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Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes

Schon der Titel ist eine Herausforderung. Pierre Boudieu, Doyen der französischen Soziologie, weiß genau, in welches Wespennest jahrhundertelanger Diskussionen der Ästhetik er mit dieser Formulierung sticht: Der Kunst Regeln geben wollen, ist für viele gleichbedeutend mit der Zerstörung gerade dessen, was das Eigentümliche der Kunst ausmacht, und das heißt ihre Regellosigkeit, ihre Freiheit und Unberechenbarkeit des Schöpferischen. Für viele Diskurse über Kunst ist es nach wie vor ein Credo bzw. ein dem spezifischen Gegenstand geschuldetes Grundpostulat, daß die Unsagbarkeit und Unverständlichkeit des Kunstwerkes nichts Negatives darstellt, sondern nachgerade den Königsweg zu einer neuen Erfahrung bahnt. Die vielbeschworene Eigenart des Ästhetischen liegt gerade in dieser Grenzerfahrung, in der die begriffliche Strenge der bildlichen Plastizität weicht und etwas auf die spezifische Weise künstlerischer Allegorie eben anders gesagt wird.

Michael Wetzel |
    Bourdieu sind diese Bedenken gegen eine analytische Zergliederung des Kunstgenusses sehr wohl bekannt. Er ist ihnen als Soziologe noch im besonderem Maß ausgesetzt, das heißt als jemand, der individuelle und singuläre Phänomene auf generelle gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen pflegt. Jeder Soziologie der Kunst haftet schon a priori der Odem eines Reduktionismus an, dem es gar nicht um die Substanz des Schönen und Erhabenen geht, sondern nur um die Funktion des Ästhetischen im Zusammenhang der materieller Interessen von Institutionen und Ökonomien. Bourdieu versucht daher auch gar nicht, seinen fachspezifischen Ansatz zu verteidigen: Er geht gleich zum Gegenangriff über, indem er die Feinde sozialwissenschaftlicher Sichtweisen mit der karikaturhaften Befürchtung zitiert, es ginge bei solchen Interpretationen nur darum, die menschlich herausragende Errungenschaft der künstlerischen Empfindung "auf Umfragen zu unserem Freizeitverhalten zu verkürzen".

    Bei solchen Vorurteilen fällt es Bourdieu natürlich leicht, das Geschütz der Aufklärung in Anschlag zu bringen. Die Frage gilt dann gar nicht mehr der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Kriterien der Kunst. Zu entscheiden ist vielmehr grundsätzlich, ob man sich dem Willen zu wissen stellt, oder lieber im Namen einer obskuranten Kunstbegeisterung dem huldigt, was Bourdieu abschätzig als "Niederlage des Wissens" bzw. als "Widerstand gegen Analyse" bezeichnet. Ja, der Soziologe holt noch weiter aus und schwingt sich auf bis zur Höhe philosophischer Spekulation: Mit Platon wird das ästhetisierende Interesse am Sichtbar- und Fühlbar-Machen abgewertet zugunsten einer Konstruktion von Systemen intelligibler Beziehungen. Mit anderen Worten: Die Soziologie arbeitet selbst an der Wahrheit der Kunst mit und interveniert auf potenzierende Weise im Feld der literarischen oder bildenden Ästhetik:

    "Tatsächlich ist es am Leser, darüber zu entscheiden, ob es stimmt, daß - ... - die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und Rezeption des Kunstwerks die literarische Erfahrung keineswegs reduziert und destruiert, sondern vielmehr noch steigert: Wie anhand von Flaubert zu sehen sein wird, hebt sie zunächst die Einzigartigkeit des "Schöpfers" zugunsten der sie gedanklich nachvollziehbar machenden Beziehung nur dem Anschein auf, um sie am Ende der Rekonstruktion des Raums, dem der Autor als konkreter Schnittpunkt angehört, um so eindrucksvoller wiederzufinden."

