandschaft in L.A. reinzieht, die sehr sehr trackdriven sind. Das heißt: da geht es um Beats. Da geht es um dopste Sounds. Ja, das sind richtige Soundnerds. Drake und wie sie alle heißen. Das sind richtige Engineers. Das ist mittlerweile auch eine ganz andere Skizzierung der Wörter. Die werden eher als Rhythmusinstrument benutzt."
Im deutschsprachigen Pop singen erfolgreiche Künstler wie Tim Bendzko, Andreas Bourani und Frida Gold pathetisch über Liebe und das Leben und stellen vermeintlich die Texte in den Vordergrund. Eine der wenigen Ausnahmen: Die österreichische Band Bilderbuch. Sie tut gar nicht mehr so, als würde sie eine Geschichte erzählen - und macht es damit wie die Amerikaner.
Wie lässig Sänger Maurice Ernst sperrige Begriffe wie Strom und Lader im Song "Bungalow" über die Lippen bringt, zeigt genau, was Michelle meint: Die Wörter sind bloßer Rhythmus. Und worüber die Band da singt – wen interessiert das schon? Ein Prinzip, das ein Mann etabliert hat, der die westliche Popmusik geprägt hat, wie kein anderer. Und den den trotzdem kaum einer kennt.
Großes Vorbild: Bilderbuch
Sebastian: "Wir müssen echt aufpassen, dass wir nicht in dieses Bilderbuch-Ding reinrutschen."
Björn und Florian feilen weiter an dem derben Elektro-Track "Pussy" für Wunderwelt. Und nebenan, im zweiten Aufnahmeraum, geht es wieder von vorne los.
Klaus: "Also, wo könnten wir hin? Wollen wir anfangen mit dieser ‚Papa hat gesagt’-Geschichte, alle wirken auf dich von außen ein, du machst die Schule fertig. Vielleicht wirklich in der Mainaussage so in die Richtung: ‚Ich bin ein Punk’."
Sängerin Melissa und Klaus sitzen mit Songschreiber Sebastian und Produzent Michael im Stuhlkreis im Studio. Hinter ihnen Gitarren, ein Schlagzeug und Laptops. Gemeinsam suchen sie erst einmal ein Thema.
Sebastian: "Ist mir momentan noch ein bisschen zu plump, aber ihr seid die Chefs. Ihr müsst sagen, wo es lang geht. Sprite, Coke im Kühlschrank - vielleicht gehen wir auf so Markennamen. Ich persönliche habe mal Bock, auf einen anderen Rhythmus zu gehen, das ist sonst immer dieses Disko-Ding." Sebastian hat noch einen Beat auf seinem Computer, den könne man ja verwenden: "Wir können uns ja auch lustig machen über die Umbenennung von 'Capri Sonne' in 'Capri Sun'. Es ist sehr bilderbuchmäßig, aber gut."
Klaus: "Stimmt schon."
Autorin: "Ist jetzt die Herausforderung: Bilderbuch findet ihr cool, aber man darf natürlich nicht so klingen?"
Klaus: "Genau, Bilderbuch ist sehr geil."
Sebastian: "Wenn man das zu sehr versucht zu imitieren, wird es auch sehr schnell peinlich, die machen das seit zehn Jahren und sind sehr gut in diesem absurden Textding."
Nach und nach entsteht der Song. Was nun zuerst da war – Melodie, Text, der elektronische Track? Schwer zu sagen.
Sebastian: "Ich weiß auch nicht. Grill meinen Body? So ein Bullshit."
Die Urväter des modernen Pop: Max Martin und Denniz PoP
Es gibt den einen Songwriter, der den Pop so sehr geprägt hat, wie vermutlich kein anderer. Und der den Bullshit etabliert hat, mehr dem Klang der Wörter zu lauschen, als der Bedeutung. Max Martin.
