Nikolaj schlendert die Allee Nr. 3 entlang. Sie verläuft schnurgerade, so wie alle Wege in dieser Datschen-Genossenschaft. Büsche und Sträucher ragen über die Gartenzäune. Die meisten Häuschen sind bescheiden, auf einigen Grundstücken steht sogar nur ein Geräteschuppen. Nikolaj zeigt auf ein Schild an einem Zaun. "Zu verkaufen" steht darauf.
"Der Eigentümer ist alt und nicht mehr bei Kräften. Er kommt nur noch, um das Gras zu mähen, mehr schafft er nicht."
550 Parzellen für die Arbeiter einer Fabrik
Nikolaj ist selbst schon Rentner, liefert aber noch in Teilzeit Getränke aus. In der Datschensiedlung engagiert er sich ehrenamtlich: Er ist Sprecher seiner Allee. Das Amt stammt noch aus Sowjetzeiten. Die Siedlung im Süden Russlands, nahe Rostow am Don, wurde vor rund 60 Jahren von einer Mähdrescherfabrik für ihre Arbeiter angelegt: 550 Parzellen, auf dem Reißbrett gezogen, die Wege durchnummeriert.
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Russische Datscha - Ein paar Quadratmeter Glück".
Nikolaj grüßt ein paar Männer, die am Weg eine Wasserleitung verlängern. Einer schraubt, die anderen schauen zu. Nikolaj ist seit Jahren in der Genossenschaft, hat damals ein brachliegendes Grundstück gekauft. Seitdem hat er ein wenig Infrastruktur in die Siedlung gebracht.
"Ich mag Komfort. Hier gab es vorher zum Beispiel keinen Trinkwasseranschluss. Wasser wurde aus dem Fluss hergepumpt, drei Mal die Woche, streng nach Plan, nur zum Gießen erlaubt. Ich habe einen Bekannten, der hat eine Firma, die Wasserleitungen verlegt. Ich habe ihn vor Jahren deshalb mal angesprochen. Er meinte dann: 'Wenn du Vorsitzender der Datschengenossenschaft wirst, kommen wir ins Geschäft. Mit dem jetzigen Vorsitzenden will ich nichts zu tun haben.' Der war kein anständiger Mann. Ich habe dann tatsächlich für den Vorsitz kandidiert und versprochen, eine Wasserleitung zu legen. Aber ich habe nicht genügend Stimmen bekommen."
"Sein Kostenvoranschlag lag bei 150.000, meiner bei 90.000"
Die Wasserleitung wurde dann trotzdem gelegt, der alte Vorsitzende war unter Zugzwang. Doch es gab neue Konflikte.
"Ich war Mitglied im Vorstand. Wenn irgendwelche Arbeiten anstanden, hat der Vorsitzende einen Kostenvoranschlag eingeholt. Ich habe ein zweites Angebot eingeholt. Sein Kostenvoranschlag lag bei 150.000 Rubel. Meiner bei 90.000."
Der Vorsitzende saß schon seit vielen Jahren auf dem Posten. "Und er saß zugleich in der Führungsetage der Mähdrescherfabrik. Das war eine eingeschworene Clique. Wenn hier auf der Datscha einer den Mund aufgemacht hat, dann bekam er Probleme auf der Arbeit."
"Die Leute stehlen ja überall"
Nikolaj nicht. Er kaum von außen, hat nie in der Fabrik gearbeitet und konnte es sich deshalb leisten, die Dinge anzusprechen.
"Die Leute stehlen ja überall. Gut. Aber er stahl nicht nur, er raubte in großem Stil. Hier liefen Summen durch, das waren Millionen! Die Mähdrescherfabrik hat noch brauchbares Baumaterial abgeschrieben und es für die Datschen verwendet. Den Gewinn haben sie geteilt."
Die Fabrik gibt es nicht mehr, den Vorsitzenden auch nicht. Die Genossenschaft finanziert sich inzwischen ausschließlich über Mitgliedsbeiträge.
Nikolaj schnippt eine Mücke weg. Er ist an/bei seinem Grundstück angekommen. Wein rankt über den Carport. Obstbäume biegen sich unter der Last der Früchte. Rosenstöcke säumen den Weg zum Haus.
Als Nikolaj das Grundstück kaufte, stand dort nur ein Schuppen. Er hat ihn durch ein gemauertes Einfamilienhaus ersetzt, mit zwei Zimmern, Bad und Küche. Seine Frau Natalija schätzt das sehr: "Mein Mann ist so fleißig, er arbeitet immer. Ich wundere mich, woher er die Kraft nimmt. Es ist ja immer etwas zu tun: Aufräumen, im Haus fegen, Unkraut zupfen, gießen."
Früher war vorgeschrieben, was gepflanzt werden musste
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Gewächshaus wachsen Gurken und Tomaten. Nikolaj hat die Obstbäume veredelt, der Birnbaum trägt sechs verschiedene Sorten. Heute kann in der Datschen-Genossenschaft jeder pflanzen, was er will, und bauen, wie er will. Zu Sowjetzeiten war das undenkbar.
"In der Genossenschaft gab es einen Agronomen. Er bestimmte, welche Bäume gepflanzt wurden. Eigentlich hatten alle die gleichen Bäume. Auch die Schuppen waren identisch."
Wohnen durfte man dort nicht.
"Die Pestizide haben alles getötet, auch den Gärtner"
"Gut war nur eines: Die Genossenschaft verteilte Pestizide, und der Agronom ging herum und kontrollierte, ob sie auch sofort eingesetzt wurden. Vier bis fünf Tage hatte man Zeit. Es stank so sehr, es war nicht auszuhalten. Die Pestizide haben alles getötet, auch den Gärtner. Das war gut. Aber dass alle Bäume identisch sein sollten, war saudumm."
Natalija serviert Tee. Nikolaj stellt eine Schüssel mit frischen Erdbeeren auf den Tisch. Er ist zufrieden. Mit seinem Leben und seiner Datscha.
"Ich war beruflich einige Male im Moskauer Umland unterwegs. Dort bauen sie, wonach ihnen der Sinn steht. Sogar eigene Golfplätze, meine Güte, und Paläste, da kostet allein schon das Gartentor so viel wie meine ganze Datscha."