"Wir haben Shit-Storms, wir haben aber auch, das ist die neueste Volte, so Shaming-Plattformen im Internet, die bis in unseren ganz normalen Alltag hineinreichen: Wenn Menschen auf Autobahnbrücken stehen und Autofahrer, die drängeln, die sich nicht nett verhalten, fotografiert werden, deren Autokennzeichen ins Netz gestellt werden – das ist die klassische Prangerfunktion – sie werden öffentlich gemacht und sie werden moralisch verurteilt."
Professorin Ute Frevert, sie forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zur Geschichte der Gefühle, hat in ihrer aktuellen Publikation die "Politik der Demütigung" – so der Buchtitel – untersucht. Ehemals stand der Pranger auf dem Marktplatz, heute steht er im Internet. Früher errichtete ihn die Staatsgewalt, heute besorgt das die Gesellschaft selber, – und das sei sehr bedenklich, kritisiert Ute Frevert.
"Im nächsten Moment macht man vielleicht selber etwas falsch und findet sich dann selber auf einer Prangerliste im Internet wieder, weil man nackig an einem Strand an der Ostsee herumgelaufen ist, der nun mal gerade nicht für FKK ausgewiesen ist. Es gibt tausend Möglichkeiten für uns Bürger, andere Bürger an den Pranger zu stellen. Wenn wir damit anfangen – wir haben alle gute Rechte – sind wir ein einziges Volk von Denunzianten."
Scham als sensibler Punkt des Menschen
Beschämung und Demütigung sind Machtpraktiken, die an einem sehr sensiblen Punkt des Menschen ansetzen: bei seiner Scham. Was bedeutet Scham? Warum ist sie so fundamental für die menschliche Existenz und für jede Kultur?
In der Bibel heißt es:
"Und Eva nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Manne, der bei ihr war, auch davon, und Adam aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze." (Genesis 3, 6 ff)
Die Publizistin Andrea Köhler hat den mythischen Ursprung der Scham, die biblische Urszene, in ihrem Essay mit dem Titel "Scham. Vom Paradies zum Dschungelcamp" analysiert.
"Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis. In dem Moment wird ihnen klar: a) dass sie nackt sind – b) dass sie ein Geschlecht haben, dass sie sich voneinander verschieden sind. Und sie fangen an sich zu bekleiden. Und dann kommt die nächste Szene, da kommt Gott in den Garten."
In dieser Szene spricht Gott zu Adam:
"Wo bist du?" Und Adam sprach: "Ich hörte dich im Garten, fürchtete und schämte mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich." – Und Gott, der Herr, sprach: "Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du etwa gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?" (Genesis 3, 10 ff)
Andreas Köhler interpretiert das wie folgt:
"Was die Geschichte uns eigentlich sagen will, ist, dass die Scham selber immer verbunden ist mit einem Moment der Selbsterkenntnis. Das Interessante an diesem Gefühl – nenne ich es mal – aber es ist mehr als ein Gefühl, es ist auch ein Bewusstseinszustand, ist, dass es immer an beidem Anteil hat, sowohl an unserem Körper und in jedem Fall an unserer Sexualität, an unserer Triebnatur, als auch an unserem Bewusstsein. Das ist eine alte These, dass der Mensch sich seiner Triebnatur schämt."
Distanz zur animalischen Seite
Zur Erkenntnis braucht es einen gewissen Abstand, sonst sieht und erkennt man nichts. In der Selbsterkenntnis geht der Mensch auch auf Distanz zu seiner animalischen Seite. Dort wo seine Natur unabweisbar hervortritt, in der Nacktheit, schämen sich Adam und Eva voreinander und vor Gott. Und sie schämen sich dafür, dass sie Gottes Gebot übertreten haben. In der Urszene der Scham zeigen sich drei Merkmale, die bis heute für jeden Akt des Schämens konstitutiv sind, wie Köhler sagt:
"Es gibt drei Dinge, die da passieren: Das erste ist das, wofür ich mich schäme. Das zweite ist die Situation, in der ich mich schäme. Das dritte ist die Instanz, vor der ich mich schäme. Es gibt 100.000 Dinge, für die ich mich schämen kann: von den schiefen Zähnen bis zu einer mangelnden Bildung bis zu ich weiß nicht was."