In den frühen 90er Jahren hieß er noch Martin Sandbergh. Er wird in Uppland in Schweden geboren. Sein Vater ist Polizist, die Mutter Lehrerin. Mit Anfang 20 trägt Max Martin lange Haare und ist Sänger einer Metalband. Aber er hat eine Leidenschaft, die er nicht mit seinen Bandkollegen teilen kann: Popmusik. Mit Texten, die keinen Sinn machen, aber mit Beats, die sich im Ohr festsetzen, wird er zu einem der gefragtesten und erfolgreichsten Songwriter der Welt.
Der Beginn des Cheiron Beats
John Seabrook: "Er mischt Wörter so mit der Melodie, dass es perfekt passt. Das beste Beispiel ist wohl sein erster Nummer-Eins-Song 'Hit me Baby (One More Time)' von Britney Spears. Die Zeile ist einfach Quatsch, es müsste heißen: hit me up one more time. Als der Song rauskam, wusste niemand, was das heißen soll. Aber das war egal. Es machte ihn als Hit sogar noch attraktiver." Sein Prinzip hat sich in der Songschreiberhauptstadt L.A. durchgesetzt.
Die Geschichte von Max Martin ist damit typisch für viele große Songwriter: Auch Denniz PoP, ein schwedischer DJ, entdeckt Anfang der 90er Jahre das Songschreiben und produzieren für sich. Er drückt dem Pop der damaligen Zeit einen eigenen, neuen Stempel auf.
John Seabrook: "Das war der Beginn einer elektronischen Musik, die so klang, als wäre sie mit Instrumenten gespielt, und die Reggae-Elemente aufgegriffen hat. Das war ganz anders, als die elektronische Musik der 80er Jahre. Und sie war ganz speziell produziert: Denniz PoP lässt eher weg, als dass er Soundelemente hinzufügt. Das war der Beginn des so genannten Cheiron Beats."
Benannt nach den Cheiron Studios, die Denniz Pop in Stockholm gründet und wo er unter anderem die ersten Nummer-eins-Hits der schwedischen Popband Ace of Base schreibt. Denniz Pop sucht weitere Songschreiber und trifft dabei auf Max Martin - sie schließen sich zusammen zu einem Team, und ihr Cheiron Beat wird für die nächsten Jahre den Mainstream-Pop beeinflussen. Backstreet Boys, N’Sync, Westlife, Britney Spears stehen Schlange.
John Seabrook: "All diese Bands hatten diesen speziellen Beat. Der Cheiron Beat prägte den internationalen Pop fast zehn Jahre lang – mit der typischen Snare-Drum, dem Hi-Hat. Es war Musik für Leute, die Rock und Grunge von Nirvana nicht mochten und sich viel mehr an die gute alte Zeit von Abba erinnerten."
Denniz PoP stirbt an Krebs
Als die beiden Schweden die Popwelt mehrere Jahre lang fest im Griff haben, wird Denniz PoP plötzlich krank. Er stirbt 1997 an Krebs. Max Martin übernimmt die Leitung der Cheiron Studios. Im Jahr 2000 beschließt er, das Studio in Stockholm zu schließen. Auf der Homepage schreibt Martin, dass sie lieber jetzt, wo sie noch Erfolg haben, aufhören wollen. Es ist wohl der richtige Moment, denn genau zu dieser Zeit entsteht mit Protagonisten wie Pharrell Williams ein Sound im Mainstream, der mehr von Hip-Hop und R’n’B beeinflusst ist.
Fast scheint es, als würde es Max Martin so ergehen, wie vielen erfolgreichen Songwritern: Sechs oder sieben Jahre sind sie erfolgreich, bis der nächste große Trend von neuen, jüngeren Produzenten getragen wird. Doch glücklicherweise kreuzen sich seine Wege mit der US-Sängerin Kelly Clarkson. Max Martin schreibt für sie den Song "Since U been gone" - und ist 2004 wieder ganz vorne dabei. Der Titel erreicht Platz zwei der US-amerikanischen Charts. Clarkson gewinnt den Grammy in der Kategorie "Beste weibliche Pop-Gesangsdarbietung".