    Bourdieus Analyse der Regeln der Kunst stellt damit eine der für die moderne Ästhetik nachgerade legendäre ideologische Position in Frage, nämlich die des Autors und Künstlers als autonomen Schöpfers seiner Werke. Wenn sich Bourdieu dabei aber gleich in der Reihe der - mit Freud gesprochen - narzißtischen Kränkungen der neuzeitlichen Subjektzentriertheit - nach Kopernikus, Darwin und Freud selbst - einreihen möchte, überschätzt seine Originalität: In spektakulären Aufsätzen der Sechzigerjahre haben Literaturwissenschaftler wie Barthes und Wissenschaftshistoriker wie Foucault den Tod des Autors verkündet. Und nicht zuletzt seit der Jahrhundertwende beginnt die Herrscherposition des schöpferischen Genies ins Wanken zu geraten, nachdem unter anderen Mallarmé und Duchamp das künstlerische Schaffen auf das Befolgen von Spielregeln zurückgeführt haben.

    Bourdieu greift diesen Gesichtspunkt auf und erweitert ihn zur Theorie des literarisch-künstlerischen Feldes, in dessen gesamtgesellschaftlicher und multifaktorieller Weite sich die Entstehung von Kunstwerken abspielt. Eröffnet wird die Analyse am Beispiel des schon genannten Flauberts, bzw. genauer genommen einer strikt immanenten Lektüre seines Romans "Die Erziehung des Herzens", die in der Struktur des sozialen Raums der Erzählung genau diejenige des sozialen Raums von Flaubert selbst wiederentdeckt. Exemplarisch fungiert hier der Schriftsteller als Medium sozialer und psychologischer Strukturen, die ihn determinieren, die er aber umgekehrt, indem er sie in seinem Werk zum Ausdruck bringt, in neuem Licht darstellen und anders erscheinen lassen kann. Das Paradigma, das für Bourdieu dieses Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Feld potentieller Kräfte und der innovativen Leistung des Künstlers bestimmt, ist das Spiel. Die Regeln der Kunst sind die Regeln eines Spiels, und zwar eines ernsthaften Spiels, das den Glauben an den Wert des Spiels voraussetzt, ohne daß die Ergebnisse des Spiels feststehen.

    Insofern spricht Bourdieu von Regeln und nicht von Gesetzen der Kunst und erinnert an die etymologische Verwandschaft des lateinischen Ausdrucks für Spiel und des ästhetischen Begriffs der Illusion. Definierbar sind Spielregeln, Spielgewinne und Einsätze, die das literarisch-künstlerische Feld nur als potentiellen Raum umschreiben. Die ästhetische Fiktion realisiert sich in diesem Raum des Möglichen gerade als Abstand von der gegebenen sozialen Realität, obgleich sie deren Spielregeln folgt - was Bourdieu zu der umgekehrten Einsicht veranlaßt, daß die der Fiktion gegenübergestellte Realität nur Gegenstand einer kollektiv verbürgten Illusion ist. Insofern hat die soziologische Analyse der Regeln der Kunst auch Auswirkungen auf die Analyse der Genese des sozialen Feldes. Sie überschreitet aber die ästhetische Illusion im Sinne einer Entzauberung, indem sie jenen Abstand selbst thematisiert und die Differenz zwischen Macht- und Kunstspielen markiert. Das Aufdecken und Benennen der gesellschaftlichen Spielregeln entzaubert also die künstlerische Wirklichkeitssuggestion und entblößt den Mechanismus ihrer Genese, indem es so etwas wie die sozialgeschichtliche Wahrheit des Kunstwerks restituiert:

    "Um die Struktur völlig zu entschleiern, die der literarische Text im Akt der Entschleierung selbst wieder verschleiert, muß die Analyse die Erzählung eines Abenteuers auf das Protokoll einer Art experimenteller Montage reduzieren. Verständlich, daß ihr etwas zutiefst Entzauberndes anhaftet. ... Der "Realitätseffekt" ist jene sehr spezifische Form von Glauben, die die literarische Fiktion produziert vermittels eines verleugneten Bezugs zum bezeichneten Realen, der zu wissen erlaubt, zugleich aber ablehnt zu wissen, was es wirklich damit auf sich hat. Die soziologische Lektüre bricht den Zauber. Indem sie das geheime Einverständnis aufhebt, das Autor und Leser in der gleichen Beziehung der Verleugnung der durch den Text zum Ausdruck gebrachten Realität vereint, offenbart sie die Wahrheit, die der Text zwar äußert, aber auf eine sie wieder nicht äußernde Weise; zudem bringt sie a contrario die Wahrheit des Textes selbst zum Vorschein, dessen Besonderheit sich gerade dadurch auszeichnet, daß er das, was er sagt, nicht so sagt wie die soziologische Lektüre."

    Mit dieser sehr dichten Formulierung hat Bourdieu seine Position der Kunst gegenüber auf den Punkt gebracht. Es ist eine klassische Position von Aufklärung, die für sich den Ort der Wahrheit reklamiert, von dem aus sie gegen die Strategien der Verschleierung eines pseudoreligiösen Glaubens und Nichtwissens zu Felde zieht. Der Soziologe erkennt zwar ausdrücklich die Andersartigkeit des künstlerischen Textes an, behält sich aber allein das Privileg des Durchblicks und Überblicks vor. Es geht ihm nicht um den ästhetischen Reiz, nicht um Wirkung, sondern um die Genese dieses Effekts, d. h. um "Erzeugungsformeln", die den Werken zugrundeliegen. Und diese konfigurieren sich für Bourdieu allein in dem, was er das literarische Feld nennt, dem der Schriftsteller als untergeordnetes Element von den Vermittlungsinstanzen des Marktes und des Mäzenatentums erst zu dem gemacht wird, was er dann im Register ästhetischer Werte darstellt.

    Mit Flaubert hat Bourdieu einen exponierten Vertreter derjenigen ästhetischen Tendenz des 19. Jahrhundert ausgewählt, die gerade das Ziel einer autonomen Kunst verfolgte. In diesem Sinne demonstriert der Held der "Erziehung des Herzens" die Unvereinbarkeit von Kunst und Geld bzw. propagiert exemplarisch für die Epoche die ästhetische Genese einer anderen, nicht akkumulierenden, sondern verausgabenden Ökonomie des Gesellschaftsspiels, in der es vieldeutig heißt: "wer verliert, der gewinnt!" Gemeint ist mit anderen Worten die Genese einer künstlerischen Bohème, die ihre Autonomie im Bruch mit der bürgerlichen Ordnung gewinnt, mithin in der gezielten Regelverletzung einen Innovationsschub auslöst, der sich am Gegenpol zu der den herrschenden Mächten oder dem Markt unterworfenen Produktion ansiedelt und die Richtlinien einer neuen Legitimität des Künstlers als Künstler formuliert.

    Als gewissermaßen Gesetzgeber oder Gründungsheld dieses Bruchs mit der Bourgeoisie wird dagegen Baudelaire zitiert, bei dem sich zugleich der Übergang von der antibürgerlichen künstlerischen Lebensweise zur Inszenierung dieses Daseins als Kunstwerk in einer Weise vollzieht, die exemplarisch ist für den Immanenzeffekt dieser ästhetischen Übertretung der gesellschaftlichen Konventionen. Die Bohème bildet das literarisch-künstlerische Feld innerhalb der sozialen Felder von Macht und Ökonomie als eine Gegengesellschaft aus, die sich immer wieder gegen die Tendenzen der Vereinnahmung, der Assimilation zur Wehr setzen muß:

    "Damit wird deutlich, daß das literarisch-künstlerische Feld sich in einer "bürgerlichen" Welt und gegen sie ausbildet, einer Welt, die nie zuvor auf so brutale Weise ihre Werte und ihren Anspruch geltend gemacht hatte, die Legitimationsinstrumente in Kunst wie Literatur gleichermaßen unter ihre Kontrolle zu bringen, und deren Ziel es ist, vermittels der Presse und deren Schreiberlingen eine würdelose und entwürdigende Definition der kulturellen Produktion zu oktroyieren."

