In seinem Essay bezeichnet Michael Schmidt diesen Umgang mit Musik auch als "die schöne Kunst des Mixens". Er entwickelt darin die neuen Möglichkeiten einer multimedialen Vermittlung von Musik. Schmidt ist Redakteur beim Klassik-Portal des Bayerischen Rundfunk. 2009 erschien sein Buch "Philosophy of Media Sounds".
Die schöne Kunst des Mixens
Zur multimedialen Vermittlung von Musik
Zur multimedialen Vermittlung von Musik
Von Michael Schmidt
Nach einem Satz aus Milan Kunderas Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" glich die Musik zu Zeiten Bachs einer Rose im unendlichen Schneefeld der Stille. Heute haben iPod, CD, Radio und Fernsehen Musik nicht nur universell verfügbar gemacht, sondern auch universell gegenwärtig. In Kaufhäusern oder Flughäfen - Musik ist zu einem ständigen Begleiter unseres Alltags geworden, zu einer "musique d'ameublement", um mit Erik Satie zu sprechen, einer klingenden Tapete, die wir gewollt oder ungewollt hinnehmen, weder hin- noch weg- sondern meistens nebenbeihörend.
Im Kapitel "Fülle des Wohllauts" seines Romans "Der Zauberberg" hat Thomas Mann wesentliche Aspekte medialen Musikkonsums vorgezeichnet. Er beschreibt hier, wie die Hauptfigur, Hans Castorp, nach seinem Kartentick einer neuen Leidenschaft verfällt:
"Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren künstlerischen Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon."
Das Kapitel schildert auch, was der Musik selbst in ihrer technischen Reproduktion widerfährt:
"eine perspektivische Minderung ... als ob man ein Gemälde durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtete, so daß es entrückt und verkleinert erschien."
Außerdem wird die Abgelöstheit der Musikkonserve vom Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung angesprochen. Castorp schätzt diese "Reinigung oder Abstraktion", die ihm "unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, eine große menschliche Kontrolle" erlaubt. Während er "in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge" sitzt, lässt er Musikausschnitte "auch einzeln, außer dem vertrauten Zusammenhange öfters laufen".
Die technische Reproduktion, die Thomas Mann neben dem medialen Konsum von Musik im "Zauberberg" anspricht, begreift Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" als Verlust der "Aura", der "einmaligen Erscheinung", von der die er- und verklingende Musik, die "auratische Kunst schlechthin", besonders betroffen ist. Weil er sie als Verfälschung der einmaligen und vergänglichen Musikaufführung, der authentischen Interpretation ansah, verweigerte der Dirigent Sergiu Celibidache jede montierende Schallaufzeichnung und gestattete allenfalls Livemitschnitte.
Das ereignishaft Erklingende wird in der technischen Speicherung zu etwas Beständigen, Verfügbaren, so, als ob es der visuell-objekthaften Sphäre angehören würde. Die ethisch-sozialen Qualitäten des Zu- und Einlassens werden von okularen Dimensionen des Fixierens und Beherrschens überlagert. Deshalb hat Phonographie eine fatale Tendenz zur Pornografie. So wie der lebendige, sich ständig wandelnde menschliche Körper in pornografischen Bildern auf bestimmte, immer wieder kehrende Teile reduziert wird, so wird die im Konzert immer anders erklingende Musik in der phonographischen Konserve eingefroren, zerstückelt oder auf ihre "schönen Stellen" hin ausgeschlachtet.
Es gibt aber auch Dimensionen, die erst die technischen Medien der Musik eröffnet haben. So zog sich der geniale Pianist Glenn Gould vom Konzertsaal ins Tonstudio zurück, um gerade dort mit Hilfe von Aufnahmetechniken wie dem Zusammenschnitt aus kleinen Teilen seine interpretatorischen Vorstellungen in nahezu idealer Gestalt zu verwirklichen. Der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur Schallaufzeichnung gelang im Jahr 1877, als Thomas Edison den Prototyp seines Phonographen zum Patent anmeldete.