Sich schämen kann von unterschiedlicher Intensität sein. Das reicht von einer flüchtigen Anwandlung, über peinliche Verlegenheit bis hin zu massiven körperlichen Reaktionen: Beklemmung, Erröten, Herzklopfen – und der Blick geht zu Boden, erläutert die Professorin Hilge Landweer, sie lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin.
"Scham hat zunächst einmal eine leibliche Seite. Wenn wir uns schämen, haben wir das Bedürfnis im Boden zu versinken, ohne dass das möglich ist. Das weist schon einmal darauf hin, dass es einen leiblich hemmenden Impuls gibt. Wir haben dies Gefühl, ohnmächtig der Situation ausgeliefert zu sein. Und würden uns gern aus der Situation zurückziehen, aber das ist eben nicht möglich."
Unser Alltag kennt eine Fülle von banalen Situationen, wo wir uns schämen, sei es, dass wir ohne Brieftasche an der Supermarktkasse stehen oder dass wir bei einer Lüge ertappt werden, sei es, dass wir unangemessen gekleidet sind oder soziale Erwartungen nicht erfüllen, weil wir bei einer Prüfung oder im Bewerbungsgespräch gescheitert sind.
Soziale Erwartungen
Zu jeder Kultur, zu jeder Gesellschaft gehören nicht nur Normen und Regeln, sie baut ebenso soziale Erwartungen auf und errichtet ästhetische Standards. So kommt es, dass Menschen sich für eine Zahnlücke oder andere banale Dinge schämen, für die man sich eigentlich nicht zu schämen bräuchte, weil man nicht dafür verantwortlich ist. – Wie verhält es sich mit Armut oder Arbeitslosigkeit? Hilge Landweer:
"Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir uns sehr stark selbst zurechnen, an welcher gesellschaftlichen Stelle wir gerade sind, was unsere Position ist – weswegen sich viele Menschen für Arbeitslosigkeit schämen, obwohl sie eigentlich wissen, dass sie dazu keinen Anlass haben. Auch das wäre sozusagen eine falsche Scham, aber gemäß der gesellschaftlichen Ideologie, dass wir selbst verantwortlich sind, gewissermaßen unseres Glückes Schmied sind, fühlt man sich dann doch irgendwie verantwortlich, damit entsteht dann auch ein Gefühl der Scham, so dass man nicht überall offensiv sagen würde: ja, ich bin arbeitslos."
Doch Scham ist nicht absolut festgeschrieben. Wenn viele sich gegen diese Scham-Zumutung wehren, wenn sie Erklärungen folgen, dass andere – die Regierung, die Verhältnisse, die Globalisierung oder die Migranten an der Arbeitslosigkeit schuld seien, dann kann Scham in Zorn umschlagen, Psychologen nennen es eine Affektumkehr.
Philosophie-Professorin Hilge Landweer sagt:
"Scham und Zorn sind entgegengesetzte Gefühle, leiblich gesehen, und auch was die Normen angeht, gegen die verstoßen wird. Leiblich ist Zorn und auch Empörung ein Gefühl, was nach außen geht, was mit leiblicher Weitung zu tun hat, es ist zentrifugal, man spricht auch davon: Wut sprüht nach allen Seiten, oder: Zorn bricht aus mir heraus – das heißt, es ist also weitend im Gegensatz zum Engenden in der Scham."
Hat das Schamgefühl zugenommen?
Zorn und Scham überwältigen als unmittelbare Affekte. Aber für die Scham gilt, dass sie eine soziale Emotion darstellt, das heißt geprägt ist durch das, was in einer bestimmten Epoche und Gesellschaft als beschämend gilt. Und unter Kulturhistorikern ist es umstritten, ob das Schamgefühl in der modernen Gesellschaft stärker ist als in der Vergangenheit.
Auf der einen Seite steht der Soziologe Norbert Elias. Er vertritt in seinem Hauptwerk "Der Prozess der Zivilisation" die These, dass seit dem Beginn der Neuzeit, besonders durch die höfische Kultur, die Schamschwelle gestiegen sei. "Was rülpset und furzet ihr nicht. Hat es euch nicht geschmeckt?" – ein Wort, das Martin Luther in seinen Tischreden vor 500 Jahren zugeschrieben wird, sei heute, schrieb Elias, undenkbar. Andrea Köhler skizziert das Denken des Soziologen:
"Elias hat immer das Beispiel des mittelalterlichen Bades gebracht: früher war man in der Beziehung, auch was die Sexualität angeht oder die ganzen Körperausscheidungen, offenbar sehr viel freizügiger, auf jeden Fall nicht so verschämt. Und im Laufe des Zivilisationsprozesses haben die Menschen seiner Ansicht nach die Schamgrenzen verinnerlicht und nuanciertere Umgangsformen entwickelt."