Max Martin ist die graue Eminenz des Chart-Pop. Er kennt als Songwriter seinen Platz, sagt US-Journalist John Seabrook. Auf der Bühne strahlen und tausende Fans charmant um den Finger wickeln, wie Kelly Clarkson es schafft – das kann nicht jeder. Max Martin bleibt deshalb im Hintergrund, gibt so gut wie keine Interviews. Die Künstler stehen bei ihm Schlange: Er schreibt für und mit Kelis, James Blunt, Leona Lewis, Usher, Pink, Robyn, Avril Lavigne, Nicki Minaj, Maroon 5, Justin Timberlake, Justin Bieber, Taylor Swift, Pitbull, Adele, Ariana Grande, Flo Rida, Selena Gomez und Katy Perry.
Taylor Swift: Shake It Off als YouTube-Video
Eine imposante Liste, die Max Martin seit den späten 1990er Jahren gefüllt hat. Aber was heißt es für die Popmusik, wenn ein Mann den Sound über so viele Jahre prägt? Viele seiner Stücke klingen tatsächlich wie der Lexikoneintrag zu dem typischen Popsong - viel zu hohe Frauenstimmen, viel zu eingängig. Aber klingt Adele deshalb wie Taylor Swift? So austauschbar und gleichförmig die großen Pophits auch sein mögen: Zwischen Adele und Taylor Swift liegen Soundwelten - die eine puristischer, die andere pompöser. Ein Songschreiber wie Max Martin weiß, was zu bestimmten Künstlern und Künstlerinnen passt. Er scheint mit ihnen an der Künstleridentität zu feilen. Nur mit einer hat Max Martin noch nicht geschrieben: Rihanna.
Ein Twist für Wunderwelt
In den Produktionsstudios von Sepp Music in München warten die Songschreiber Sebastian, Florian und Produzent Björn auf das Feedback des Managers - der anonym bleiben will. Obwohl die Teilnehmer des Camps stets betonen, dass die Band Wunderwelt am Ende entscheidet, welche Songs gut sind und auf die EP kommen sollen, wirkt es manchmal so, als sei der Manager der eigentliche Entscheider. Er ist eigentlich auch Songschreiber und nur durch einen Zufall darein gerutscht, die Newcomer-Band Wunderwelt zu managen.
Während die Türen der Studios geschlossen sind, sitzt er in einem kleinen Aufenthaltsraum auf einer roten Ledercouch. Mit dem Laptop auf dem Schoß und der Wolldecke über den Beinen klickt er sich durch Youtube, sucht nach den Videos mit Millionenaufrufen - und wundert sich: So einen Song hat er doch auch schon vor sechs Jahren geschrieben? Kurze Suche in der eigenen Bibliothek und dann präsentiert er ihn: einen Song, den er für Helene Fischer geschrieben hat – der darf jetzt aber natürlich auf keinen Fall im Radio zu hören sein. Ist ja auch noch gar nicht klar, ob er genommen wird.
Dann Laptop zu, Studiotür auf, mal reinhören, wie weit die Produktion der Wunderwelt-Songs inzwischen fortgeschritten ist.
Manager: "Ich vermisse da so den Twist harmonisch im Refrain."
Der Manager und Songschreiber fügt im Refrain noch seinen Twist ein. Seine kleinen Änderungen verbessern den Titel. Es wirkt zwar seltsam, wenn so viele verschiedene Komponisten und Produzenten den Song verändern – aber in diesem Fall macht es das Stück reizvoller. Schließlich sind die wenigsten Stars so talentiert wie Lenny Kravitz oder Prince, die alles komplett alleine gemacht haben.
Autorin: "Würdest Du jetzt in den Credits auftauchen, weil du mal Hand angelegt hast?"
Fabian: "Schwere Frage, normalerweise nicht."
Björn: "Natürlich."