Der Phonograph ermöglichte die Speicherung von Stimme und Klang. Bis dahin war nur das abstrakt Definierbare der abendländischen Musik wie Tonhöhe oder -dauer in notenschriftlicher Fixierung überlieferbar gewesen. Mit der mechanischen Schallaufzeichnung aber wurde erstmals das Materiale, Sinnliche, Geräuschhafte von Musik speicher- und reproduzierbar. Die elektromagnetische Aufnahmetechnik des Tonbandgerätes erlaubte dann Manipulationen am Aufgezeichneten durch Schnitt, Montage und Filter. Und die digitale Medienwelt befreite das Aufgezeichnete schließlich von allen durch die Speicher- und Übertragungstechniken bisher verursachten Einschränkungen und Verzögerungen.
"Dort, wo es früher nur eine begrenzte Auswahl von Perioden und Komponisten gab, brachte das Magnetophon in Verbindung mit der Langspielplatte ein vollständiges musikalisches Klangspektrum, welches das sechzehnte Jahrhundert genauso wie das neunzehnte einschließt und uns das chinesische Volkslied genauso wie das ungarische zu bieten hat."
Das schrieb Herbert Marshall McLuhan Anfang der 1960er-Jahre in seiner visionären Studie "Understanding Media". Seine Formel "the medium is the message" erhellte, dass die Botschaft der Reproduktionsmedien die Reproduzierbarkeit selbst ist. Die akustischen Speicher- und Übertragungsmedien lösten die Musik aus ihren traditionellen Bezügen und führten zur Etablierung des Geräuschs. Mit dem Mikrofon kehrte die Rauheit der Stimme in die vom Ideal diskursiver Formung geprägte Musik des Abendlandes zurück. Zurück kehrte all das, was die abendländische Kunstmusik in ihren Partituren, Instrumenten und instrumentalisierten Stimmen auszugrenzen versucht hatte.
Der 1910 in Nancy geborene Pierre Schaeffer gehört zu den Pionieren einer "musique concrète", die sich konsequent mit den neuen Medientechniken verbündeten. Schaeffer, der sich abwechselnd als Komponist, Rundfunkingenieur, Schriftsteller, Klangforscher und Lehrer bezeichnete, begann 1948 gleichsam eingefangene und auf Tonband gebannte Alltagsgeräusche zu komplexen Klangkompositionen zu ordnen. Seine "musique concrète" regte viele Komponisten der Moderne zu eigenen elektroakustischen Arbeiten an.
Seit Ende der 1980er-Jahre entstand durch die Schneide-, Misch- und Kratztechniken der DJs oder des Raps eine besondere Kunst des Mixens. Mit den digitalen Möglichkeiten des Sampelns und Loopens ließen sich unterschiedlichste Klangmaterialien fragmentieren, wiederholen, transformieren und vielstimmig übereinanderschichten. Dieses kreative Recyclen und Neuordnen erzeugte eine neue Art von Musik über Musik und damit auch der Vermittlung von Musik durch Musik. Zugleich verwischte es das herkömmliche Ideal des Originals - des Originalwerks wie des Originalautors. "Rapsongs", schreibt der amerikanische Philosoph Richard Shusterman 1992 in seinem Buch "Kunst leben", "zelebrieren Originalität und Borgen zugleich":
"Eine postmoderne Kunst wie Rap untergräbt diese Dichotomie durch kreatives Neuordnen und dadurch, dass sie ihre Aneignung selbst thematisiert, um zu zeigen, dass Borgen und Schöpfung keineswegs unvereinbar sind. Weiter legt sie nahe, dass das vermeintliche Originalkunstwerk selbst stets ein Produkt uneingestandenen Ausleihens ist, der einzigartige und völlig neue Text immer ein Gewebe aus den Echos und Fragmenten früherer Texte... Und so wie die Dichotomie Schöpfung/Aneignung in Frage gestellt wird, wird auch die tiefgehende Trennung von kreativem Künstler und aneignendem Publikum in Frage gestellt. Umformende Wertschätzung kann selbst zur Kunst werden."
