22. Juli 2024
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Beherrschendes Thema in den Zeitungskommentaren ist US-Präsident Joe Biden, der seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur bei der Wahl im November bekanntgegeben hat.

22.07.2024
Nahaufnahme von Bidens Kopf. Er sagt etwas und hat die Hände verschränkt. Dahinter eine US-Fahne und das Fenster des Oval Office, durch da man unscharf Bäume sieht.
Viele Zeitungen äußern sich zu US-Präsident Joe Biden, der seinen Verzicht auf erneute Kandidatur angekündigt hat (Archivbild). (Erin Schaff / Pool The New York Times / dpa)
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG meint, Biden sei "an seiner Partei mindestens so sehr gescheitert wie an sich selbst. Sein katastrophaler Auftritt im Fernsehduell gegen Trump hat ernsthafte Zweifel geweckt, ob er physisch in der Lage ist, noch einmal vier Jahre lang den in jeder Hinsicht herausfordernden Job des Oberkommandierenden der Weltmacht Amerika auszufüllen; selbst im Falle seines Wahlsieges wäre es fraglich gewesen, ob er noch einmal die ganze Amtszeit hätte durchstehen können. Aber so viel schlechter waren seine Umfragewerte nach der Debatte nun auch wieder nicht. Es war die Panik in seiner Partei, gegen die Biden am Ende machtlos war. Offenbar fürchteten viele einflussreiche Politiker der Demokraten, dass die Wahl auf ganzer Linie verloren geht: nicht nur das Rennen um das Weiße Haus, sondern auch die Schlacht um den Kongress. Gegen solchen Widerstand ist fast jeder Politiker machtlos", notiert die F.A.Z.
"Mit dem Verzicht auf die Kandidatur in letzter Minute verhindert Biden ein innerparteiliches Blutbad", schreibt die BERLINER MORGENPOST: "Viele Abgeordnete drohten, von dem Biden-Effekt heruntergezogen zu werden. Verlören sie am 5. November an breiter Front an die Opposition von den Republikanern, könnte Trump im Falle eines Sieges mit beiden Kammern des Kongresse ungebremst durchregieren. Dann: Gute Nacht. Im amerikanischen Parlament gewannen bei den Demokraten zuletzt jene die Oberhand, die beim Präsidenten 81 Jahre alten Altersstarrsinn und Narzissmus feststellten, wo sie Einsichtsfähigkeit und Größe erhofft hatten. Die heiße Wahlkampfphase September/Oktober wäre für den ältesten Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu einer Tour der Leiden mit hässlichem Ausgang geworden: dem möglichen Totalabsturz am 5. November. Zwei Drittel der demokratischen Wähler haben das längst erkannt", hält die BERLINER MORGENPOST fest.
DIE RHEINPFALZ aus Ludwigshafen findet, Biden zeige mit seiner Entscheidung "einmal mehr, worum es ihm immer ging: um das Wohlergehen des amerikanischen Volkes. Während andere 'Make America Great Again' in die Mikrofone brüllen, hat er Amerika zeitlebens groß gemacht: als Senator, als Vizepräsident von Barack Obama, als Präsident mit Herz und Verstand – und: ausgestattet mit einer guten Bilanz. Die Wirtschaft brummt, bei den Krisen dieser Welt hat die USA dank seiner Weitsicht Führung übernommen. Biden war für die USA und für Europa ein großer Glücksfall. Trotzdem ist seine Entscheidung sein aktuell wichtigster Dienst an der Demokratie", urteilt DIE RHEINPFALZ.
Die AUGSBURGER ALLGEMEINE bewertet Bidens Entscheidung als Geste von echter Größe, allerdings "ganz freiwillig dürfte der Schritt nicht sein, doch das ändert nichts daran, dass er richtig ist. Ohnehin ist es keinesfalls Biden allein zuzuschreiben, dass dieser Paukenschlag in einem ohnehin nicht gerade geräuscharmen Wahlkampf notwendig wurde. Auch die demokratische Partei trägt eine massive Mitschuld, dass sie nun in dieser Situation ist. Die kommenden Tage und Wochen werden zeigen, ob die Kraft des Augenblicks wirken kann und die Umfragewerte steigen", vermutet die AUGSBURGER ALLGEMEINE.
Nach Bidens Verzicht werde nun Kamala Harris als aussichtsreichste Ersatzkandidatin der Demokraten für das Weiße Haus gehandelt, vermerkt die Zeitung DIE WELT in ihrer Online-Ausgabe: "Harris wäre allerdings eine denkbar schlechte Wahl. Das Scheitern ihrer eigenen Präsidentschaftskampagne 2019 und ihr Agieren als Vizepräsidentin zeigen, warum. Wie soll jemand, der nicht einmal die eigenen Wähler überzeugt und keine Präsidentschaftskampagne organisieren kann, das ganze Land überzeugen und führen? Harris neigt zu großspurigen Formulierungen, die meist wenig Substanz haben. Gerade in Zeiten, in denen die amerikanische Bevölkerung offensichtlich Direktheit von ihren politischen Führungsfiguren erwartet, bietet Harris selten mehr als pseudointellektuelle Worthülsen." Das war DIE WELT.
