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Die Privatisierung der Fürsorge

Die sogenannten Tafeln - Ausgabestellen für kostenlose Nahrungsmitteln - boomen im ganzen Land. Hier werde Armen konkret geholfen, sagen die Befürworter. Kritiker dagegen meinen, dass die Tafelbewegung der Politik die Arbeit abnnehme - und die Politiker reagierten darauf erfreut mit Tafel-Schirmherrschaften.

Von Matthias Bertsch |
    Atmo, Passionskirche, Ausgabe von Lebensmitteln:
    "Hallo, N' paar Radieschen?"

    "Was! Paradies?"

    "Paradies gibt's auch, aber das gibt's erst am Ende der Schlange. Hier gibt's nur Genesung."

    "Paradieschen ist auch gut."

    Peter Storck: "Als wir vor fünf Jahren hier angefangen haben, da konnten wir uns das eigentlich nicht richtig vorstellen, dass so etwas im reichen Deutschland mit gutem Sozialstaat möglich ist. Wir wurden eines Besseren belehrt. Es kamen viele Leute. Wir sind auch ganz froh, dass die Atmosphäre so gut ist, dass die Leute gerne hier hinkommen, sofern man von "gerne" sprechen kann. Aber wir hätten eigentlich gerne zum fünften Jubiläum die Ausgabestelle geschlossen, weil sie überflüssig ist. Das wäre ideal gewesen. Davon sind wir im Moment weit entfernt."
    Peter Storck ist Pfarrer in der Kreuzberger Passionskirche, einer von 45 Ausgabestellen von LAIB und SEELE, ein Projekt, das die Berliner Tafel gemeinsam mit den beiden christlichen Kirchen und dem Rundfunk Berlin Brandenburg ins Leben gerufen hat. Jeden Donnerstag kommen rund 150 Menschen in die Passionskirche: Wer ein geringes Einkommen nachweisen kann, erhält für einen Euro eine Tüte voller Lebensmittel. Die Berliner Tafel ist die älteste Tafel in Deutschland – aber längst nicht mehr die Einzige. Von Aachen bis Zwickau engagieren sich in über 870 Tafeln rund 40.000 Ehrenamtliche, um den Überfluss an Lebensmitteln, den die Wohlstandsgesellschaft produziert, an diejenigen zu verteilen, die am Rande des Existenzminimums leben. Allerdings: Die Lebensmittel können und sollen keine Grundversorgung darstellen – die ist Aufgabe des Staates - sondern eine Zusatzversorgung. Das gesparte Geld soll den Tafelnutzern einen kleinen finanziellen Spielraum für andere Dinge verschaffen. Doch in der Realität sind die Tafeln längst unverzichtbar, so der Vorsitzende der Tafel im westfälischen Soest, Michael König:

    "Wenn wir in Soest halt sehen, dass wir in der Woche circa 1000 Menschen versorgen, die jede Woche zu uns kommen, dann können wir einmal sagen, wir sind toll, aber ich finde, es wäre naiv, nicht die Frage zu stellen, warum kommen jede Woche tausend Menschen zu uns, was läuft hier eigentlich falsch, dass so viele Menschen in Armut leben, dass sie auf weitere Hilfen angewiesen sind."
    Für viele Tafelkunden, aber auch -mitarbeiter, hat die wachsende Armut eine klare Ursache: Hartz IV. Seit Einführung des Arbeitslosengeldes II vor gut fünf Jahren hat sich die Zahl der Tafeln fast verdoppelt. Die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, weist diese Sichtweise zurück:

    "Ich glaube nicht, dass man sagen kann, es gibt einen Ursachezusammenhang: Durch Hartz IV gibt es mehr Armut, sondern Armut ist auch sichtbarer, offener geworden, Armut hat auch ein Stück weit eine Stimme bekommen über die Tafeln. Das finde ich gut so, weil das dazu führt, dass Leute, die Hilfe brauchen, das auch artikulieren."
    Dass Tafeln Armut lediglich sichtbarer machen, hält Stefan Selke für eine fragwürdige Behauptung. Der Soziologe hat die Karlsruher Tafel ein Jahr lang begleitet und seitdem mehrere Bücher über die Tafeln geschrieben:

    "Tafeln deuten an, dass es hinter dieser Fassade der wohlanständigen zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Hilfe ein System gibt, an dem Armut gut aufgehoben ist. Und wenn man sich mit diesem ersten Blick zufriedengibt, hat das langfristig katastrophale Folgen, weil dann Handlungsbedarfe einfach verschwinden aus der Politik."
    Selke ist nicht der einzige Kritiker der Tafeln. Auch die beiden großen christlichen Wohlfahrtsverbände – in deren Trägerschaft sich knapp ein Drittel aller Tafeln befinden - haben Positionspapiere zu den Tafeln entwickelt. "Es wäre fatal" heißt es im Eckpunktepapier der Caritas, "wenn die politischerseits gern gesehene Tafelbewegung dazu beiträgt, dass sich der Staat mit Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückzieht." Das Positionspapier der Diakonie äußert ähnliche Befürchtungen:

    "Wir haben Fälle erlebt, wo uns Menschen, die zur Tafel gehen, die ALG II beziehen, also Hartz IV-Empfänger sind, uns erzählt haben, dass in den Ämtern gesagt wird, wenn das Geld nicht reicht, dann gehen sie doch zur Tafel. Und dahinter steckt so eine Haltung, dass Ämter, dass staatliche Stellen die Tafeln für selbstverständlich nehmen und damit auch instrumentalisieren."
    Die staatlichen Stellen, von denen Kerstin Griese vom Vorstand Sozialpolitik der Diakonie spricht, heißen Jobcenter oder ARGE. Gemeint ist in beiden Fällen jene Arbeitsgemeinschaft zwischen Kommune und Agentur für Arbeit, die für Hartz IV zuständig ist. Stefan Selke geht in seiner Kritik an den Behörden noch einen Schritt weiter:

    "Das eine ist, dass flächendeckend Menschen zur Tafel geschickt werden von den Sozialleistungsträgern, also von den ARGEs und darüber gibt es tatsächlich schriftliche Bescheide, die mir die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, gezeigt haben, sie werden zur Tafel geschickt mit dem Hinweis, da wird Ihnen geholfen. Das Zweite, das Abziehen oder Kürzen oder Anrechnen, das hab ich nur punktuell bisher erfahren, und da liegen mir keine schriftlichen Formulare vor oder irgendwelche Bestätigungen. Ich hab aber auch keinen Zweifel daran, den Menschen, die mir das erzählen, das nicht zu glauben, dass das angerechnet wird."
    Kürzung der Hartz-IV-Bezüge mit Verweis auf die Tafeln? Ein herber Vorwurf. Gerd Häuser, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel, reagiert auf solche Aussagen mit einem Kopfschütteln, in dem sich Verwunderung mit Ärger mischt:

    "Das Sozialgericht sagt: Wenn sie keine regelmäßige Versorgung garantieren können, können sie nichts kürzen, und wir garantieren keine regelmäßige Versorgung. Unsere Versorgung wird für die Einzelperson immer weniger, weil wir zwar mehr Ware haben, aber viel mehr Menschen, die zu uns kommen, das heißt, es wird weniger verteilt in vielen Tafeln, sodass ich das überhaupt nicht sehe und sozialpolitisch wär so eine Kürzung nach einem Sozialgesetzbuch schlichtweg nicht hinnehmbar."
    Andere Tafel-Engagierte bestätigen Häusers Sichtweise. In der Vergangenheit habe es zwar vereinzelte Versuche von Politikern gegeben, die Lebensmittel der Tafeln auf die staatlichen Sozialleistungen anzurechnen, doch rechtlich sei dies unhaltbar. Und tatsächlich sprechen die Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit diesbezüglich eine klare Sprache: Lebensmittelspenden der Tafeln werden dort als Zuwendungen der Wohlfahrtspflege eingestuft und sind damit nicht als Einkommen zu berücksichtigen, das eine Kürzung der Leistungen rechtfertigt. Vor allem aber machen viele Tafelmitarbeiter deutlich, dass sie in dem Moment, in dem Sozialleistungen mit Verweis auf ihr Engagement gekürzt werden, die Arbeit einstellen werden. Komplizierter ist die Frage, in welchem Umfang und aus welchen Gründen die Behörden Menschen an die Tafeln verweisen. Für manchen Sachbearbeiter ist es wohl der gut gemeinte Hinweis auf eine Institution, die eine akute Mangelsituation zu überbrücken hilft – gerade dann, wenn der Betroffene keinen Rechtsanspruch auf Leistungen hat – , andere dagegen scheinen die Tafeln als ein Art "Überbrückungsinstanz" zu missbrauchen. Eine Erfahrung, die auch Matthias Bruckdorfer gemacht hat, der das Positionspapier der Diakonie erstellt hat:

    "Wir haben einige Interviews geführt mit Betroffenen, die zur Tafel gehen und in diesen Interviews wurde von den Betroffenen geäußert, dass sie zum Beispiel zur Tafel gehen und es dann heißt: Wir können den Antrag, den Sie stellen bei uns auf Arbeitslosengeld II oder auf Sozialhilfe, im Moment nicht bearbeiten. Wir brauchen da eine gewisse Zeit, kommen Sie in sechs Wochen wieder."
    Doch auch ohne Verzögerung bei der Auszahlung bleibt angesichts des großen Andrangs bei den Tafeln eine ganz grundsätzliche Frage: Die nämlich, ob die Regelleistungen nach Hartz IV den im Grundgesetz verankerten Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit Blick auf die Berechnungsmethoden Anfang des Jahres verneint und die Politik aufgefordert, die Regelsätze neu zu berechnen. Eine Forderung, so Häuser, die die Tafeln schon lange erheben.

    "Wir haben verschiedene politische Forderungen: Eine ganz Wichtige war dasselbe, was jetzt auch das Verfassungsgericht gesagt hat, dass man unbedingt die Sätze für Kinder bei Hartz IV ändern muss. Das haben wir direkt gesehen bei unseren ganzen Kunden, der zweite Teil, dass Hartz IV zu niedrig ist, darüber brauche ich mich nicht zu verlieren, oder aber, dass es nicht geht in einem Land, dass sehr viele Alleinerziehende mit Kindern plötzlich so weit sind, dass sie die Tafeln brauchen, aber auch zum Beispiel die Menschen die voll arbeiten, dass die zu uns kommen, das halten wir im Prinzip auch für einen Skandal, das muss aber die Politik ändern, das können wir nicht ändern."
    Neben Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden und Rentnern stellen die Hartz-IV-Aufstocker mit rund 20 Prozent eine der großen Gruppen dar, die in Deutschland in Armut leben. Diese sogenannten "working poor" – unter ihnen Kraftfahrer, Verkäuferinnen oder Friseurinnen - müssten ohne ergänzende staatliche Leistungen mit weniger Geld auskommen als ein Hartz IV-Empfänger, der neben dem Arbeitslosengeld II noch die Kosten für die Miete erstattet bekommt. Deswegen sei sie skeptisch, was die Erhöhung der Regelsätze von Hartz IV angehe, erklärte Nahles kürzlich in Berlin auf einer Podiumsdiskussion zum Thema "Tafeln und Armut":

    "Ich habe dann zum Beispiel das Problem auf dem Tisch als Politiker, dass die Debatten nicht nur in der Bild-Zeitung, sondern auch von den einfachen Arbeitnehmern kommen, die mir sagen: Ja, wie denn! Also die rechnen mir dann vor, die Familie, die nicht arbeitet, die bekommt so und so viel, und ich gehe arbeiten und habe aber eben keinen Mindestlohnanspruch und lande dann da. Diese Debatten spielen natürlich zwei schwache Gruppen gegeneinander aus, und dieses gegeneinander Ausspielen ist aber ein Teil des kollektiven Bewusstseins, das ist für uns politisch nicht so ganz einfach zu händeln."
    Auch Michael König von der Soester Tafel sieht im gesellschaftlichen Bewusstsein das größte Hindernis bei der Überwindung von Armut:

    "Ich glaube schon, dass wir in Deutschland immer noch eine Sichtweise von Armut haben, dass das irgendwas mit Missbrauch, selber Schuld und nicht arbeiten wollen, zu tun hat, und ich glaube, dass dieses aus meiner Erfahrung vollkommen falsche Bild für von Armut betroffene Menschen schon mit eine Ursache dafür auch ist, dass es weiterhin eine nicht armutssichere Sozialhilfe bzw. Hartz IV-Sätze gibt."
    Wie tief Scham- und Schuldgefühle verankert sind, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass von 8acht Millionen Armen in Deutschland nur jeder Achte zu den Tafeln geht, sondern wird vor allem dann deutlich, wenn man mit Tafelkunden spricht: Fast jeder gibt zu, dass der erste Gang zur Tafel eine große Überwindung war. Auch für Ingo Koch. Der 36-jährige Vater von drei Kindern arbeitet bei der Tafel im Westerwaldkreis – zuvor war er einige Monate lang ihr Kunde. Seine größte Sorge dabei: "Was denken die anderen?"