Einer der erfolgreichsten aktuellen Vertreter der schönen Kunst des Mixens ist DJ Spooky, der mit bürgerlichem Namen Paul Miller heißt. Er ist ein afroamerikanischer Laptop-Musiker, der in New York lebt und als Avantgarde-DJ mit Formationen wie Public Enemy oder Metallica zusammengearbeitet hat, aber auch mit Komponisten wie Iannis Xenakis oder Pierre Boulez. Er versteht seine Remixes als flüssige, sich ständig wandelnde Klangskulpturen. Über seine künstlerische Arbeit bekennt er selber:
"Ich liebe es, mich in verschiedenen Kontexten als Person neu zu erfinden. Wenn ich abends auf mein Hotelzimmer gehe, schicke ich Soundfiles rund um die Welt, höre, was andere mir geschickt haben, und füge die Fragmente zusammen. Ich bin ein Sound-Nomade. Meine Geschichte liegt im Mix."
Der Lärm eines startenden Flugzeugs, ein Klaviermotiv oder ein Techno-Rhythmus - DJ Spooky schiebt seine Klänge auf der digitalen Leinwand hin und her, lässt sie am Rande der Wahrnehmung auftauchen und wieder verschwinden. DJ Spooky spricht in den Booklets seiner CDs von "Dekonstruktion", "postrationaler Kunst" oder bezeichnet sich selbst als "polymorph-perversen Psychonauten, der durch Datenwolken navigiert". Alles Akustische wird dem Avantgarde-DJ zum Material musikalischer Collagen: zwei Plattenspieler und ein Laptop. Das sind die Instrumente des DJ Spooky. Live strukturiert er hier gespeicherte und manipulierte Klänge. Auf den Bildschirmen wuchern und zerfallen dazu grafische Ornamente, Foto- oder Videosequenzen. DJ Spooky über sein ästhetisches Verfahren:
"Die Plattenspieler, die Computer, die großen Bildschirme und Projektionen - alles das bedeutet nicht nur einen Generationenwechsel, sondern auch einen Perspektivwechsel. Und zwar von der ständigen Wiederholung eines durch Notation fixierten Werkes - so wie in der klassischen Musik - zu einer Ästhetik der ständigen Veränderung."
Die Kunst der medienmusikalischen Metamorphose, der unbegrenzte Umgang mit medialen Klängen, der Neues aus Vorhandenem schafft, macht vor keiner Musik halt, auch nicht vor der Neuen Musik mit dem großen "N". Laptop-Musiker nutzen alle in der vernetzten Welt verfügbaren Klänge als Material für ihre multimediale "Musik über Musik". Die Kunst des Mixens schafft mit ihren Sample-Collagen immer neue Zusammenhänge und Perspektiven und ist damit auch eine erst durch die Medienentwicklung ermöglichte Form der Musikvermittlung. Sie ernährt sich von vorfabrizierten Klängen aus Popsongs, Film- und Werbemusiken, Jazz und Klassik, aber auch aus nicht-musikalischen Mitschnitten wie z. B. aus Nachrichtensendungen oder aus unserer akustischen Umwelt.
Die mediale Globalisierung ließ zudem einen musikalischen Multikulturalismus entstehen, der Musik aus allen Stilen und Epochen individuell abrufbar- und collagierbar gemacht hat. Jenseits von Purismus, Kopie oder Synkretismus wächst eine polykulturelle Metamusik heran, die ihre eigenen ästhetischen Formen und Traditionen entwickelt. Sample-Mixes aus japanischer Hofmusik, Streichquartett und Hard Rock fragmentieren und rekomponieren eigentlich inkompatible Musiken und erzeugen so inspirierende interkulturelle Korrespondenzen - auch wenn die Erzeuger der Ursprungsklänge weder ein Mitspracherecht noch eine finanzielle Teilhabe an den Resultaten haben.
Im Zeitalter von Internet und MP3, von Samplern und leistungsstarken Computern werden alle Versuche, das grenzüberschreitende freie Spiel der digitalen Klänge durch moralische oder rechtliche Regulative einzuschränken, hilflose Anachronismen bleiben. Ein respektvoller Umgang mit vorgefundenem Material findet in solchen Bestimmungen keine wirkliche Stütze. Außerdem passt die säuberliche Trennung im Gefüge herkömmlichen Urheberrechts zwischen Werk, Bearbeitung, Interpretation und Aufführung einfach nicht mehr zur aktuellen Praxis multimedialer Musikerzeugung und -vermittlung. Heutiges Recht steht dagegen vor der schwierigen Aufgabe, eine internationale Verteilungsgerechtigkeit zu gewährleisten, ohne die Weiterentwicklung künstlerischer wie kultureller Vielfalt zu behindern.
Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin hat für das 21. Jahrhundert einen virtuellen Hyper-Kapitalismus mit einer sich zuspitzenden Dialektik von Kultur und Kommerz vorausgesagt. Wenn Produktion und Dienstleistungen, körperliche und geistige Arbeit zunehmend von intelligenten Maschinen erledigt werden, kommt der Befriedigung soziokultureller Bedürfnisse wie dem Musikhören größere Bedeutung zu als dem physischen Eigentum. An die Stelle der konventionellen Auffassungen von Märkten und Eigentumsverhältnissen tritt die Vermarktung der sozialen und kulturellen Sphäre durch transnationale Medienkonzerne. War das Zeitalter der Märkte durch den Austausch von Gütern und die Akkumulation von materiellem Kapital bestimmt, so werden im Zeitalter des multimedialen Zugangs zu Informationen die Anbieter an Einfluss gewinnen, die kulturelles Kapital angehäuft haben.
Die Funktionen von Internet, Stereoanlage, Handy und Fernseher verschmelzen schon heute und verändern so die Musikindustrie. Die musikkulturelle Vielfalt wird künftig als "Content" in kommerzialisierbare Formen verpackt und in miteinander konkurrierenden Netzwerken angeboten, wo für jede Minute der Nutzung bezahlt werden muss. Damit die weltweit agierenden Multimediakonzerne nicht allein die Bedingungen und Verhältnisse des Zugangs der Menschen zueinander, zum Wissen oder zur Musik diktieren, sind nichtkommerzielle Angebote für Kommunikation, Information und Kultur von existenzieller Wichtigkeit. Unabhängige Kultur, so Rifkin am Anfang des neuen Jahrhunderts in seinem Buch "Access", wird im Zeitalter eines globalisierten Hyper-Kapitalismus die Gegenkraft zu einem planetaren Erlebnis-Kommerz sein.
Die bereits 1996 in der World Intellectual Property Organization durchgesetzte "WIPO Copyright Treaty", die unter dem Namen "Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der digitalen Informationsgesellschaft" auch ins EU-Recht umgesetzt wurde, schützt bisher einseitig die Rechte der großen Verwerter, während die Interessen der Kreativen und auch die der Allgemeinheit darin praktisch nicht vorkommen. Die Urheberrechtspolitik, so Reto Hilty, Direktor des Münchner Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht 2007 in der Zeitschrift "Brand eins", wird geprägt von Medienkonzernen wie EMI, Sony / BMG, den großen Hollywood-Studios, Großverlagen wie Bertelsmann/Random House und Software-Giganten wie Microsoft:
"Es ist doch absurd, dass in der ganzen politischen Diskussion immer und allein vom 'Urheber' die Rede ist. Gemeint ist aber nicht der Kreative, sondern in aller Regel eben die Urheberrechts-Industrie."
Derzeit ist es immer noch so, dass jeder, der ohne eine Erlaubnis bzw. Rechteabklärung ein musikalisches Werk kommerziell oder nicht kommerziell nutzt, eine Urheberrechtsverletzung begeht. Aber sollte heutzutage nicht differenziert werden zwischen einer integralen oder teilweisen, einer funktionalen oder zitierenden und besonders auch einer kreativen sowie vermittelnden Nutzung von Musik? Lawrence Lessig, der an der amerikanischen Stanford University Rechtswissenschaften lehrt, plädierte 2006 in der "Süddeutschen Zeitung" für eine mit der Hardware als Abgabe verbundenen Copyright-Flatrate, bei der die Kreativen um so mehr von diesen Abgaben erhalten, desto häufiger ihre Werke heruntergeladen werden. Ein Vorteil dabei wäre für Lessig,
"dass es für diese Künstler einen Anreiz schafft, ihre Arbeit so zugänglich wie möglich zu machen. Auf diese Weise wird das Internet zu einer wesentlich produktiveren Plattform."
