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Die postmigrantische Gesellschaft
Bereicherung statt Risiken thematisieren

Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten viele Einwanderungswellen erlebt. Aber wie bezeichnet sich diese Gesellschaft heute, damit die Vielfalt des Landes richtig beschrieben wird? Über Narrative in der postmigrantischen Gesellschaft haben Wissenschaftler an der Jüdischen Akademie Berlin diskutiert und waren sich einig, dass Deutschland sich aktuell sehr verändert.

Von Andreas Beckmann |
    Eine Lehrerin unterrichtet Migrantenkinder in Deutsch
    Deutschlands gesellschaftliche Vielfalt erweitert sich. (imago/Sämmer)
    Deutschland als postmigrantische Gesellschaft zu bezeichnen, erscheint gewagt, kommen doch allein in diesem Jahr etwa eine Million Flüchtlinge hierher. Dennoch wird der Begriff in der Migrationsforschung zunehmend verwendet. Nicht weil er andeuten sollte, dass die Zeiten größerer Einwandererzahlen zu Ende gehen. Sondern weil er ein Deutschland beschreiben soll, in dem Migration nicht mehr als Ausnahmezustand, sondern als Normalfall angesehen wird und in dem Menschen mit ausländisch klingenden Namen nicht mehr als Fremde gelten. Schließlich ist die Mehrheit von ihnen hier aufgewachsen und sollte deshalb ganz selbstverständlich zur deutschen Gesellschaft dazugehören. Das bestreitet auch der Bamberger Soziologe Friedrich Heckmann nicht. Trotzdem bezweifelt er, dass sich die soziale Realität mit dem Adjektiv postmigrantisch angemessen skizzieren lasse. Denn der Begriff suggeriere eine grundlegende Veränderung, die so gar nicht stattgefunden habe.
    "Es wird nicht unterschieden zwischen der Veränderung von Strukturen und Veränderung in der Zusammensetzung der Bevölkerung. Die wesentlichen Grundstrukturen unserer Gesellschaft – Markt, Staat, Eigentumsverhältnisse, Institutionen – sind stabil, haben sich angepasst an die Migrationssituation, aber haben sich nicht grundlegend verändert. "
    Vielfalt wird von Institutionen zu wenig abgebildet
    Diese Stabilität zu betonen, hält Heckmann auch deshalb für sinnvoll, weil sie Vertrauen schaffen könne in einer Zeit rasanter Veränderungen. Noch vor 50 Jahren war die überwältigende Mehrheit der Einwohner in der damaligen Bundesrepublik wie in der DDR ihrem eigenen Selbstverständnis nach eindeutig deutsch. Heute ist alles viel unübersichtlicher. Immer mehr Menschen schreiben sich selbst Misch-Identitäten zu – sei es, dass sie sich Deutsch-Türken nennen oder Schwarze Deutsche oder dass sich als Anhänger eines Euro-Islam bezeichnen. Diese Vielfalt der Gesellschaft werde aber von den deutschen Institutionen noch viel zu wenig abgebildet, kritisiert die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus von der Universität Erlangen-Nürnberg.
    "Für mich stellt sich die Frage zum Beispiel, wie sehen Schulbücher in einem Land mit Vielfalt aus? Werden da die Schulklassen in ihrer Vielfalt angesprochen? Sind sie sichtbar in den Bildern, in den Themen, in den Namen, die benutzt werden? Wie sieht ein Museum in der Einwanderungsgesellschaft aus? Im Deutschen Historischen Museum in Berlin vermisse ich zum Beispiel Migranten vollkommen. Das Thema Migration ist einmal in einem kleinen Bildchen erwähnt des tausendsten Gastarbeiters, der nach Deutschland gekommen ist. Seitdem passiert da nichts."
    Die postmigrantische Gesellschaft ist für Riem Spielhaus deshalb bisher weniger Realität als Zukunftsvision. Deutschland ringe noch mit sich, ob es sich ein solches neues Leitbild geben solle oder nicht.