Die US-amerikanische Zeitung THE WASHINGTON POST betont, Harris sei nicht die einzige Option: "Zwei demokratische Gouverneure, die 2022 gewählt wurden, könnten eine glänzende Zukunft haben: Wes Moore aus Maryland und Josh Shapiro aus Pennsylvania. Die Demokraten sollten das Verfahren transparent gestalten. Selbst wenn Kamala Harris schnell nominiert werden sollte, wäre es wichtig, dass ihre Kandidatur offiziell auf dem Parteitag im August beschlossen wird. Auch wenn er keine weitere Amtszeit anstrebt, kann Biden seiner Partei im Herbst im Wahlkampf gegen Donald Trump helfen. Seine bei weitem wichtigste Aufgabe ist es jedoch, das Land für seinen Nachfolger in die bestmögliche Verfassung zu bringen", lesen wir in der WASHINGTON POST.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG sieht die Demokratische Partei am Beginn einer historisch einmaligen Situation, die "ebenso viele Gefahren wie Chancen birgt. Eine neue Kandidatin, ein neuer Kandidat kann die USA elektrisieren und das Land von einer Wahl zwischen zwei unbeliebten Politikern befreien. Der Weg hin zu dieser neuen Führungsfigur kann die Partei jedoch ebenso gut zerreißen und ihre Unfähigkeit zur Fortführung der Regierungsgeschäfte offenbaren. Dann würde sich das Land dem vermeintlich Stärkeren zuwenden – Donald Trump."
Nach Einschätzung der RHEINISCHEN POST aus Düsseldorf stehen die Demokraten enorm unter Druck: "Gut ein Monat Zeit bleibt jetzt, um mit der einem Schwertransport gleichenden Wahlkampagne auf eine neue Person umzuschwenken - als sei es das Wendemanöver eines Stadtflitzers. Vizepräsidentin Kamala Harris soll es werden, wenn es nach Biden geht. Ob die Demokraten geeint hinter dieser Idee stehen, wird sich spätestens am 19. August auf der Parteiversammlung in Chicago zeigen. Bis dahin und darüber hinaus werden die Demokraten damit zu tun haben, das Image der chaotischen, gespaltenen Partei vergessen zu machen, die nicht nur zeigen muss, dass sie auch mit jemand anderem regierungsfähig ist. Diese Person muss auch Trump die Stirn bieten können, der gerade ein Attentat überlebt hat und seine Kandidatur als gottgewollt verkauft", analysiert die RHEINISCHE POST.
Die US-amerikanische Zeitung LOS ANGELES TIMES beobachtet, einige Demokraten seien nun besorgt, dass "ein neuer Kandidat, der vom Parteitag ausgewählt wird, keine Legitimität besitzt, weil er oder sie sich die Nominierung ohne direkte Beteiligung der demokratischen Wähler im ganzen Land gesichert hat. Als Reaktion darauf haben sie eine so genannte 'Blitzvorwahl' vorgeschlagen, bei der die demokratischen Wähler nach einer Reihe von im Fernsehen übertragenen Versammlungen über den Kandidaten entscheiden - ein Vorschlag, der äußerst unrealistisch erscheint. Es gibt keinen Mechanismus, um in so kurzer Zeit ein praktikables Wahlverfahren auf die Beine zu stellen. Die Entscheidung wird auf dem Parteitag getroffen werden müssen", unterstreicht die LOS ANGELES TIMES.
Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG blickt voraus: "Was jetzt kommt, ist vollkommen offen – und mutmaßlich ziemlich chaotisch. Einen Rücktritt eines Kandidaten vier Wochen vor dem Nominierungsparteitag und nur gut drei Monate vor den Wahlen hat es in der Geschichte der USA noch nicht gegeben. Biden empfiehlt seine Stellvertreterin Kamala Harris für den Job. Einiges spricht dafür, dass die Partei diesem Rat folgen wird. Doch auch Gegenkandidaturen sind denkbar. Dramatisch ist das nicht, solange sich die Partei im August hinter einer Kandidatin oder einem Kandidaten versammelt. Nach der viertägigen Heiligsprechung von Donald Trump auf dem Parteitag der Republikaner wechselt die öffentliche Aufmerksamkeit jetzt jedenfalls schlagartig auf die Seite der Demokraten. Viele Amerikaner waren nicht glücklich mit der Alternative, einem 78-Jährigen oder einem 81-Jährigen ihre Stimme geben zu können. Mit einem jüngeren und diverseren Team als die Konkurrenz können die Demokraten bei kluger Inszenierung nun punkten", ist sich die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG zum Ende der Presseschau sicher.