Die genaue Gegenthese dazu hat Hans-Peter Duerr in seinem umfangreichen Werk "Der Mythos vom Zivilisationsprozess" aufgestellt: im Vergleich zu archaischen und traditionellen Gesellschaften habe die Scham in der Gegenwart abgenommen.
Köhler betont allerdings, dass Duerr die These in einer bestimmten Epoche aufgestellt hat.
"Der Zeitpunkt, zu dem Hans-Peter Duerr diese Beobachtungen machte und auch gesammelt hat, waren nun ausgerechnet die siebziger Jahre, von denen wir ja wissen, dass dort ein großer Befreiungsschlag durch die Gesellschaft ging, gerade was die Sexualität anging."
Gegenläufige Tendenzen
Andrea Köhler selber vertritt in ihrem Essay eine dritte These. Sie erklärt, dass man heute Tendenzen in beide Richtungen feststellen könne, sowohl in Richtung Schamverlust, als auch in Richtung einer Schamzunahme. Beide Tendenzen, Schamabnahme und Wahrung der Scham, findet man oft in ein und demselben Phänomen. Die Schamgrenzen hätten sich gegenüber früher einfach nur verschoben, zum Beispiel im Verhältnis zum Körper.
"Man schämt sich heutzutage für völlig andere Dinge, als man das früher getan hat. Vor ein paar hundert Jahren war es für eine Frau noch völlig unmöglich, einen nackten Fuß zu entblößen. Und heutzutage entblößt man den ganzen Körper, nur: man schämt sich dann. Und gerade die jungen Mädchen – da herrscht ein unglaublicher Terror, Perfektionsterror – schämen sich für jeden Makel; alles was nicht aussieht wie ein Modelkörper, wird mit Scham belegt. Altern wird mit Scham belegt – etwas was früher wie ein Bonus war, nämlich ein Zuwachs an Würde, an Macht, an Autorität – ist heute absolut schambelegt und wird versucht wegzustecken und zu enhancen, wie man hier sagt."
In der Geschichte war das Gefühl des Schämens nicht nur etwas, was vom Individuum selbst ausging, die Staatsgewalt hat Beschämung gezielt als Machtinstrument eingesetzt. So wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein Übeltäter nicht nur juristisch mit Gefängnis oder Geldstrafen belegt, sondern auch mit so genannten Schand- und Ehrenstrafen. Sie wurden auf dem Marktplatz in den Pranger gespannt, wo die Menge sie verhöhnen und bespucken konnte. Ute Frevert:
"Wenn man sich vorstellt, wie unbequem die Situation im Pranger ist, dass man mit dem Kopf sich durch ein bestimmtes Loch stecken muss, dass die Arme weit ausgebreitet sind, das hält man nicht lange aus. In der Regel war es so, dass Personen, die zu Schand- und Ehrenstrafe verurteilt worden sind, dort vielleicht eine oder zwei bis drei Stunden am Tag standen, dann aber an mehreren folgenden Tagen. Diese Pranger standen im Zentrum der Stadt vor der Kirche auf dem Marktplatz, wo immer viel los war, und – das war extrem wichtig: ohne Publikum wäre das Ganze sinnlos gewesen."
Wende in der Zeit der Aufklärung
Die Historikerin Ute Frevert hat in ihrem Buch "Politik der Demütigung" festgestellt, dass vor 200 Jahren im Gefolge der Aufklärung eine entscheidende Wende eintrat: Man begann im Namen der Menschenwürde für die Abschaffung des Prangers zu kämpfen.
"Interessanterweise ist das, was uns heute so geläufig ist, nämlich dieser Begriff der Menschenwürde, einer der bereits um 1800 gebraucht worden ist. Mit Menschenwürde haben die Kritiker dieser öffentlichen Demütigungsrituale argumentiert, um diejenigen, die sich für diese Rituale eingesetzt haben, zu überzeugen, dass es nicht mehr in die Zeit passt, dass es grausam ist, nicht weil es den Menschen Schmerzen zufügt, sondern weil es sie in ihrer menschlichen Würde herabstuft, und wie es damals hieß, auf den Status eines Tieres verweist."
