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Die Rückeroberung des Stadtraumes für die Kultur

Als "schrumpfende Stadt" ist Halle an der Saale eine neuartige Herausforderung an die Stadtplanung. Das Werkleitz-Festival nutzt seine Chance, auf Planungslücken aufmerksam zu machen. Die Schauburg in der Altstadt ist einer von neun Orten, der dieses Jahr bespielt wird. Das Ziel: die Rückeroberung des Stadtraumes für die Kultur.

Von Carsten Probst | 09.10.2012
    Die Schauburg mitten in Halles Altstadt hat fürwahr eine bewegte Geschichte, und man sieht sie ihr an. 1897 vom Architekten Otto Gisecke erbaut, diente sie zunächst als Fahrradrennbahn, danach als Tanzsaal, als Verkaufsfläche für Gebrauchtwagen und ab 1927 als Kino. Nach Enteignung des Besitzers durch die Nazis zog zu DDR-Zeiten erneut ein Kino hier ein, dessen Besitzer aber 1963 wiederum vom Staat enteignet wurde. Seit einer Zwischennutzung als Küchenstudio steht die Schauburg leer und ist heute die wohl eindrucksvollste aller modernen Ruinen, die das diesjährige Werkleitz-Festival bespielt.

    Fast ein Wunder, dass dieser Ort noch einmal für ein Publikum freigegeben wurde. Über eine seltsam gut erhaltene Marmortreppe gelangt man auf die einstige Empore des völlig verwahrlosten Kinosaals, die rohen Wände sich schwarz von Nässe, schwere Bretter hindern am Betreten einsturzgefährdeter Bereiche. Durch das offene Dachgebälk schimmert das Abendlicht. An der Stirnseite, wo sich früher einmal die Bühne befunden haben muss, hat der Medienkünstler Jan-Peter E.R. Sonntag eine große Leinwand anbringen lassen und lässt darauf seine multimediale Collage "Sonntags im Park" laufen. Ihr Titel spielt an auf ein riesiges und historisch bedeutendes Wandbild des mexikanischen Malers Diego Rivera, "Ein Sonntag im Alameda Park", in dem es um die traumartige Verwirklichung der mexikanischen Revolution geht. Schauplatz ist der Alameda Park, wo alle bürgerlichen Schichten versammelt sind und unabhängig von ihrer sozialen Zugehörigkeit die Freizeit verbringen können.

    Jan-Peter Sonntag gehört zu den Stipendiaten des "EMARE MEX"-Programms, eines deutsch-mexikanischen Austausches von jungen Medienkünstlern, die im Wesentlichen das Programm des Werkleitz-Festivals bestreiten. Visualisierungen von hoher Dichte sind dabei entstanden, wie jene Sonntags in der ehemaligen Schauburg oder wie ein animierter Puppentrickfilm von Dina Roncevic im einstigen "Hotel Weltfrieden", das seit 1990 leer steht. Wie auch bei der Schauburg prägt die Tristesse des Ortes den Gesamteindruck, die noch gut erhaltenen, fahl beleuchteten Zimmer prägen sich dem Besucher fast stärker ein als die gezeigten Arbeiten.

    Die Entwicklung des Werkleitz-Festivals selbst ist erstaunlich, das doch einst in dem anhaltinischen Dörfchen Werkleitz gleichsam in einer Scheue gegründet und mehrere Jahre auch veranstaltet wurde, mehr Treffpunkt für Kunststudenten der Burg Giebichenstein als ein öffentlicher Anlass.
    Vor einigen Jahren zog man an den ehemaligen Halleschen Volkspark am Rand der Altstadt. 2009 bespielte man erstmal eine Kaufhausruine im Zentrum - nun sind es schon gleich neun aufgegebene Orte mitten in der Hallenser Altstadt. Das Werkleitz-Festival hat sich damit endgültig von der Bedeutung als reines Medienfestival gelöst - im Unterschied zur bekannteren transmediale in Berlin oder der ars electronica in Linz. Stattdessen verlegt man sich inzwischen auf eine Doppelstrategie, die Medienkunst mit einer Rückeroberung des Stadtraumes für die Kultur zu verbinden.

    Halle als eine "schrumpfende Stadt" des Ostens stellt völlig neuartige Herausforderungen an die Stadtplanung, und das Werkleitz-Festival unter seinem Leiter Peter Zorn hat seine Chance erkannt, hier als Mitspieler zu wirken, auf die Geschichte verlorener Orte im Stadtbild aufmerksam zu machen, sie neu zu markieren, Entwicklungen anzumahnen. Die vermeintliche Virtualität der Medienproduktionen wird dadurch auf konkrete reale Orte angewendet, ohne selber illustrativ zu sein. Die Strategie erinnert an die künstlerischen Hausbesetzungen im New Yorker SoHo der 60er-Jahre, aber sie hat jenseits aller öffentlichen Förderungen bislang der Versuchung widerstanden, ein Hochglanzevent zu werden. Das ist vielleicht das wesentlichste unter allen Verdiensten ihrer Organisatoren.