    "Das ist halt die Angst, dass man Freunde verliert, ist vielleicht jetzt doof, hört sich vielleicht doof an, weil Freunde sollten gerade in so einer Situation zu einem stehen, aber da ist so der Schwerpunkt, und andererseits ist jetzt auch gerade für mich auch die Sache mit den Kindern, man hat immer versucht, alles fernzuhalten, damit ja keiner die Kinder angreifen kann in irgendeiner Art und Weise, hört sich auch komisch an, aber man hat als Eltern die meiste Angst drum."
    Auch für den Soziologen Stefan Selke ist die Frage nach den psychischen und emotionalen Kosten der Armut von zentraler Bedeutung. Die meisten von ihm befragten Tafelkunden fühlten sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft:

    "Das fand ich absolut schockierend, sie haben sich als dritt- und viertklassige Bürger bezeichnet und so was würde ich in den Mittelpunkt stellen und fragen, wie kann man es erreichen, dass Menschen sich nicht ausgeschlossen fühlen, dass sie sich als Teil der Gesellschaft fühlen, dass sie ne Aufgabe haben, also wenn Menschen sich aufgeben, wenn ganze Gruppen sich aufgeben und resignieren, also diese Armut der Seele ist viel schlimmer zu ertragen als dass jemand ein paar Euro mehr hat."
    Doch wie erreicht man die Teilhabe an der Gesellschaft? Durch Privatinitiative, wie es die Tafeln tun, oder durch das Beharren darauf, die Politik nicht aus ihrer sozialstaatlichen Verpflichtung zu entlassen? Wir können nicht darauf warten, bis die Politik tätig wird, betont die Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel, Sabine Werth:

    "Ich hab mal eine schöne Situation gehabt, ich war in Irland und hab einen Vortrag über Tafeln gehalten und die sagten: Ja, und wenn wir dann einen Kindergarten haben, der gestrichen werden muss, dann machen wir das nicht selber, sondern fordern so lange bei der Politik, bis wir das durchgekriegt haben, und wir hatten so einen Fall und nach fünf Jahren haben wir dann endlich die Renovierung durchgekriegt, und dann hab ich gesagt: So ein Blödsinn, so lang haben die Kids im Unrenovierten gelebt, wir würden uns Farbe sponsorn lassen und im bürgerschaftlichen Engagement das Ganze streichen, und parallel dazu die Presse einladen und darauf hinweisen, was für eine schreckliche Situation es ist, dass wir das selbst machen müssen."

    Selke: "Wenn man so argumentiert, ich mach es lieber selbst und warte nicht darauf, das ist natürlich ein gewisser Zeitgeist, das ist eine gewisse Ideologie, die kann in bestimmten Situationen genau sinnvoll sein, ja, die Eltern, die sich zusammentun, um die Schule zu streichen und nicht warten wollen, bis es der Staat macht, da geht es nicht um Existenzsicherung, da geht es um nice-to-have-Dinge, ja, es gibt ganz viele Bereiche, wo dieses ehrenamtliche Denken Sinn macht, aber Vorsicht ist da geboten, wo es etwas substituiert, was ein lange erkämpfter Konsens und Grundlage unserer Kultur ist, nämlich diese Existenzsicherung, die menschenwürdige Existenz und das ist eine Aufgabe des Sozialstaates."
    Selke sieht es deshalb äußerst kritisch, dass Politiker sich in der Öffentlichkeit als Unterstützer der Tafeln präsentieren. Um die Grenzen zwischen Staat und Zivilgesellschaft nicht zu verwischen, fordert er von der Politik, Schirmherrschaften zurückzunehmen:

    "Eine Schirmherrschaft für eine Tafel sendet exakt das falsche Signal, dass nämlich hier eine Scheinwelt entsteht, dass das so gewollt ist, und dass es legitim ist, dass es parallel zu dem sozialstaatlichen Pflichten auch noch ein solches Barmherzigkeitssystem gibt, und nur indem man diese Schirmherrschaften zurücknimmt und ganz klar adressiert, was die Aufgabe sein kann der Tafeln, kann da wieder eine Klarheit eintreten."
    Allerdings sieht es nicht so aus, als ob der Soziologe mit seiner Forderung Gehör findet. Beim bundesweiten Tafeltreffen in Berlin wird Bundesfamilienministerin Kristina Schröder am Samstag die Schirmherrschaft über den Bundesverband Deutsche Tafel von ihrer Vorgängerin Ursula von der Leyen übernehmen. Ehrenamtliches Engagement loben, anstatt die Hartz-IV-Sätze zu erhöhen? Den Vorwurf, dass die Politik sich auf den Tafeln ausruhe, weist die neue Schirmherrin zurück: Auch die vielen staatlichen Leistungen der sozialen Sicherung seien keine Garantie dafür, dass immer punktgenau in jeder Lebenssituation die optimale Hilfe vorhanden sei. Es werde deshalb immer ehrenamtliches Engagement und Eigeninitiative geben müssen. Auch aufseiten der Tafeln hat man mit der Nähe zur Politik kein Problem. Der Regierende Bürgermeister Berlins hat nicht nur die Schirmherrschaft für das Bundestafeltreffen übernommen, sondern auch eine Wette mit der Tafel abgeschlossen: Die Berliner spenden bis zum 5. Juni 50 Tonnen Lebensmittel, andernfalls hilft Klaus Wowereit einen Tag bei der Berliner Tafel mit. Eine Win-win-Situation könnte man sagen: Die Bedürftigen erhalten Lebensmittel, die Tafel findet mediale Beachtung, und der Regierende Bürgermeister profitiert vom guten Image der Tafeln. Vom einem Skandal der Armut oder einem Versagen der Politik ist bei all dem nicht die Rede. Man könnte also auch fragen: Machen sich nicht die Tafeln an der Verfestigung von Armut mitschuldig, indem sie die Politik aus der Verantwortung entlassen?