Credits bedeuten Geld
Credits heißt: Wer taucht in der Komponisten-Zeile auf und wird an den Tantiemen beteiligt? Bei Rihannas Titel "Work" stehen in der Credit-Zeile sieben Namen. Als Rihanna vor zehn Jahren mit "Umbrella" zum Weltstar wird, steht sie selbst noch nicht als Komponistin in der Songliste. Bei ihrem späteren Hit "Work" ist das anders:
John Seabrook: "Rihanna selbst steht in den Credits, weil sie mittlerweile mehr Macht hat. Es gibt einen alten Spruch im Songwriter-Business: 'Verändere ein Wort und du bekommst ein Drittel der Tantieme.' So gehen Künstler vor, die auch etwas von dem Kuchen abhaben wollen. Denn in den Credits steckt das Geld. Früher, als die Leute noch CDs gekauft haben, da ließ sich auch viel Geld mit der konkreten Aufnahme verdienen. Im Zeitalter des Musikstreamings geht es stärker darum, an der Veröffentlichung beteiligt zu sein und damit Geld zu machen. Aber ob Rihanna wirklich an "Work" mitgeschrieben hat? Ich weiß nicht."
Das Genre – fast schon egal
Anders als in den USA ist in Deutschland die Liste der beteiligten Komponisten in der Regel nicht so lang. Eine der Ausnahmen ist etwa der Song "80 Millionen" von Max Giesinger. Unter den vier verzeichneten Komponisten des Stücks steht der Name von Martin Fliegenschmidt. Er hat seine eigene Band Parka. Aber seit mehreren Jahren schreibt Fliegenschmidt auch Songs für andere Künstler. Er ist einer von gar nicht so vielen in ganz Deutschland: "Die Blase von deutschen Songwritern im Bereich von Pop - und zwar im weitesten Sinne von Pop - das kann von etwas jazzig, soulig angehaucht über rockig bis zu Urban oder Hiphop.... diese Blase von Songschreibern ist nicht so groß in Deutschland. Also von denen, die wirklich viel machen. Das sind, weiß nicht, vielleicht 50 oder so. Aber die meisten kennen sich."
Das Genre – fast schon egal. Songschreiber wie Martin Fliegenschmidt sind flexibel und können sich dem künstlerischen Stil von Max Giesinger, Wincent Weiss oder Joy Denalane anpassen. Ein junger Musiker, der in einer deutschen Indieband spielt, die einen kleinen Hype im letzten Jahr feierte, liefert für andere Künstler Chartpop, Dance-Pop und sogar Schlager-Nummern. Alles unter einem Pseudonym, schreibt er in einer Mailanfrage. Ein Interview möchte er lieber nicht geben. Schließlich will er nicht als neuer Ralph Siegel abgestempelt werden, sondern seine Glaubwürdigkeit als Künstler einer Indie-Band behalten.
Denn ein bisschen beliebig wirkt es tatsächlich, dass Songschreiber so viele verschiedene Genres einfach nur bedienen. Auch Keshav sagt: "Ich hab schon Musik geschrieben für ganz schlechte Jugendfilme mit den Ochsenknecht-Söhnen, da hieß es wirklich - also nicht wortwörtlich - aber es sollte so wie Linkin’ Park klingen. Aber nicht ganz so gut. Und das habe ich dann gemacht, weil ich Geld brauchte, da habe ich mir ein Pseudonym ausgesucht. Weil mir das wirklich ein bisschen unangenehm gewesen wäre." Wer will schon als Komponist einer billigen Linkin’-Park-Kopie in die Geschichte eingehen?
Indie-Musik ist immer noch eine Alternative zur Pop-Fabrik, in der ein Künstler von anderen Songschreibern unterstützt wird oder einfach nur die Songs einsingt, die andere ihm vorlegen. Künstler wie Bilderbuch und Keshav schreiben ihre Songs alleine. Oder Cologne Tape.
Das Gegenmodell: Improvisieren mit Cologne Tape wie zu Krautrock-Zeiten
Von den Aufnahmeräumen in München geht es nach Köln. Neben der Mainstream-Dance-Disko "Bootshaus" am Mülheimer Hafen arbeiten Jens-Uwe Bayer und Daniel Ansorge alias Barnt - zwei Produzenten und DJs aus der elektronische Tanzmusik. Normalerweise produzieren sie ihre Tracks alleine am Rechner. Doch mit dem Musikerkollektiv Cologne Tape gehen sie komplett andere Wege: Die Aufnahmen für die neue Platte von Cologne Tape entstehen in einer klassischen Jam-Session:
Autorin: "Wie habt ihr denn angefangen?"