    Bourdieu zitiert u. a. die Klagen Baudelaires und Flauberts über die bedrohlich Verfälschung des Kunstbetriebes durch entwürdigende Marktmechanismen und markiert damit in der Mitte des 19. Jahrhunderts den historischen Beginn der Debatte um das Verhältnis von Kunst und Kommerz, die bis heute andauern. Gerade in dem Moment, wo die moderne Kunst ihre Autonomie erlangt, ist sie in besonderem Maße der Bedrohung durch außerästhetische Faktoren ausgeliefert. Daher der Rückzug in die Verweigerungsgesten des "gescheiterten" oder "verfemten Künstlers", der aber seinerseits nur der Demütigung durch Anpassung an das System um den Preis der Degradierung zum Außenseiter entgeht. Zwar setzt sich die "anti-ökonomische" Ökonomie der reinen Kunst mit ihren Werten der Uneigennützigkeit und Interessenlosigkeit, mit ihrer Ablehnung des Kommerzes und des Profits ganz klar von der "ökonomischen" Logik der literarisch-künstlerischen Industrie eines Handelns mit Kulturgütern ab; aber diese Anökonomie der Gabe des unvergleichlichen d. h. unbezahlbaren Kunstwerkes muß letztlich doch mit der Gegengabe in Form von Anerkennung und Profit rechnen, nur - wie Bourdieu nicht ohne Ironie feststellt - kaschiert durch die großzügigen Geste der Erwartungslosigkeit und durch das eingeschobenes Zeitintervall eines späteren Sich-Auszahlens.

    In diesem Sinne zeigt Bourdieu, daß die klassischen Begriffe künstlerischer Subjektivität, nämlich Autorschaft und Künstlertum, in ihrer emphatischen Gebrauchsweise keinerlei übergeschichtlich metaphysischen Wert besitzen, sondern in der Genese des literarischen Feldes im 19. Jahrhundert als spezifische strategische Spieleinsätze zum Zuge kommen. Schon seit seinen frühen Arbeiten zu den symbolischen Formen der Gesellschaft hat Bourdieu sich mit dieser Entzauberung des Geniekultes der großen Männer in Literatur und Kunst beschäftigt, indem er die Konstruktionsregeln ihres ästhetischen Image aufdeckte und den Künstler-Habitus (von Verhaltenscodes bis hin zu Kleiderordnungen) als Distinktions-Mechanismus bestimmte. Für den modernen, autonomen Künstler ist es zunächst einmal wichtig, sich vom Bürger auch äußerlich zu unterscheiden, aber die Mittel oder - moderner gesprochen - die gesamte mediale Apparatur, die den Mythos von Künstler und seiner pseudogöttlichen Kreativität und Originalität im wahrsten Sinne des Wortes propagiert, werden gerade von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren entfalteten kommunikativen Technologien bereit gestellt.

    Die Frage der "Schöpfung" verweist über die Verklärung zum Charisma demiurgischer Fähigkeiten Einzelner vielmehr hinaus auf die materiellen Herstellungsbedingungen, die als kollektive viele vor allem auch außerkünstlerische Faktoren versammeln und in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern kultureller Repräsentation bestehen. Bourdieu spricht von der "Erfindung" des modernen Künstlers durch die gesellschaftliche Konstruktion autonomer Produktionsfelder, wobei nicht nur ökonomische Faktoren eine Rolle spielen, sondern auch die Konstruktion spezifischer Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien, d. h. die Erarbeitung eines genuin ästhetischen Wahrnehmungsmodus:

    "Man muß nur einmal die verbotene Frage stellen, um sogleich zu sehen, daß der Künstler, der das Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes erschaffen wird: durch alle jene nämlich, die ihren Teil dazu geben, daß er "entdeckt" wird und die Weihe erhält als "bekannter" und anerkannter Künstler - die Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthändler usw. So ist der mit Kunst Handelnde (Galerist, Verleger usw.) zum Beispiel jener, der die Arbeit des Künstlers ausbeutet, indem er mit dessen Produkten Handel treibt, und untrennbar damit aber auch jenr, der, indem er das Produkt der künstlerischen Herstellung auf den Markt der symbolischen Güter trägt, durch seine Ausstellung, Veröffentlichung oder Inszenierung diesem eine um so bedeutendere Konsekration sichert, je arrivierter und anerkannter er selbst ist. Allein dadurch trägt er dazu bei, den Wert des Autors, für den er eintritt, zu schaffen, daß er ihm zu Bekanntheit und Anerkennung verhilft ..."

    Damit wird das ganze Ausmaß der von Bourdieu eingangs beschworenen narzißtischen Kränkung deutlich, die vor allem die Nobilitierung von Schriftsteller und Künstler betrifft, wobei Bourdieu darauf hinweist, daß die von ihm ansonsten nicht weiter unterschiedenen Felder des Literarischen und des Künstlerischen sich wechselseitig in ihren Emanzipationsbestrebungen bestätigen. Der jahrhundertelange Wettstreit vor allem zwischen Dichtung und Malerei scheint Bourdieu dabei nicht zu interessieren, ihm geht es mehr um die gemeinsamen Züge wie die permanente Produktion und Reproduktion des Illusionseffekts als Verhaftetsein im gesellschaftlichen Spiel. Einen Künstler oder Autor verstehen, heißt für Bourdieu folglich, seine Position im entsprechenen ästhetischen Feld bestimmen, mit anderen Worten seine Rolle im Spiel zu analysieren, sein "Sich-Investieren", "Sich-Einbringen" als Spieler, ohne daß der Wert des Kunstwerks durch ihn bestimmt würde. Es ist vielmehr das gesamten Produktionsfeld, das an seiner Entstehung mitarbeitet, zugleich aber den Glauben an die schöpferische Macht des Künstlerindividuums schüren muß, um den Fetischcharakter des Kunstproduktes in seinem ökonomisch nicht ableitbares Mehrwert aufrechtzuerhalten.

    Bourdieu erweist sich in seiner Sichtweise auf dieses Phänomen wieder ganz als Soziologe: Der Wirksamkeit ist für ihn vergleichbar mit den Riten der Zauberei, wie sie z. B. die Magie primitiver Gesellschaften beherrschen. Und in der Tat ist er nicht der erste, der die Figur des modernen Künstlers als Schamanen beschrieben hat. Zugleich gerät die Frage nach der Qualität des Kunstwerkes völlig außer Sicht und bemißt sich der ästhetische Wert nur noch an der Perfektion, mit der Autoren und Künstler das Spiel der illusorischen Fetischisierung beherrschen bzw. durchschauen. Das beste Beispiel ist natürlich Duchamp mit seinen ready mades, den Gebrauchsgegenständen wie Flaschentrockner oder Pinkelbecken, die im Kraftfeld künstlerischer Praktiken z. B. der Montage, der Signatur, der Präsentation musealen Wert erhalten. Aber auch Mallarmé kann diese Tendenz für die Literatur bestätigen, indem er für seine Poesie das Prinzip des Würfelwurfes entdeckt, der aus 25 Buchstaben eine unendlich Menge von Ausdrucksformen zaubert.

    In diesem Sinne ist auch der Diskurs über das Kunstwerk kein bloß nachträgliches Mittel mehr zu seinem besseren Erfassen, sondern ein "Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts". Auch hierfür lassen sich bei Duchamp zahlreiche Beispiele finden, der nicht nur immer mehr über den kreativen Akt sprach und schrieb statt ihn ausführen, sondern auch seine künstlerische Tätigkeit zunehmend auf das Schachspielen verlagerte. Dieses gleichsam Spielen mit dem Spiel reagiert auch auf das grundsätzliche zeitliche Problem einer Dialektik der Distinktion, die das Privileg der Originalität altern läßt und eine klassisch gewordenen Avantgarde durch eine neu ankommenden Jugend ersetzt. Bourdieu sieht das literarisch-künstlerische Spielfeld heimgesucht von der agonalen Kategorie des Kampfes, die das gesellschaftliche Feld der Macht auch als Kampf um Marktanteile bestimmt und auch die Kunstproduktion vor Probleme der Rekrutierung neuer Kundenkreise stellt, wie sie Bourdieu am Beispiel von Parfummarken beschreibt:

    "Die neue Avantgarde hat um so weniger Mühe, die von der arrivierten Avantgarde aufgegebene Position (oder, in der Marketingsprache, die "Nische") zu besetzen, als sie sich zur Rechtfertigung ihrer ikonoklastischen Neuerungen nur auf die Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition der Praxis auf die Reinheit, Verkanntheit und Ärmlichkeit des Beginnens zu berufen raucht; die literarische oder künstlerische Häresie findet gegen die Orthodoxie statt aber zugleich auch mit ihr: im Namen dessen, was diese einst war."

    Dieses Problem der Avantgarde, das von Bourdieu als das der Neu-Positionierung im Wechselverhältnis von spezifischen Positionen des literarisch-künstlerischen Feldes und allgemeinen Disposition des gesellschaftlichen Feldes herausgestellt wird, verweist für ihn noch einmal in aller Deutlichkeit auf die Bedeutung des Historischen und die Notwendigkeit, eine Kunstgeschichte vor falschen Verewigungen zu bewahren. Die "wahre" Bedeutung von Kunstwerken liegt für ihn vielmehr in der historischen bedingten Weise des Künstlers, die Welt ästhetisch wahrzunehmen, und sagt so etwas aus über die sozialgeschichtlich markierten Konfigurationen des Spiels zwischen Macht, Tausch, Illusion und Magie. Was diese Regeln der gesellschaftlichen Repräsentation des Ästhetischen anbelangt, so sind Bourdieus Analysen sicherlich in ihre differenzierten und kenntnisreichen Durchführung unbestreitbar und erhellend. Was ihre Rezeption allerdings erschwert, ist der sehr selbstbezogene Stil der Argumentation, dessen aleatorische, redundante Abfolge sich mit anderen Beiträgen zu Thema wenig abgibt. Erstaunlich ist z. B., daß der nur en passant erwähnte Walter Benjamin mit seinen einschlägigen Arbeiten zur Entstehung der modernen Informations-Kultur keinerlei Berücksichtigung findet, ja daß überhaupt die Frage der modernen Medien-Technologie völlig ausgeklammert wird. Bourdieu zieht sich hier auf den eher klassisch Standpunkt zurück, daß über Geschmack nicht gestritten werden kann: "Kurz, mag man sich über Geschmack auch streiten können - wie jeder weiß, nimmt der Austausch über Präferenzen in der alltäglichen Konversation viel Raum ein -, so ist doch sicher, daß die Kommunikation über diese Dinge mit sehr vielen Mißverständnissen behaftet ist: Die Klassifikationsschemata, die sie ermöglichen, tragen nämlich auch dazu bei, sie praktisch wirkungslos zu machen."

    Bourdieu hält sich zumindest in Hinsicht der eingangs von ihm reklamierten soziologisch zu restituierenden Wahrheit des Kunstwerkes gegen Ende der über 500 Seiten starken Ausführungen eher zurück und gibt angesichts der historisch variablen Kontexte zu bedenken, daß es nur eine Wahrheit gibt, nämlich die, daß um die Wahrheit gekämpft wird. Nicht zuletzt an dieser Stelle kommt sein normatives Interesse zum Ausdruck, das sich im Übergang von der Künstlerfigur zum Intellektuellen bekundet, der - wie zuerst Zola mit seiner Intervention in der Dreyfus-Affäre - seine ästhetische Position zu einem politischen Engagement nutzt. Was darin aber über das Künstlerische der Kunst ausgesagt wird, bleibt obsolet, weil es sich nämlich den Regeln der Kunst zu entziehen pflegt.