04. September 2023
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Fast alle Zeitungen kommentieren die Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten Söder, seinen Vize und Freien-Wähler-Chef Aiwanger wegen der Flugblattaffäre nicht zu entlassen.

Markus Söder (CSU) , Ministerpräsident von Bayern, gibt eine kurzfristig anberaumte Pressekonferenz. Mit Spannung wird Söders Entscheidung erwartet, ob er seinen Stellvertreter Aiwanger (Freie Wähler) wegen der Affäre rund um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten entlässt oder nicht.
Markus Söder (CSU) hält an seinem Stellvertreter Hubert Aiwanger (Freie Wähler) fest (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
Die BADISCHE ZEITUNG aus Freiburg schreibt: „Markus Söder hat entschieden, Hubert Aiwanger nicht zu verstoßen. Zwar sind ihm dessen Antworten zu einem antisemitischen Flugblatt von vor 36 Jahren nicht erhellend genug – aber Schwamm drüber. Ist ja lange her. Aiwanger habe sich schließlich entschuldigt für das ‚abscheuliche Pamphlet‘ in seiner Schultasche und Reue gezeigt. Das mag stimmen – aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass der Vorsitzende der Freien Wähler in Bayern keinen Anstand hat. Seine vermeintliche Reue kam spät und immer ging es vor allem um ihn selbst. Bis heute sieht sich Aiwanger als Opfer einer ‚Schmutzkampagne‘ und medialen Hetzjagd.Doch Söder lässt Aiwanger gewähren. Warum, das liegt auf der Hand: die anstehende Landtagswahl, die Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen“, analsysiert die BADISCHE ZEITUNG.
Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG ist entsetzt: „Der Vorsitzende der Freien Wähler wird bis zur Landtagswahl und wohl darüber hinaus bleiben, was er ist. Diese Entscheidung ist falsch und fatal. Die 25 Antworten auf Söders 25 Fragen sind nichts anderes als eine Frechheit. Aiwanger droht darin sogar Lehrern und Medien, die die Dinge anders beschreiben, statt endlich reinen Tisch zu machen. Söder sagt, Aiwanger habe sich ‚spät, aber nicht zu spät‘ entschuldigt. Das stimmt allein deshalb nicht, weil die Entschuldigung letztlich nichts wert ist. Markus Söder hat Angst vor den Freien Wählern. Und diese Angst ist größer als der Wille, bei einer für die politische Kultur der Bundesrepublik wegweisenden Affäre auf den bisherigen Standards zu bestehen“, bemerkt die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG.
Der REUTLINGER GENERALANZEIGER nimmt Aiwanger in Schutz: „Es geht um einen Vorfall vor 36 Jahren. In Hubert Aiwangers Ranzen fand sich damals ein Flugblatt, das offensichtlich sein Bruder ohne ihn verfasst hatte und von dem er sagt, dass es ekelhaft und menschenverachtend sei. Ist das Grund genug, um einen Politiker Jahrzehnte später zu verurteilen, ihn kampagnenartig als Politiker zu vernichten? Darf man ihm – unterstellt, dass er doch am Verfassen des Flugblattes beteiligt war – nicht zubilligen, dass er seine Gesinnung längst geändert und einen Entwicklungsprozess durchgemacht hat?“, fragt der REUTLINGER GENERALANZEIGER.
Die RHEINPFALZ aus Ludwigshafen sieht ein grundsätzliches Problem: „Die Deutschen von heute sind nicht verantwortlich dafür, was im Dritten Reich geschah, aber sie sind verantwortlich dafür, dass sich dieser Wahn nicht wiederholt. Deshalb gibt es die deutsche Erinnerungskultur. Mit ihr gerät das Schreckliche nicht in Vergessenheit. Das Erinnern dient den nachkommenden Generationen als Warnung. Hubert Aiwanger hat davon nichts begriffen: Der Politiker verschleierte seine Rechtsradikalität in Jugendjahren anstatt sie einzugestehen. Er stilisierte sich zum Opfer einer ‚Hexenjagd‘, statt sich unmittelbar zu entschuldigen. Aiwangers Glaubwürdigkeit ging durch diese Krisenkommunikation verloren“, ist die RHEINPFALZ überzeugt.