Barnt: "Man freut sich, dass man einen Termin findet, geht ins Studio und dann setzt man sich tatsächlich hin und jeder sucht sich ein Instrument aus."
Kein Ziel vor Augen
Mit sieben weiteren Musikern - unter anderem Philipp Janzen von der Kölner Band Von Spar, John Stanier von der US-Gruppe Battles und Michaela Dippel, die als Ada elektronische Musik produziert - bilden sie eine Art Supergroup.
Barnt: "So wie jetzt gerade. Jens-Uwe fängt ja schon an und spielt Gitarre. Wenn wir zu neunt wären - wir sind ja jetzt nur zu zweit - dann würde wahrscheinlich sofort einer anfangen, Klavier zu spielen. Ich spiele jetzt mal ein bisschen Synthesizer dazu, was mir gerade einfällt dazu. Dieser Steinway und Vibraphon."
Sie improvisieren. Vier Tage lang. Es ist im Grunde gar nicht so anders als ein Songwriting Camp, sie haben sich auch in ein Studio verkrochen und einfach drauf los musiziert. Und improvisiert. Aber der wesentliche Unterschied ist, dass sie kein Ziel vor Augen haben und nicht versuchen, möglichst viele Hooks in einen Song zu pressen. Das macht manche Popsongs tatsächlich spannend und aufregend – aber auch anstrengend. Die acht Titel auf ihrem Album "Welt", das Ende März 2017 erschienen ist, klingen teilweise nach Krautrock der 70er Jahre, verglichen mit einem Rihanna-Song: langatmig. Marke: Conny Plank. Ein LSD-Hippie-Traum, der sich repetitiv weiter dreht, ohne sich groß zu verändern - genau dadurch reizvoll, als Gegenpol zur rasanten Welt.
"So kommt das nicht in die Charts"
Barnt: "Die Zeit kann sich unglaublich dehnen bei diesen Treffen, und wenn man sich mit einem Popohr das Ganze anhört, dann hört sich das alles viel zu lang an. Unser Album... die hören sich für Popkompositeure zu lang an. Die würden sagen: ‚Oh, das ist acht Minuten. So kommt das nicht in die Charts.’ Für uns hört sich das am Ende kurz an, weil das mal 30 Minuten lang war. Und wir mussen dann entscheiden, wie können wir diese 30 Minuten auf acht Minuten verdichten, weil: acht Minuten ist ok. Auf drei Minuten wollen wir aber nicht gehen."
Jens-Uwe Bayer und Barnt haben nichts gegen den großen Pop, sagen sie. Ihr eigener Ansatz wirkt aber dennoch wie ein gewolltes Konzept gegen glattpolierte Mainstream-Fast-Food-Charthits eines Max Martin. Musik, die sich den Regeln des Musikmarktes entzieht, die Zeitgeist hintenanstellt und in der die künstlerischen Ideen im Vordergrund stehen.
Die Frage nach der Authentizität
Anders als im Studio der Supergroup Cologne Tape werden bei Sepp Music in München die kommerziellen Erfolgschancen der neuen Wunderwelt-Songs beim Instant-Komponieren an diesem Wochenende ständig mitgedacht.
Melissa: "Aber ich singe ja über eine Frau, oder? Nicht wie bei ‚Freiheit ist Gold’ über mich selber."
Björn: "Nee, du bist die Frau selbst."
Melissa. "Na toll."
Ganz so begeistert scheint Melissa, die Sängerin von Wunderwelt, noch nicht zu sein. Ist es legitim zu fragen, wer ist hier eigentlich die Pussy? Oder ist diese Frage einfach hinfällig?
Melissa: "Du spielst ja dann nur eine Rolle. Du musst es ja nicht sofort auf Dich beziehen. Klar ist das schön, wenn man sich damit identifizieren kann, das ist schon schön, weil man es besser verkaufen kann. Sonst muss man schauspielern."