So nachvollziehbar es ist, einen teuren Film entsprechend zu schützen, so wenig macht für Lessig ein restriktives Urheberrecht im Multimediazeitalter Sinn, wenn es nicht um einen konsumierenden sondern um einen kreativen Umgang mit Medieninhalten geht:
"Die interessanteste neue Entwicklung im Internet ist nicht, wie die Nutzer Inhalte konsumieren. Das Spannende ist, wie sie Inhalte selbst produzieren, teilen und weiterentwickeln. Jugendliche nehmen sich Songs, remixen sie oder basteln aus vier oder fünf Filmen einen neuen zusammen für ein Schulprojekt."
Natürlich kann das digitale Collagieren von Musik am Laptop die Erfahrung sinnlich-körperlichen Musizierens wie das Singen oder das Erlernen und Spielen eines Instruments nicht ersetzen. Dafür ermöglicht multimediales Mischen neue Verbindungen der Erzeugung und Vermittlung von Musik - etwa im Sinne einer Verfertigung musikalischer Skulpturen, eines Schreibens musikalischer Geschichten oder einfach eines Entstehenlassens musikalischer Landschaften.
In einer Zeit, in der die Schulen immer weniger Musikunterricht anbieten, wächst auch die bildungspolitische Bedeutung einer multimedialen Musikvermittlung. Über die Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten von Abruf- und Podcast-Angeboten wird heute besonders ein jüngeres Publikum zu anspruchsvoller Musik geführt, das allein über traditionelle Medien wie Radio, Tonträger oder Printerzeugnisse oft nicht mehr zu erreichen ist.
Der amerikanische Musikpublizist Alex Ross wies 2007 in seinem Essay "The Well-Tempered Web" darauf hin, dass das Internet gerade für die klassische Musik eine neue Chance für deren Verbreitung und Vermittlung bedeutet. Im sich ankündigenden Aussterben des physischen Tonträgers CD sieht Ross ähnlich wie beim historischen Schicksal von Schellack und Vinyl kein Ende der medialen Verbreitung klassischer Musik, sondern nur einen Medienwechsel, der zudem ganz neue Potenziale für Klassik-Einsteiger bereit hält. So bedeutet die Anonymität und zeitlich wie räumlich individuelle Verfügbarkeit von Internetangeboten für Ross einen großen Vorteil besonders für Jüngere und Nicht-Spezialisten, die hier in Ruhe Audio-Samples vergleichen oder miteinander kombinieren, Informationen studieren oder verschiedenen Blogs folgen können.
Ross zitiert Chris Bell, den Musik-Marketingdirektor von iTunes, der auf eine im Vergleich zum stagnierenden CD-Markt überproportional wachsende Zahl von Musik-Downloads verweist. Außerdem konstatiert Ross, dass weltweit zunehmend inhaltsreiche und medienattraktive Webseiten für Klassik entstehen, wie die des Wiener Arnold Schönberg Zentrums, wo man das komplette Werk des Komponisten als Streaming Audio hören kann , wo es aber auch Reproduktionen von seinen Briefen und Werkentwürfen gibt oder Videos, die den Komponisten beim Tennisspielen zeigen. Neben solchen Angeboten einer multimedialen Musikvermittlung mit enzyklopädischem Charakter gibt es auch Tools mit audiovisuellen Beiträgen zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen wie Opernpremieren oder Uraufführungen.
Aufgezeichnet existieren schriftlich notierte Musikwerke schon in ihren Partituren. Gegenüber der als Aufnahme fixierten Tonkonserve ist eine Partitur allerdings offen für unterschiedliche Interpretationen. Denn das notierte Musikwerk ist, um mit Roman Ingarden zu sprechen, ein "rein intentionaler Gegenstand", der Zeit potenziell in sich enthält, der offen ist für Entwürfe von Zeitabläufen. In seiner "Ontologie der Kunst" hat Ingarden gezeigt, dass gegenüber einer schriftlosen Musikpraxis, die einfach mit der ablaufenden Zeit vergeht, notierte Musik eine virtuell unendliche Vielfalt von Zeitgestaltungen, von Interpretationen des jeweiligen Werkes erlaubt.