Die BERLINER MORGENPOST findet die Entscheidung von Ministerpräsident Söder dagegen richtig: „Sein Kabinett geht nicht kurz vor der Wahl in Bayern in die Brüche. Söder will sich weiter mit konservativer Linie gegen die Grünen profilieren, seinen Hauptgegner im Wahlkampf. Aber seine Entscheidung ist auch im Umgang mit Populisten richtig. Söder gibt Aiwanger nicht die Chance, sich mit einem Rauswurf aus der Regierung noch weiter im Opfermythos zu suhlen. Söder verdonnert ihn zu Treffen und Gesprächen mit jüdischen Gemeinden in Bayern. Aiwanger muss Sozialarbeit leisten und im Gespräch mit Jüdinnen und Juden in Bayern seine Haltung zum Antisemitismus kritisch hinterfragen lassen. Denn ob Aiwanger noch Demokrat oder schon Radikaler ist, muss er jetzt selbst belegen“, argumentiert die BERLINER MORGENPOST.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG geht auf die Auflage ein, die Söder Aiwanger gebeben hat: „Für Hubert Aiwanger beginnt jetzt die Phase der tätigen Reue, da hat er erheblichen Nachholbedarf. Sein Umgang mit den Vorhaltungen war kläglich. Sich als geerdeten und von den Medien gehetzten Menschenfreund hinzustellen, ist keine richtige Idee gewesen. Aber vielleicht hat er vor lauter Populismus den natürlichen Anstand vergessen, den er als Anwalt der bayerischen Provinz so gern für sich und seine Anhänger reklamiert. Nun muss Aiwanger auf Abbitte-Tour zu den jüdischen Gemeinden. Wenn er Glück hat, trifft er dort Menschen, die mehr von Demut verstehen als er“, ist in der F.A.Z. zu lesen.
Die MEDIENGRUPPE BAYERN, zu der auch der DONAU KURIER gehört, spricht von einer „Methode Trump“: „Aiwanger ist vor allem sein Umgang mit der Vergangenheit und den Vorwürfen anzukreiden. Zuerst abstreiten, verschleiern und relativieren, um sich dann flugs auf Gedächtnislücken zu berufen und vor allem in die Opferrolle zu flüchten. Sein zentrales Problem ist weniger der damalige Antisemitismus im Flugblatt, sondern dass er nun auch noch Wahlkampf damit macht, sich selbst im Festzelt als Opfer vermarktet und Verschwörungstheorien wittert. Ist das nur Trotz – oder längst die Methode Trump? Am 8. Oktober wird man wissen, wie die Bayern diese Dinge bewerten“, erwartet die MEDIENGRUPPE BAYERN.
Die VOLKSSTIMME aus Magdeburg meint: „Der bayerische Ministerpräsident hat klargemacht, wer der Chef ist. Sein polternder Vize wird ihm, Söder, nicht mehr gefährlich. Aiwangers politisches Überleben hängt fortan an seidenem Faden, dessen Ende Söder in der Hand hält. Zudem verhindert Söder einen Solidarisierungseffekt mit Aiwangers Partei, der bei der Landtagswahl im Oktober zu Lasten der CSU gegangen wäre: So abstoßend und hirnlos der Inhalt des Flugblattes zweifellos ist, so umstritten war unter der Wählerschaft eine harte Konsequenz für Aiwanger 35 Jahre nach dem Verfassen des Pamphlets. Das linksliberale Publikum wird Söder hart attackieren – doch aus diesem Lager hat die CSU ohnehin keine Stimmen zu erwarten“, ist die VOLKSSTIMME überzeugt.
Der TAGESSPIEGEL aus Berlin sieht Söder dagegen geschwächt: „Gemessen an seiner Rhetorik, seiner Schärfe gegen Aiwanger in den ersten Tagen der Affäre redete Söder am Sonntag geradezu handzahm. Der moralischen Ebene, dem würdelosen Umgang Aiwangers mit dem Flugblatt und anderen Vorwürfen – Hitlergruß etc. – , misst der Ministerpräsident keine Bedeutung mehr bei. Söder, der sich gern als entschiedener Macher inszeniert, agiert erstaunlich entscheidungsschwach. Er ließ sich von Aiwanger abspeisen, von dessen dürren Antworten, seinem inkonsistenten Umgang mit den Vorwürfen. ‚Damit ist die Sache aus meiner Sicht abgeschlossen‘, behauptet Söder nun. Dieser Satz ist der gefährlichste, womöglich folgenreichste in der Affäre. Söder hat sich damit Hubert Aiwanger ausgeliefert“, folgert der TAGESSPIEGEL.
ZEIT ONLINE notiert: „Söder weiß, was gerade ankommt, und er ist skrupellos genug, dies zu seiner obersten Handlungsmaxime zu machen. Die Affäre um seinen Stellvertreter Hubert Aiwanger wäre für ihn nun eine Chance gewesen, zu zeigen, dass er auch anders kann. Dass er Prinzipien und Überzeugungen hat, die auch dann gelten, wenn sie sich möglicherweise politisch nicht auszahlen. Diese Chance hat Markus Söder verpasst.“
Und SPIEGEL ONLINE konstatiert: „Der Populismus hat gesiegt. Söder hat seine Entscheidung nicht auf Basis von Aiwangers Antworten getroffen, sondern sich vom Applaus leiten lassen, den Aiwanger dieser Tage im Bierzelt bekommt. Das ist nicht nur gefährlich für die Demokratie und die politische Kultur in diesem Land. Es zeugt auch davon, dass Söder immer Söder bleiben wird. Statt als Staatsmann hat er wieder einmal als erster Populist des Freistaats agiert. Für höhere Ämter, etwa als Kanzlerkandidat, hat er sich an diesem Tag nicht qualifiziert.“