Unabhängig oder fremdbestimmt?
Ob der Pussy-Song am Ende auf ihrer EP landet oder sogar auf das Album kommt, weiß die Band derzeit noch nicht. Sie kann es auch nicht alleine entscheiden, Manager und Label mischen sich ein - diktieren ihnen aber keinen Weg, hofft der Keyboarder, Klaus: "Unser Fokus liegt auf unserer eigenen Musik, ich könnte kein Künstler sein, der komplett vorgeschriebene Songs hingeknallt bekommt, die er zu interpretieren hat. Das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren."
Nicht nur die Künstler wollen hinter der Musik stehen, die sie machen. Auch die Fans fragen sich seit jeher: Wie authentisch ist die Musik? Sind die Künstler und ihre Werke eine Einheit? Der Authentizitäts-Anspruch klebt am Pop wie ein alt gewordenes Kaugummi, das schon lange nicht mehr schmeckt.
Eine kleine Geschichte der Manufactured Artists
"You Keep me Hanging On" von den Surpremes aus dem Jahr 1966: Der erste Nummer Eins des Motown-Trios und ein klassisches Beispiel von fremdgeschriebener Musik. Viele Stücke der Supremes stammen von Holland-Dozier-Holland - dem Songschreiber- und Produzenten-Team von Motown. Das Label steht sinnbildlich für die Fließbandproduktion von Welthits - und das Trio Brian und Edward Holland sowie Lamont Herbert Dozier ist sein Motor.
Dass die Supremes ihre Songs nicht selber schreiben, hat offenbar niemanden gestört. Denn: "In den 1950er Jahren gab es enorm viele Manufactured Artists, also von der Musikwelt gemachte Musiker. Aber das hat niemanden interessiert, es gab ja nichts anderes", sagt Pop-Journalist John Seabrook.
Dylan brachte die Wende
Die Haltung ändert sich in den 60er und 70er Jahren mit den Singer/Songwritern, die zunehmend populär warden. "Dylan war einer der ersten im Business, der seine Songs selber geschrieben hat. Beatles sind noch zu nennen, Chuck Berry in den 50ern schon", erklärt Musikwissenschaftler Ralf von Appen. Er erforscht die Rolle der Authentizität in der Popmusik. "Aber ab dem Moment, wo Dylan gekommen ist und die Beatles, da gab es kein zurück mehr. Da war es für Rock als Gegenkultur absolut entscheidend, dass die Leute ihre eigenen Songs geschrieben haben. Da war plötzlich jeder, der das nicht gemacht hat, langweiliges Pop-Establishment für die Eltern und nicht mehr Teil der Jugendkultur."
Die heutigen Pop-Fabriken halten an diesem vordergründigen Authentizitätsversprechen des Pop fest - auch wenn sie dem Publikum nur als Illusion erscheint.
John Seabrook: "Die meisten Leute würden sagen, dass ein Song bewegender ist, wenn der Sänger ihn selbst geschrieben hat. Das kommt einfach besser bei den Fans an. Weil sich dieses Singer/Songwriter-Konzept so gut vermarkten lässt, wollen die Labels die Fans weiterhin im Glauben lassen, dass die großen Stars ihre Songs selber schreiben - obwohl sie das heutzutage nur selten im Alleingang tun."
Deshalb hängen Labels und Verlage diese Songwriting Camps und Sessions oft nicht an die große Glocke - was Jan Böhmermann dazu brachte, sich über die deutsche Industriemusik auszulassen:
Jan Böhmermann: "Die neuen deutschen Pop-Poeten, die schreiben tiefgründige Lyrics, die haben es in sich. Man hört sofort: Da stecken einzigartige Künstler dahinter, echte Singer/Songwriter, keine Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo, oder so etwas. Hey, und Max Giesinger! Ich habe mir alle deine Songs genau angehört: zu Recht bis du stolz auf deine echte Autorenschaft!"