Nur Tiere würden mit einem Stock geschlagen, argumentierten die juristischen Vorkämpfer der Menschenwürde. Denn neben dem Pranger gehörte Prügel zu den vormodernen Ehrenstrafen. Tatsächlich haben die Justizreformer es geschafft, in einem Streit, der sich über Jahrzehnte bis 1848 hinzog, sowohl Pranger also auch Prügel aus dem Strafgesetzbuch zu verbannen. Doch das betraf nur die Öffentlichkeit: Hinter den Türen der Institutionen, beim Militär, in Internaten, Schulen und auch in den Familien gab es weiterhin Prügelstrafen, Demütigungen und Beschämungen aller Art. Ute Frevert schildert einen Fall an der Universität Hamburg aus dem Jahr 1951.
"Die Universität hat das Urteil der Hamburger Strafkammer, was diesen Studenten wegen Homosexualität, aber auch noch wegen schwerer Beleidigung verurteilt hat, – hat dieses Urteil am Schwarzen Brett der Universität ausgehängt und weitere Disziplinarregelungen danach folgen lassen, so dass dieser junge Mann sich in der Tat an den Pranger gestellt fühlte und er hat dagegen protestiert, und hat gesagt, das ist eine Verletzung seiner Menschenwürde, und da hatten wir damals schon ein Grundgesetz, was die Achtung der Menschenwürde im ersten Artikel festgeschrieben hat."
Beschämung versus Demütigung
Frevert insistiert dabei auf einen wichtigen Unterschied zwischen Beschämung und Demütigung, obwohl beide Begriffe in der Alltagssprache synonym gebraucht werden.
"Beschämung funktioniert so: Sie gehören einem Dorfkollektiv an, in dem es nicht o.k. ist, jemanden aus diesem Kollektiv zu bestehlen oder mit der Frau des anderen zu schlafen. Dann werden Sie öffentlich dafür zur Rechenschaft gezogen, in dem man Sie lächerlich macht, in dem Sie auf einen Schandwagen gestellt werden und durch das Dorf paradiert werden. Das Ende vom Lied ist, dass Sie in der Regel sich dann auch schämen, auch bereuen, was Sie getan haben, vielleicht sogar Buße tun und am Schluss dann wieder aufgenommen werden. Das würde man sozusagen reintegrative Beschämung nennen."
Bei der Beschämung, so Frevert, wird eine Person nicht wirklich aus der Gruppe ausgeschlossen, sondern nur zeitweise als Mitglied suspendiert, am Ende aber kann sie wieder integriert werden. Dagegen ziele eine Demütigung darauf ab, eine Person grundsätzlich auszuschließen.
"Stellen wir uns eine normale Situation auf dem Schulhof vor, dass jemand über einen anderen Schüler sagt, der stinkt, der wäscht sich nicht, was vollkommen aus der Luft gegriffen ist, aber er hat genügend Leute, die das bestätigen, die sich in dieses Mobbing, würden wir heute sagen, mit einbringen. Und dieser gemobbte Schüler steht dann als Gedemütigter dar. Das ist eine Art von Stigmatisierung, von Ausschluss aus der Gruppe, die nicht damit verbunden ist, dass man ihm das Eintrittsticket noch einmal hinterher reicht."
Andrea Köhler ist gleichwohl mit Freverts Unterscheidung zwischen einer ausschließenden Demütigung und einer reintegrativ angelegten Beschämung nicht einverstanden, da ihr hierbei die Beschämung zu gut wegkäme.
"Jede Beschämung macht einen furchtbar allein, man fühlt sich mutterseelenallein auf der Welt. Und ich glaube, das ist doch das, warum die Scham ein so mächtiges Gefühl ist: Wir wollen anerkannt sein, weshalb ich denke, dass die Scham an eines der ursprünglichsten Gefühle – nämlich die Angst, verlassen zu werden – andockt. Deshalb verhalten wir uns so, dass wir nicht anstößig sind, dass andere uns mögen, dass andere uns nicht ausschließen."
