11. Juni 2024
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Die Folgen der Europawahl für die Bundespolitik, für Frankreich und für die gesamte EU sind die Themen der Kommentare.

11.06.2024
Olaf Scholz auf einer Pressekonferenz
Die Niederlage der SPD bei der Europawahl ist auch eine Niederlage für Kanzler Scholz - ein Thema der Presseschau. (AFP / RALF HIRSCHBERGER)
Bundeskanzler Scholz sagte am Abend, angesichts der schlechten Ergebnisse für die drei Koalitionsparteien sei kein "business as usual" möglich. Der Berliner TAGESSPIEGEL empfiehlt der SPD, nun den Druck auf den Kanzler zu erhöhen: "Ignoranz ist das Gegenteil dessen, was jetzt nötig ist. Demonstrativer Stoizismus führt zu nichts außer dem Gefühl der Lähmung, besonders in der eigenen Partei, 'Da können wir nichts machen.' Doch, können sie. Sie können Scholz vor die Wahl stellen, entweder er ändert sich und damit seine Politik, oder die politischen Verhältnisse ändern sich - in der Partei. Sonst geschieht es bei der nächsten Bundestagswahl", warnt der TAGESSPIEGEL.
Die LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG urteilt: "An die Stelle der Faktenauswertung ist bei der SPD der Kampf ums Überleben getreten. Die einstige Arbeiterpartei hat ihre Themen verloren, die politischen Geschichten erzählen andere. Sogar die AfD, die mit ihrer migrationsfeindlichen Politik punktet. Scholz startete mit seiner Abschiebeandrohung für straffällig gewordene Afghanen vergangene Woche einen späten Aufholversuch. Der ist jedoch offenkundig genauso kläglich gescheitert wie der Versuch, mit einer Forderung nach einem höheren Mindestlohn zum fürsorgenden Vati der Nation zu werden. Die SPD ächzt unter ihrem Kanzler, den sie als Parteichef nicht wollte. Doch da ist keiner, der seine klammernden Hände vom Gitter des Kanzleramtes zu lösen vermag. Das Spiel auf Zeit bei der SPD geht deshalb weiter", notiert die LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG.
"Diese Wahl muss ein Weckruf sein", findet der KÖLNER STADT-ANZEIGER. "Für die lahmende Ampel ist sie vielleicht die letzte Chance, noch einmal durchzustarten –  doch das müsste ja nachhaltig sein. Angesichts der Vielzahl von Zumutungen, die sich schon beim Bundeshaushalt 2025 ergeben, scheint ein erfolgreicher Neubeginn der einst als Zukunftsbündnis angetretenen Ampel allerdings fast unmöglich."
Die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG erwartet bei den laufenden Haushaltsverhandlungen auch nach der Europawahl keine Fortschritte: "Dabei ist es an der Ampel zu zeigen, was das Wesen der Demokratie ist: der Kompromiss. Für das eigene Programm alles gegen die Wand laufen zu lassen, wird der Lage nicht gerecht. Das gilt genauso für eine Neuwahl, wie sie CSU-Chef Markus Söder gefordert hat. Der Bundestag ist für vier Jahre gewählt, die Regierungsparteien haben sich auf diese Zeit verpflichtet – in vollem Bewusstsein, dass dazu Kompromisse nötig sein würden", erläutert die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG aus Halle.
Die SCHWÄBISCHE ZEITUNG aus Ravensburg greift die Forderungen nach Neuwahlen in Deutschland auf: "Dies ad hoc abzulehnen, wie Kanzler Scholz dies macht, wird dem Problem nicht gerecht. Denn die Bürger haben den Ampel-Parteien mehr als einen Denkzettel verpasst. Sie haben ihnen und dem Kanzler das Vertrauen entzogen. Je früher gewählt wird, desto früher ist das Ampel-Trauerspiel zu Ende. Desto früher gibt es eine Regierung, die sich der Sorgen der Bürger konstruktiv annimmt: der Zukunft der Wirtschaft, dem Dauerthema Migration und der Energiepolitik. Angst vor dem Wähler ist ein schlechter Berater", ist in der SCHWÄBISCHEN ZEITUNG zu lesen.
Der MÜNCHNER MERKUR schreibt: "Für die nach Neuwahlen dürstenden Wähler gibt es wenig Hoffnung, dass Olaf Scholz sich erbarmt und seinem Kollegen Macron nacheifert, der als Konsequenz aus dem eigenen Debakel Parlamentsneuwahlen ausgerufen hat. Der Kanzler will die dafür nötige Vertrauensfrage nicht stellen – und die Union wagt kein Misstrauensvotum, damit sich die wankenden Ampelkoalitionäre nicht noch enger aneinander klammern."