Max Giesinger: "Das schon etwas für mich, was wichtig ist, dass es wirklich persönliche Storys. Ich könnte mir nie eine Platte fremdschreiben lassen oder so…"
Moderator: "Du schreibst das alles selbst?"
Max Giesinger: "Ja, ja."
Moderator: "Ganz allein?"
Max Giesinger: "Ich habe einen Kumpel, mit dem mache ich das zusammen."
Jan Böhmermann: "Klar. Jeder Deutsch-Poet schreibt seine Songs alleine nur mit nem Kumpel, nur ein Kumpel schreibt noch mit. Zum Beispiel hier: ‚80 Millionen‘, der bislang größte Hit von Max Giesinger. Hier, das ist das Album, Max Giesinger, super Album. Wer hat denn ‚80 Millionen‘ geschrieben? Mal schauen. Da! Max Giesinger, Komponist und Texter, und wer ist das noch? Ach so, hier, ach, guck mal, da ist noch…"
Dass Martin Fliegenschmidt, David Jürgens, Alexander Zuckowski gemeinsam mit Max Giesinger "80 Millionen" geschrieben haben, lässt das Marketing lieber unerwähnt.
Jan Böhmermann: "Das ist nicht so schlimm, wichtig ist ja vor allem, dass das alles gute Songwriterkumpels von Max sind, die exklusiv nur für Max tätig sind. Oder für wen schreiben die sonst noch?"
Die Folgen: Populäre Musik klingt oft so gleich
Die Pop-Fabriken von heute zeigen: Die großen Musiklabels und -verlage setzen stärker denn je auf den kreativen Input von Songwritern. Arbeitsteilung ist das Stichwort: Einer bastelt den Beat, ein anderer liefert die Topline, ein weiterer Komponist schreibt die Hooklines. Diese Teamarbeit hat das Potential, sehr detailreiche Songs mit etlichen Hooks, verschiedenen Sounds und musikalischen Ideen entstehen zu lassen.
Wenn ein Titel zum Nummer-eins-Hit wird, wenn Produzenten wie Max Martin einem neuen Stil kreieren, werden danach gleich weitere Songwriting Camps organsiert, um ein ähnliches Stück zu schreiben – nicht immer ist das Ergebnis so gut wie das Original. Das ist die Kehrseite: Die Camps der großen Verlage sind ein Stück weit mitverantwortlich dafür, dass populäre Musik so oft so gleich klingt.
Auf der anderen Seite: Lässt man die ewige Frage nach dem Authentizitätsanspruch im Pop einmal bei Seite, spricht vielleicht nichts dagegen, wenn Musiker nicht alles selbst machen. In digitalen Zeiten, in denen so viel geremixt wird, sind Weltstars wie Taylor Swift oder Rihanna eher Kuratoren. Das zeigt auch das neue Album des kanadischen Rappers Drake: "More Life" nennt er eine "Playlist". Er kollaboriert mit erfahrenen Songschreibern, Managern und seinem Label und kuratiert den Sound der Stunde. Mit Songs, die er alleine kaum hätte produzieren können. Teamarbeit in Writing Rooms ist ein wichtiger Erfolgsfaktor bei TV-Serien. Warum also sollte es das nicht auch im Pop geben?
Und vielleicht ist es für Songwriter mit der Geheimhaltung auch bald vorbei. Julia Michaels zum Beispiel hat in den vergangenen drei Jahren Stücke für Justin Bieber und Selena Gomez geschrieben. Mit ihrem Titel "Issues" tritt sie erstmals selbst in Erscheinung. Und ihr Label wirbt offen damit, dass sie Songs für andere Künstler schreibt.
Am letzten Produktionstag im Studio von Sepp Music hadert Sängerin Melissa immer noch mit dem Text des "Pussy"-Songs.
Sebastian: "Ja - und deshalb: ausprobieren, drüber schlafen."
"So werden Hits gemacht" – das war unser Einblick in die Pop-Fabrik, von und mit Ina Plodroch. In der Technik war Oliver Dannert. Die Redaktion hatte Adalbert Siniawski. Vielen Dank für Ihr Interesse. Tschüß, machen Sie’s gut!