Neue Instanzen der Demütigung
In ihrer Untersuchung der letzten 250 Jahre hat Ute Frevert einen grundlegenden Wandel festgestellt: Die Instanz der Demütigung, so ihre These, hat gewechselt. War es ehedem die Staatsgewalt, die demütigte und beschämte, so ist diese Macht heute an die Gesellschaft und deren Medien übergegangen. Frevert diagnostiziert:
"Der Staat zieht sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück aus diesem Demütigungsgeschäft, vor allem das Strafrecht verzichtet zunehmend darauf. Aber die Gesellschaft verzichtet interessanterweise nicht darauf. Es gibt gerade in der sich neu entwickelnden und zu großer Macht aufsteigenden Medienlandschaft immer mehr Möglichkeiten, Menschen, die einem aus politischen Gründen, aus sozialen Gründen nicht lieb sind, an den Pranger zu stellen. Und davon machen die Massenmedien, die Massenpresse, dann aber auch später das Fernsehen, Rundfunk und heute das Internet weidlich Gebrauch."
Früher geschahen Demütigungen vor den Augen einer begrenzten Öffentlichkeit, aber im globalen Netz sind sie für jeden und auf ewig sichtbar. Und im Schutz weitgehender Anonymität kann auch jeder, so Ute Frevert, seinen eigenen Pranger im Netz errichten.
Andrea Köhler sieht die Macht der Medien ambivalent. Denn neben den negativen Auswüchsen einerseits bietet das Internet andrerseits Opfern, die lange ohnmächtig waren, die Chance und auch die Macht, aus der Schweigespirale auszubrechen und Täter anzuklagen, wie es in der MeToo-Debatte geschieht.
Köhler wendet allerdings gegenüber Frevert ein, dass auch der Staat im Westen weiterhin Demütigungen und Beschämungen exerziert.
"Nehmen wir Amerika: Es ist richtig, dass das Internet und die Öffentlichkeit eine Verstärkungsfunktion übernommen haben, aber gleichzeitig ist die Frage: Wer inszeniert diese Beschämungsgeschichten: Guantanamo, diese unrühmlichen Szenen, in denen Häftlinge nackt an Hundeleinen gebunden wurden, die dann um die Welt gingen – das hat im Internet stattgefunden, aber inszeniert wurde das vom Militär. Trumps Twitter-Shamings von irgendwelchen Schönheitsqueens, das kommt direkt aus dem Weißen Haus, im Fall von Trump ist es nicht die Öffentlichkeit, es ist das Medium, was seine Tweets weiterverbreitet."
Selbstbehauptung
Wie kann man den neuen Formen der Demütigung und Beschämung im Netz begegnen? Wie kann man sich als Einzelner und als Gesellschaft dagegen verwahren, dass wir zum Spielball eines anonymen Netzes werden. Hilge Landwehr empfiehlt, die Medienerziehung zu verbessern und appelliert an eine kritische Öffentlichkeit. Ute Frevert meint, es gebe nicht nur die Möglichkeit, vor Gericht gegen die Verletzung der Persönlichkeitsrechte zu klagen.
"Ich finde viel wichtiger, dass wir uns als Nutzer des Internets und der sozialen Medien eindeutig positionieren und die Dinge nicht einfach nur wegklicken, sondern dass man sagt: 'Nein das geht mir jetzt zu weit, dazu schreibe ich etwas und verwahre mich dagegen'. Und damit eine Kontroverse eben nicht nur vor dem Strafgericht auskämpfen, sondern in aller Öffentlichkeit, dass wir uns als Bürger gegen diese Übergriffe massiv verwahren und sagen: 'We dislike!'"
Andrea Köhler schließlich erinnert daran, welche positive und wichtige Rolle in all dem unserem Schamgefühl zukommt.
"Ein ganz wichtiger Aspekt des Schamgefühls ist natürlich auch, dass es die Intimität schützt, den innersten Seelenkern, die Integrität schützt. Das Schamgefühl sorgt auch dafür, dass wir uns nicht zu weit herauswagen, das ist heutzutage wichtiger denn je, denn gerade junge Menschen werden dazu verführt sich zu exponieren und sind dann oft mit katastrophalen Konsequenzen konfrontiert, da ist das Schamgefühl eine Hilfe, die eigene Integrität zu schützen und andere nicht auszuschließen in solchen Situationen."