    Riem Spielhaus: "In den USA und in Kanada beispielsweise, das sind für uns die Reverenzgrößen, gab es solche Diskussionen in den 1970er/1980er Jahren. Und dann gab es eine Kommission in Kanada und die kam auf mit dem Narrativ, sehr kurz "Unity in Diversity", "Einheit in der Vielfalt". Die Vielfalt ist nicht als Bestandteil der deutschen Identität gefestigt. Schauen Sie in die Talkshows. In jeder Talkshow wird infrage gestellt, ob das überhaupt geht. Also, wir haben dieses Narrativ noch nicht verfestigt.
    Ein solches Narrativ oder Leitbild zu formulieren, helfe einer Gesellschaft nicht nur, sich selbst besser zu verstehen, pflichtet die Integrationsforscherin Naika Foroutan von der Humboldt Universität Berlin bei. Neue Leitbilder führten auch zu politischen Veränderungen.
    "Dass Deutschland als Einwanderungsgesellschaft bezeichnet wird oder: Deutschland ist ein Einwanderungsland nach 2001, hat nicht nur eine narrative Veränderung zur Folge, sondern auch eine gesetzgeberische. Wir haben danach eine Veränderung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts, wir haben ein Zuwanderungsgesetz, wir haben eine Anerkennung ausländischer Abschlüsse, eine Erleichterung der Visumsvergabe und eine doppelt Staatsangehörigkeit."
    Verteilungskonflikte nehmen zu
    In einer offenen Gesellschaft lösen solche politischen Umwälzungen aber unweigerlich Widersprüche aus. Für Naika Foroutan ist es deshalb kein Wunder, dass die deutsche Gesellschaft derzeit vor allem ein zerrissenes Bild abgebe.
    Naika Foroutan: "Wir erkennen einen zunehmenden Dualismus zwischen Migrationsbefürwortern und –gegnern. Was wir auch sehen, ist, dass Alltagsrassismen deutlicher und offener thematisiert und sichtbar gemacht werden, was wir aber gleichzeitig sehen, ist eine Polarisierung. Wir erkennen Verteilungskonflikte und Extremismus, es geht aber auch ganz stark und immer mehr um die Bestimmung nationaler Identität. Das erkennen wir derzeit in der Debatte über Flüchtlinge und darum, wie wir als Gesellschaft damit umgehen."
    Wohin Deutschland am Ende tendieren wird, ob eher in Richtung Willkommenskultur oder in Richtung Pegida, wagt kaum ein Migrationsforscher zu prognostizieren. Riem Spielhaus plädiert dafür, sich in der Debatte weniger auf die zu konzentrieren, die extreme Meinungen äußern.

    "In der Mitte gibt es da eine große Gruppe, die beweglich sind. Aus denen speisen sich natürlich auch zu großen Teilen die Leute, die an die Bahnhöfe gegangen sind und Flüchtlinge empfangen haben, weil sie ein Herz haben. Ich kenne Personen, die Flüchtlingen helfen und gleichzeitig auch sehr kritisch gegenüber Migration sein können. Das heißt, die sind ambivalent und die spannende Frage ist jetzt, wie gestalten wir Gesellschaft so, dass es ein Narrativ gibt, dass es ein Selbstverständnis dieser Gesellschaft gibt, dass die Unterschiedlichkeit, also dass Differenzen und Andersartigkeiten und die Gegensätze etwas Positives sind. Das heißt, wir müssen mit Ambiguitäten klar kommen, mit Mehrdeutigkeiten. Woher kommt jemand? Gehört er dazu? Muss man manchmal fragen, muss man aber nicht gleich ablehnen. Die Mitte, das ist das, was uns sorgen und interessieren sollte und wo wir aber auch Potenzial haben. Die Mehrheit in der Mitte, glaube ich, die hat eine Bereitschaft, zuzuhören. Aber man muss dann auch die Themen besprechen, die diese Gesellschaft bewegen."
