"So, und Sie wollen also zur See? Kleines Abenteuer erleben, hmmh? Warum dieser radikale Wunsch, das Festland hinter sich zu lassen?"
"Wir haben den Roman gewählt, weil er so eine wahnsinnig große Bandbreite an Möglichkeiten hat, zu erzählen. Du hast erstmal so eine Abenteuergeschichte, die eine Klammer bildet, um in so einen Kosmos einzusteigen, wo es um philosophische Abgründe geht, menschliche Abgründe."
Roscha Säidow ist Autorin und Regisseurin des Ensembles: Die Retrofuturisten. Aus "Moby Dick", dem Roman von Herman Melville wird Puppen- und Objekttheater.
"Der Walfang, der wird erst 1996 verboten. Und bis dahin habt ihr Zeit."
"Moby Dick versus Ahab": zwei Teile hat das Stück. Zunächst werden wir, das Publikum, gebrieft: sehen die ganze Handlung des weltliterarischen Wälzers als Pop-Kasperletheater, aus einer drei Meter mal achtzig Zentimeter großen Guckkastenbühne. Ismael, der Hauptdarsteller, und der einzige, der Kapitän Ahabs Hetzjagd nach dem weißen Wal überleben wird, ist aktualisiert zum Hipster mit Modebart. Und die Puppe von Irokesen-Harpunier Queequeg sieht so aus wie in der Hollywood-Verfilmung von 1956. Gleich wird deutlich, dass die mediale Rezeption von "Moby Dick" seit 1851 auch eine sehr wichtige Rolle spielt. Dramaturg Dirk Baumann:
"Mitte des 19. Jahrhunderts, da spielt der Walfang eben einfach eine wirtschaftliche Rolle. Wenn wir heute schauen: Was hat der Walfang uns heute zu sagen? Nicht mehr viel. Aber das Motiv, was dahinter steckt, ist eben interessant. Es geht nicht nur darum, Wale zu fangen, auszunehmen und den Tran zu gewinnen. Das Ziel heißt: den einen Wal zu fangen."
"Tod dem Wal! Tötet Moby Dick!"
Eine Schlüsselszene, im Roman wie auch bei den Retrofuturisten: Ahab nagelt ein Goldstück an den Mast, als Symbol für das neue Ziel: Rache am weißen Wal. So bringt er die Mannschaft der Pequod hinter sich. Wer Moby Dick als erster sieht, soll die gleißende Münze bekommen. Schon alleine optisch ist diese Szene wie gemacht für die Retrofuturisten. Drei Overheadprojektoren schaffen auf der Bühne ungewöhnliche Lichtverhältnisse, eine Art lyrischen Glanz, ganz anders als zum Beispiel eine Videoprojektion.
„Sie stürzen sich in die Boote, immer schön dem Wal hinterher. Pullt! Ein Königreich für einen Motor!"
Echte Schauspieler mit Riesenpuppenköpfen
Fünf Spieler hat das Stück, zwei von den Retrofuturisten und drei vom Schauspiel Dortmund. Im ersten Teil sind sie alle Puppenspieler. Das mussten die Dortmunder eigens lernen. Dann schließt das Kasperletheater. Und die Bühne öffnet sich zur ganzen Breite. Auch formal: Jetzt sehen wir echte Schauspieler oder Spieler mit Riesenpuppenköpfen, Schattenspiel und immer wieder diese atmosphärischen Overhead-Projektionen: verschiedene Tinkturen sind da in Wannen auf den Overheads und reagieren scheinbar chemisch, Holzwolle deutet, an die Wand gespiegelt, Seegras an.
"Der Fisch stinkt vom Kopf her"
Wir sehen jetzt einen Remix des Plots. Diese Verschwörungsszene mit der Goldmünze ist eine aktuelle Zusammenrottung von Extremisten. Die Rote Armee Fraktion zum Beispiel hatte in den 1970ern eine Zeit lang, für die interne Kommunikation, Melvilles Roman als Code genutzt: Andreas Baader war Ahab und der weiße Wal war der Leviathan, der Staat, der Feind.
"Wir wissen das und das war auch eine Inspirationsquelle für uns. Aber wir machen keinen Abend über die RAF, sondern es geht um die darüber stehenden Phänomene. Für uns ist die Frage: Was kann ein Leviathan noch alles sein?"
"Also wir fragen uns, ausgehend von der Theorie-Pequod, diesem theoretischen Anordnungsding: Da ist so eine Zelle auf See, die ihren eigenen Regeln folgt, die einem Anführer folgt, die einen Feind jagt. Wie können wir das heute übersetzen, was könnte das sein?"
Und plötzlich ist der Walfang ein Verbrechen
Sie übersetzen es im Remix-Teil als völlig freie Verstrickung von Motiven und Assoziationen. Als wären wir in einem Traum, ist der Walfang plötzlich ein Verbrechen, die Besatzung der Pequod, das sind jetzt vermummte Radikale, und die Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki, Helmut Karasek und Sigrid Löffler sezieren das Delikt wie Psychoanalytiker. Ihre Köpfe sind fast einen Meter groß. Ein seltsamer Traum. Ästhetisch ist das ein Augenschmaus. Und als Fazit dieses immer auch politischen Abends bleibt stehen: Für komplexe Dinge gibt es keine einfachen Lösungen.
"Verdammt, ja, hier: Meine Haltung, ist das die Haltung eines Mannes? Verdammt, ich bin jung, das sind die Dreißiger. Ich will mein Leben zurück!"
Ein besonders schönes Bild: Während Ismael spricht, wird sein Text gleichzeitig von drei Spielern in unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf Overheadfolie geschrieben und projiziert. Und obwohl es im ganzen Stück keine eigentliche Moby-Dick-Puppe gibt, wird der weiße Wal trotzdem mehrdimensional lebendig.
Termine: Premiere war am 27. März, weitere Aufführungen am 4. und 16. April 2015.