    Gerd Häuser: "Wenn wir so gesehen werden, dass wir Teil der Sache sind, nun dann, wenn ich in dem Fall die Not lindere, dann würde ich das auch in Kauf nehmen, wenn das einige Leute so sehen, aber der Großteil der Menschen bei uns in den Tafeln, die haben überhaupt kein Verständnis für solche Thesen, da geht's wirklich drum, krieg ich jetzt was?"
    Wer sich bei der Lebensmittelausgabe des Berliner Tafelprojektes LAIB und SEELE in der Kreuzberger Passionskirche umhört, findet schnell Bestätigung für die Aussage von Häuser.

    "Ich habe im Internet geschaut, wo ich mir helfen kann, weil ich bin alleinerziehend mit einem Kind, und wir sind dermaßen arm, also ich habe Krieg erlebt, ich komme aus Bosnien, war drei Jahre im Krieg, also kam hier als Kriegsflüchtling 93, habe schlimme Zeiten erlebt und das hier ist sehr gut, gab's bei uns nicht, ich bin sehr dankbar!"
    Zur Dankbarkeit gesellen sich bei manchen allerdings noch andere Gefühle.

    "Musst dir mal überlegen: Ey, wir leben im 21. Jahrhundert und es gibt Armenküchen. Uff der einen Art wollen sie alle so zivilisiert sein in diesem Staat, auf der anderen Art haben wir nen Zustand wie 1929. Hallo! Da ist doch was nicht richtig. Ich bin zufrieden, dass es so was gibt, sonst würde es sehr schlimm aussehen für uns, müsst ich klauen gehen oder weeß ick wat, um zu überleben, aber dadurch, dass LAIB und SEELE existiert, ist mir diese Schande erspart geblieben."
    Eine Protestbewegung ist aus der Wut und Enttäuschung vieler Tafelnutzer bislang allerdings nicht entstanden.

    Gerd Häuser: "So ein Aufstand von unten, es gibt ja manche Leute, die sagen, den verhindern wir, dadurch, durch unsere Arbeit, ich sehe den nicht, weil die Tafellandschaft und die Tafelkundschaft ist so heterogen, dass uns zum Beispiel nie gelingen wird, eine Riesendemonstration zu machen. Demonstriert denn irgendein Deutscher gegen die Bankengeschichte, das ganze Volk müsste rausgehen und sagen: Da machen wir gar nicht mehr mit in der Sache. Wie viel weniger kriegen Sie Menschen, die schon enttäuscht sind, die teilweise die Gesellschaft schon aufgegeben haben, weil die Gesellschaft gesagt hat: du gehörst eigentlich gar nicht mehr zu uns."
    Doch der fehlende öffentliche Protest sollte über eines nicht hinwegtäuschen: Die Tafeln wollen - und können - wegen ihrer Abhängigkeit von den Spendern nur eine Zusatzversorgung leisten und sind für Hunderttausende in Deutschland doch längst Teil der Grundversorgung geworden. Pfarrer Peter Storck:

    "Wir wollen eigentlich nicht dazu beitragen, dass das Recht auf Grundsicherung und zwar auf ausreichende Grundsicherung ausgehöhlt wird, durch eine sogenannte Almosengesellschaft, dass sich die Gesellschaft einfach darauf verlässt, dass jeder, der Grundsicherung bekommt, irgendwo sich in einer Armenküche noch irgendwie versorgen kann. Und von da her ist die ganze Tafelbewegung auch in einem Dilemma: Wir wollen die einzelnen unterstützen, und wir wollen auch ne solidarische Gesellschaft unterstützen. Aber wir wollen nicht dazu beitragen, dass Arme unterversorgt werden."