    Das wichtigste Thema, davon ist Riem Spielhaus überzeugt, ist die soziale Ungleichheit. Diese Frage brenne vor allem denjenigen auf den Nägeln, die ohnehin schon am unteren Ende der Einkommensskala stehen. Weil sie oft wenig qualifizierte Jobs ausüben, fürchten sie nicht zu Unrecht schneller um ihren sozialen Status als andere. Daher neigten sie eher dazu, Neuankömmlinge als Konkurrenten zu sehen und sie deshalb als Fremde aus der Gesellschaft ausschließen oder gar nicht erst hineinlassen zu wollen.
    "Das Problem ist, mit diesen ganzen Identitätskategorien werden letztlich Interessen umkämpft und Ressourcen. Wer wohnt wo? Wer kommt wem in die Quere? Wie viel Geld gibt es für Wohlfahrtsorganisationen vielleicht, die sich auf Muslime ausrichten? Müssen dann die christlichen Wohlfahrtsgesellschaften etwas abgeben? All diese Themen, was ist mit den Friedhöfen? Wo kommen die muslimischen, buddhistischen, Hindu-Migranten oder auch Konvertiten hin? Schaffen wir da neue Plätze? Oder eben auch: Sollen unsere Kinder wirklich gemeinsam unterrichtet werden oder bringt das nicht mehr Probleme?"
    Eine große Zahl von Deutschen hat in diesem Sommer gezeigt, dass sie in diesen und anderen Fragen durchaus bereit ist zu teilen. Werner Schiffauer, Kulturanthropologe an der Viadrina in Frankfurt an der Oder und Vorsitzender des Rats für Migration, ist von dieser Offenheit immer noch überrascht. Widerspricht sie doch völlig dem Bild, das die Sozialwissenschaften bis dahin von der deutschen Gesellschaft gezeichnet hatten.
    "Hier ist eine unglaubliche gesellschaftliche Energie freigeworden. Wenn Sie die Gesellschaftsanalysen anschauen, die bis letztes Jahr erschienen sind, da war "die Lethargische Gesellschaft", "Wo ist die Hilfsbereitschaft in dieser Gesellschaft?", also diese Gesellschaftsdiagnosen von völlig individualisiert, ja Unfähigkeit zur Gemeinschaft, atomisiert, das hat den ganzen Diskurs bestimmt. Auf einmal gibt es da eine echte Aufgabe. Das Miteinander ändert sich und das Verhältnis zur Welt. Das wird alles nicht so nachhaltig sein, ich will da jetzt keine Utopie an die Wand malen, aber all das sind Lernerfahrungen, die hoffentlich nicht wieder verschüttet werden. "
    Diese Lernerfahrungen, hofft Werner Schiffauer, könnten Deutschland helfen, Einwanderung künftig als etwas Alltägliches anzusehen, so wie es in den USA oder Kanada schon lange üblich ist. Das könnte dazu führen, den Begriff von der deutschen Nation zu modernisieren. Traditionell gehören in Deutschland Menschen qua Abstammung zur Nation. In Nordamerika dagegen umfasst die Nation alle, die dauerhaft im Land leben. Der Bamberger Soziologe Friedrich Heckmann plädiert dafür, dieses Verständnis von Nation auch in Deutschland populär zu machen. Bei seinen Kolleginnen findet er damit wenig Resonanz, weil viele den Nationalstaat schon lange als Auslaufmodell ansehen, dass in einem vereinten Europa aufgehen werde.
    "Einige Sozialwissenschaftler waren vielleicht in post-nationalen Verhältnissen angekommen, aber nicht die Realität der Verhältnisse und auch nicht die Realität des Bewusstseins der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die Menschen leben noch selbstverständlich in den Nationen."
    Unabhängig davon, ob sie die deutsche Gesellschaft nun als postmigrantisch oder als bunte Nation beschreiben, sind sich die Migrationsforscher einig, dass sich das Land gerade stark verändert. Doch sie bedauern, dass die meisten Politiker vor allem die Risiken dieser Entwicklung betonten. Denn die Erfahrungen nicht nur der USA und Kanadas, sondern auch Deutschlands zeigten, dass Einwanderer und Flüchtlinge ein Land langfristig bereichern, sowohl kulturell als auch materiell.