Nein, einen Sympathiewettbewerb hat Katja Schönherr in ihrem zweiten Roman nicht veranstaltet. Schon eher eine große Konkurrenz der Gekränkten, Beleidigten und Miesepetrigen. Im Mittelpunkt steht eine Familie, von der man meinen könnte, sie hätte den Familienknatsch erfunden. Der Romantitel bringt die beständige Misere auf den Punkt. Er lautet: "Alles ist noch zu wenig". Mit anderen Worten: Zu kurz gekommen fühlen sich hier alle, und sie wissen auch genau, wer dafür verantwortlich ist, nämlich die werten Anverwandten, Angeheiratete eingeschlossen.
Vorwürfe und schlechtes Gewissen
Als Mutter Inge, inzwischen 84, in ihrem Haus die Treppe hinunterstürzt und sich den Oberschenkelhals bricht, beginnt eine neue Runde des familiären Nahkampfs. Nun kann sich Sohn Carsten nicht mehr hinter beruflichen Pflichten und dem Scheitern seiner Ehe verstecken. Er muss zum Krankenhausbesuch anrücken, womit Mutter Inge die schöne Gelegenheit erhält, ihm mal wieder genau zu erklären, was er im Leben alles falsch macht und wie schrecklich er sie vernachlässigt.
"Seit sein Vater tot ist, bereitet seine Mutter ihm unentwegt ein schlechtes Gewissen. Als bestünde ihr Daseinszweck nun ausschließlich darin, ihm auf die Pelle zu rücken. Nie ist es genug. Dies soll er noch machen, und jenes soll er noch machen. Und das auch noch schnell, bevor er geht. Und überhaupt, am besten gleich wieder bei ihr einziehen."
Auch die Schauplätze des Romans sind als Gegensatz konstruiert: Hauptstadt und Provinz. In Berlin verdient Carsten sein Geld mit dem Marketing für einen Gefriertütenhersteller, was leitmotivisch gut zur familiären Gefühlskälte passt. Die Mutter dagegen lebt im Heimatdorf Munßig, wo das Elternhaus steht.
Dort hat sie einst im Büro der LPG gearbeitet und dort schmollen die Leute nun vor sich hin, weil sie noch im Nirgendwo hocken, während andere längst weggegangen sind. Katja Schönherr, die in Dresden aufgewachsen und zum Leben und Arbeiten in die Schweiz gegangen ist, umreißt die ostdeutschen Befindlichkeiten ihrer Figuren mit wenigen aber markanten Strichen.
Familientypischer Missmut
Der prägende Einfluss auf das lausige Familienklima kommt von Mutter Inge. Spöttische Anklagen und weinerliche Schuldzuweisungen gehören seit je zu ihren bevorzugten Kommunikationsformen. Dadurch hat sie Carsten zum herzlosen Egoisten verzogen und ihren zweiten Sohn, den schwulen Jens, auf Nimmerwiedersehen aus dem Haus geekelt. Auch die Enkelin Lissa, die als Scheidungskind zwischen Carsten und seiner Ex-Frau pendelt, bleibt davon nicht unberührt. Sie praktiziert den familientypischen Missmut als woker Teenager. Ihrer hellwachen Empörung entgeht kein Übel der Welt, weder Eurozentrismus noch CO2-Sünden, blöde Werbung oder männliches Dominanzgehabe.
"An Tagen wie heute vergisst Lissa zwar nicht, dass sie sich eine freundlichere, friedlichere Welt wünscht. Aber sie schafft es nicht, ihr Denken auch zu fühlen. Beim Umsteigen rempelt Lissa sogar absichtlich Leute an. Als Strafe dafür, dass sie nicht so viel nachdenken wie sie. Dass sie es immer noch schaffen, die Klimakrise auszublenden."
Katja Schönherr beschreibt die Gemütsverfassung ihrer Figuren mit analytischer Klarheit in einer sachlichen Sprache der Tatbestände und Handlungsschritte. Manchmal jedoch sprühen auch satirische Funken. So zeigt sich Inge trotz ihres Alters immer dann in Topform, wenn es darum geht, mit wehleidig-tyrannischen Allüren den Rest der Familie zur Schnecke zu machen. Das wirkt durchaus amüsant und erinnert an den verbreiteten Komödientypus der herrschsüchtigen Übermutter.
Aber so lustig möchte Katja Schönherr gar nicht sein. Stattdessen bringt sie als Begründung für Inges Verhalten historische Ursachen ins Spiel. Die von ihr ausgehende Gefühlskälte hat in Wahrheit mit emotionaler Sprachlosigkeit zu tun, und die ist eine Folge der verdrängten historischen Traumata von Krieg und Nachkriegszeit.
"Es verunsichert sie, Menschen zu erleben, die erklären können, was in ihnen vorgeht. Sie hat das nicht gelernt. Inges Mutter hat nie darüber gesprochen, wie es war, unentwegt darauf zu warten, dass ihr Mann doch noch heimkehrt."
Keine Besserung in Sicht
Allerdings gewinnt dieses Thema kein eigenes Gewicht, es verflüchtigt sich in den ewigen Kabbeleien zwischen Inge und ihren Mitmenschen. Nachdem die alte Frau wieder in ihr Dorf zurückgekehrt ist, kommen Sohn und Enkelin für einige Wochen, um sie zu versorgen. Dramaturgisch heißt das: Drei Menschen, die sich partout nichts schenken wollen, müssen miteinander auskommen.
Damit könnte der Roman die Frage stellen, ob es in dieser Familie auch Chancen zur Veränderung, zur Weiterentwicklung gibt. Doch die Autorin verzichtet darauf, ihrem Plot eine neue Wendung zu geben. Das hat zur Folge, dass die Geschichte anfängt, auf der Stelle zu treten. Die Perspektiven des Erzählens bleiben so eng wie die Herzen der Figuren. Am Ende gilt die Ansage des Romantitels genauso wie am Anfang: "Alles ist noch zu wenig".
Wenn die Autorin zeigen wollte, dass die soziale Stimmung leidet, wenn alle mies drauf sind, dann ist ihr das immerhin unterhaltsam gelungen. An prägnanten Alltagsbildern aus dem durch Hemmungen und Missgunst verbitterten Leben fehlt es in ihrem Roman nicht. Aber viel Mitgefühl und Interesse für ihre Figuren vermag Katja Schönherr nicht zu mobilisieren. Dafür ist diese Familienbande einfach zu farblos und zu eindimensional.
Katja Schönherr: "Alles ist noch zu wenig"
Arche Verlag, Zürich.
320 Seiten, 23 Euro.