Die fruchtbare Spannung aus bestimmbaren und unbestimmbaren Faktoren im Ablauf einer Musikaufführung weckt unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis. Das ereignishaft Erklingende wird in der technischen Speicherung zu etwas Beständigem, Verfügbarem, so, als ob es der visuell-objekthaften Sphäre angehören würde. Die heutige Kunst des Mixens versetzt das Fixierte von Tonkonserven allerdings wieder in einen gleichsam flüssigen Zustand ständiger Verwandlung und macht es so ebenfalls zu einem "intentionalen" Gegenstand, der wie eine Partitur offen für die unterschiedlichsten Interpretationen ist.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die variierende Wiederholung der akustischen Samples. Samples, die als Loops wiederholt, abgewandelt und übereinander geschichtet werden, bilden die Bestandteile einer neuen musikalischen Grammatik. Die zwischen Repetition und Variation oszillierenden Loops sind ein ambivalentes Spiel zwischen Wahrnehmungssteigerung und Betäubung, Erkenntnis und Halluzination, Erinnern und Vergessen. Ähnlich wie in Verfahren der Minimal-Music entsteht ein Gewebe aus "Differenz und Wiederholung", über deren Verhältnis der französische Philosoph Gilles Deleuze in seiner gleichnamigen Schrift ausführt:
"Die Wiederholung ist überall ... Sie bestimmt auch die Reproduktionen von Raum und Zeit, als Reprisen des Bewusstseins. Aber in all diesen Fällen ist die Wiederholung die Macht der Differenz und der Differenzierung: Sei es, dass sie die Singularitäten verdichtet, sei es, dass sie die Zeit beschleunigt oder verlangsamt, sei es, dass sie die Räume variiert. Niemals erklärt sich die Wiederholung durch die Identitätsform."
Die nicht identische Wiederholung ist das wesentliche Gestaltungs- oder besser Entfaltungsprinzip der schönen Kunst des Mixens. In seinem Essay "Brahms, der Fortschrittliche" betont Arnold Schönberg, dass er besonders von Johannes Brahms' kompositorischem Prinzip der "entwickelnden Variation" inspiriert wurde, bei dem die Vielfalt an Gestalten eines Musikwerks aus einem Thema oder sogar nur einem Motiv abgeleitet wird. Ein Verfahren, das der Komposition - so Schönberg - Einheitlichkeit, inneren Zusammenhang und "Fasslichkeit" verleiht. Die Tendenz zur ästhetischen Verwirklichung eines organisch sich entwickelnden, an Goethes Metamorphose der Pflanzen erinnernden "Alles aus Einem" ist über die Reihen- und seriellen Techniken bis in die Formel-Kompositionen eines Karlheinz Stockhausen als Konstruktionsprinzip für komplexe musikalische Kunstwerke bis heute aktuell geblieben.
Die zeitgenössischen Vertreter der schönen Kunst des Mixens kennzeichnet dagegen eher ein mittelpunktloses Komponieren, mit ständig abgewandelten Wiederholungen, abrupten Schnitten und mäandernden Verzweigungen, das man in Abwandlung des auf Brahms gemünzten Schönberg-Wortes nicht als entwickelnde sondern als "entfaltende Variation" bezeichnen könnte - das heißt als dezentrierten, nicht-organischen, variierenden Prozess im Unterschied zur organischen, zentrierten, zielgerichteten Entwicklung. Die entfaltende Variation in der schönen Kunst des Mixens erinnert auch an fraktale Bildungen. Der Begriff "fraktal" kommt vom lateinischen "fraktum" - gebrochen -, und meint Ähnlichkeit oder Selbstähnlichkeit als Bildungsprinzip - so wie bei Unkrautwucherungen, Wurzelverzweigungen oder Küstenstrukturen in der Natur. Die schöne Kunst des Mixens realisiert, was Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Gemeinschaftswerk "Tausend Plateaus" als "Rhizom" bezeichneten:
"Die Musik hört nicht auf, ihre Fluchtlinien ziehen zu lassen, gleichsam als 'Transformations-Vielheiten', und dreht dabei ihre eigenen Codes um, die abrifizieren und strukturieren; die musikalische Form ist so bis in ihre Brüche und Wucherungen dem Unkraut vergleichbar, ein Rhizom."