"Macron verliert die Nerven", titelt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und kritisiert die Entscheidung des französischen Präsidenten, das Parlament wegen des schlechten Abschneidens seiner Regierungspartei aufzulösen: "Es ist Hochrisiko-Politik der unklugen Art. Emmanuel Macron tut so, als wäre eine Naturgewalt über Frankreich hereingebrochen, als stünde nach der Europawahl das Schicksal der Republik auf dem Spiel. Tatsächlich ist es erst seine Entscheidung, die das Schicksal des Landes auf die Tagesordnung bringt. Unter den vielen impulsiven Entscheidungen des Präsidenten könnte sich diese als verhängnisvoll entpuppen", mahnt die SZ.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vermerkt: "Macron, der schon immer zur Sprunghaftigkeit neigte, geht ein gewagtes Spiel ein. Dass sich das Meinungsbild der Franzosen in wenigen Wochen grundlegend verändern wird, ist nicht gesagt. Sollte am Ende Le Pens politischer Ziehsohn Premierminister werden, dann hätte Macron selbst Schützenhilfe bei der Demontage 'unseres Europas' geleistet, von dem er immer so predigerhaft redet. Eine Kohabitation zwischen einem liberalen Präsidenten in seiner letzten Amtszeit und einem aufstrebenden Rechtspopulisten wäre konfliktreich und würde Frankreichs Rolle auf vielen Feldern schwächen - von den deutsch-französischen Beziehungen bis zur Ukraine", prognostiziert die F.A.Z.
Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG sieht die EU durch den Rechtsruck noch nicht gefährdet - und betont die Rolle der Kommissionspräsidentin: "Wo ein Wille ist, ist auch eine stabile EU. So bezeichnete von der Leyen ihre EVP am Wahlabend als 'Stabilitätsanker'. Nun muss sie beweisen, dass sie auch unter den neuen Machtverhältnissen im EU-Parlament Stabilität garantieren kann. Die gute Nachricht: Die Demokraten haben in Brüssel die Oberhand: Mit etwa 400 Abgeordneten stellen sie auch weiterhin die Mehrheit, müssen sich aber für eine starke EU zusammenraufen."
Die TAGESZEITUNG - TAZ zweifelt daran, dass von der Leyen ihre Pläne umsetzt, dass die EU bis 2050 klimaneutral wird: "Schon im Wahlkampf hat sie kaum über ihren Green Deal gesprochen und wurde von den Wähler:innen des konservativen Lagers belohnt. Ob sie Kommissionspräsidentin bleibt, hängt auch von den Rechts-außen-Parteien ab. Generell wird sich von der Leyen von ökologischen Ambitionen weitgehend verabschieden müssen, wenn sie sich von den Abgeordneten wählen lassen will, die sich in den rechten bis rechtsextremen Fraktionen Europäische Konservative und Reformer sowie Identität und Demokratie sammeln. Viele von ihnen leugnen die Existenz des menschengemachten Klimawandels", betont die TAZ.
Rechte Parteien waren auch bei jungen Wählern in Europa erfolgreich. "Das nur auf Tiktok und Protest zu schieben, wäre gefährlich", mahnt ZEIT ONLINE. "Besser erklären lässt sich das Wahlverhalten der Jungen mit banalen, begründeten Ängsten – zum Beispiel der, keine Wohnung zu finden. In Deutschland zeichnet sich in Umfragen und Studien zumindest ab, dass AfD-Wählerinnen und -Wähler überdurchschnittlich große Sorge vor einem wirtschaftlichen Abstieg haben. Parteien wie die portugiesische Chega, die niederländische Partei für die Freiheit, die AfD oder der französische Rassemblement National verstehen es exzellent, die Sorgen der jungen Wähler aufzugreifen, die die älteren nicht oder nicht mehr haben", wendet ZEIT ONLINE ein.
Zu diesem Thema noch die STUTTGARTER ZEITUNG: "Eines liegt auf der Hand: Die großen Parteien haben keinen Draht zu den Jungen. Und das seit Langem. Das allein auf ihre fehlende Präsenz auf der Online-Plattform Tiktok zu schieben, wo die AfD viel stärker ist als andere Parteien, ist etwas kurz gesprungen. Dennoch dürfte die Mediennutzung der jüngeren Menschen ein Schlüssel sein. Die Frage, wo man die jungen Menschen heute überhaupt erreicht, ist eine, die sich Parteien und Medien gleichermaßen stellen müssen. Und wenn geprüfte und unabhängige Informationen nicht mehr zur Meinungsbildung beitragen können, wenn klassische Strukturen für den politischen Diskurs nicht mehr funktionieren, braucht es dringend eine Neuaufstellung. Denn ohne eine gemeinsame Öffentlichkeit kann eine politische Debatte auch nicht mehr stattfinden."