Anders als in der Intensitätsökonomie klassischer Musik, aber auch populärer Musikformen mit ihrer linearen Spannungs-Lösungs-Dramaturgie bildet der Mix, um in der Sprache Deleuze und Guattaris zu bleiben, zahlreiche "Plateaus":
"Regionen kontinuierlicher Intensität ..., die sich nicht zu einem Höhepunkt treiben lassen."
Der traditionellen abendländischen Konzeption von Musik als einem organischen System stellen Deleuze und Guattari mit Blick auf Komponisten wie John Cage und Philip Glass ihre Idee von Musik als einem organlosen Körper gegenüber, der nicht durch eine hierarchische Struktur von Funktionen und Verbindungen geprägt ist, sondern durch die Kontraktion von Kräften und Flüssen:
"Manche modernen Musiker stellen dem transzendentalen Organisationsplan, der die ganze klassische Musik des Abendlandes beherrscht haben soll, eine immanente klangliche Ebene gegenüber, die immer mit dem gegeben ist, was sie ergibt... John Cage hat als erster diese feste klangliche Ebene am vollkommensten entwickelt, die einen Prozess gegenüber jeder Struktur und Genese hervorhebt, eine schwimmende, fließende Zeit gegenüber der pulsierenden Zeit oder dem Tempo."
Die schöne Kunst des Mixens ist kein Komponieren als Determinieren und auch keine Vorform von Komposition im Sinne einer bloßen Materialsammlung oder eines beliebigen Zusammenfügens musikalischer Samples. Mit ihrer permanenten Neu-Kontextualisierung musikalischer Materialien ist sie vielmehr eine neue Form von "Musik über Musik", ein Hybrid aus multimedialer Musikvermittlung und Musikerzeugung, eine gelassene Metamusik.
Nach einem Satz aus Milan Kunderas Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" glich die Musik zu Zeiten Bachs einer Rose im unendlichen Schneefeld der Stille. Heute haben iPod, CD, Radio und Fernsehen Musik nicht nur universell verfügbar gemacht, sondern auch universell gegenwärtig. In Kaufhäusern oder Flughäfen - Musik ist zu einem ständigen Begleiter unseres Alltags geworden, zu einer "musique d'ameublement", um mit Erik Satie zu sprechen, einer klingenden Tapete, die wir gewollt oder ungewollt hinnehmen, weder hin- noch weg- sondern meistens nebenbeihörend.
Im Kapitel "Fülle des Wohllauts" seines Romans "Der Zauberberg" hat Thomas Mann wesentliche Aspekte medialen Musikkonsums vorgezeichnet. Er beschreibt hier, wie die Hauptfigur, Hans Castorp, nach seinem Kartentick einer neuen Leidenschaft verfällt:
"Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren künstlerischen Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon."
Das Kapitel schildert auch, was der Musik selbst in ihrer technischen Reproduktion widerfährt:
"eine perspektivische Minderung ... als ob man ein Gemälde durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtete, so daß es entrückt und verkleinert erschien."
Außerdem wird die Abgelöstheit der Musikkonserve vom Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung angesprochen. Castorp schätzt diese "Reinigung oder Abstraktion", die ihm "unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, eine große menschliche Kontrolle" erlaubt. Während er "in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge" sitzt, lässt er Musikausschnitte "auch einzeln, außer dem vertrauten Zusammenhange öfters laufen".
Die technische Reproduktion, die Thomas Mann neben dem medialen Konsum von Musik im "Zauberberg" anspricht, begreift Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" als Verlust der "Aura", der "einmaligen Erscheinung", von der die er- und verklingende Musik, die "auratische Kunst schlechthin", besonders betroffen ist. Weil er sie als Verfälschung der einmaligen und vergänglichen Musikaufführung, der authentischen Interpretation ansah, verweigerte der Dirigent Sergiu Celibidache jede montierende Schallaufzeichnung und gestattete allenfalls Livemitschnitte.
Das ereignishaft Erklingende wird in der technischen Speicherung zu etwas Beständigen, Verfügbaren, so, als ob es der visuell-objekthaften Sphäre angehören würde. Die ethisch-sozialen Qualitäten des Zu- und Einlassens werden von okularen Dimensionen des Fixierens und Beherrschens überlagert. Deshalb hat Phonographie eine fatale Tendenz zur Pornografie. So wie der lebendige, sich ständig wandelnde menschliche Körper in pornografischen Bildern auf bestimmte, immer wieder kehrende Teile reduziert wird, so wird die im Konzert immer anders erklingende Musik in der phonographischen Konserve eingefroren, zerstückelt oder auf ihre "schönen Stellen" hin ausgeschlachtet.
Es gibt aber auch Dimensionen, die erst die technischen Medien der Musik eröffnet haben. So zog sich der geniale Pianist Glenn Gould vom Konzertsaal ins Tonstudio zurück, um gerade dort mit Hilfe von Aufnahmetechniken wie dem Zusammenschnitt aus kleinen Teilen seine interpretatorischen Vorstellungen in nahezu idealer Gestalt zu verwirklichen. Der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur Schallaufzeichnung gelang im Jahr 1877, als Thomas Edison den Prototyp seines Phonographen zum Patent anmeldete.
Der Phonograph ermöglichte die Speicherung von Stimme und Klang. Bis dahin war nur das abstrakt Definierbare der abendländischen Musik wie Tonhöhe oder -dauer in notenschriftlicher Fixierung überlieferbar gewesen. Mit der mechanischen Schallaufzeichnung aber wurde erstmals das Materiale, Sinnliche, Geräuschhafte von Musik speicher- und reproduzierbar. Die elektromagnetische Aufnahmetechnik des Tonbandgerätes erlaubte dann Manipulationen am Aufgezeichneten durch Schnitt, Montage und Filter. Und die digitale Medienwelt befreite das Aufgezeichnete schließlich von allen durch die Speicher- und Übertragungstechniken bisher verursachten Einschränkungen und Verzögerungen.
"Dort, wo es früher nur eine begrenzte Auswahl von Perioden und Komponisten gab, brachte das Magnetophon in Verbindung mit der Langspielplatte ein vollständiges musikalisches Klangspektrum, welches das sechzehnte Jahrhundert genauso wie das neunzehnte einschließt und uns das chinesische Volkslied genauso wie das ungarische zu bieten hat."
Das schrieb Herbert Marshall McLuhan Anfang der 1960er-Jahre in seiner visionären Studie "Understanding Media". Seine Formel "the medium is the message" erhellte, dass die Botschaft der Reproduktionsmedien die Reproduzierbarkeit selbst ist. Die akustischen Speicher- und Übertragungsmedien lösten die Musik aus ihren traditionellen Bezügen und führten zur Etablierung des Geräuschs. Mit dem Mikrofon kehrte die Rauheit der Stimme in die vom Ideal diskursiver Formung geprägte Musik des Abendlandes zurück. Zurück kehrte all das, was die abendländische Kunstmusik in ihren Partituren, Instrumenten und instrumentalisierten Stimmen auszugrenzen versucht hatte.
Der 1910 in Nancy geborene Pierre Schaeffer gehört zu den Pionieren einer "musique concrète", die sich konsequent mit den neuen Medientechniken verbündeten. Schaeffer, der sich abwechselnd als Komponist, Rundfunkingenieur, Schriftsteller, Klangforscher und Lehrer bezeichnete, begann 1948 gleichsam eingefangene und auf Tonband gebannte Alltagsgeräusche zu komplexen Klangkompositionen zu ordnen. Seine "musique concrète" regte viele Komponisten der Moderne zu eigenen elektroakustischen Arbeiten an.
Seit Ende der 1980er-Jahre entstand durch die Schneide-, Misch- und Kratztechniken der DJs oder des Raps eine besondere Kunst des Mixens. Mit den digitalen Möglichkeiten des Sampelns und Loopens ließen sich unterschiedlichste Klangmaterialien fragmentieren, wiederholen, transformieren und vielstimmig übereinanderschichten. Dieses kreative Recyclen und Neuordnen erzeugte eine neue Art von Musik über Musik und damit auch der Vermittlung von Musik durch Musik. Zugleich verwischte es das herkömmliche Ideal des Originals - des Originalwerks wie des Originalautors. "Rapsongs", schreibt der amerikanische Philosoph Richard Shusterman 1992 in seinem Buch "Kunst leben", "zelebrieren Originalität und Borgen zugleich":
"Eine postmoderne Kunst wie Rap untergräbt diese Dichotomie durch kreatives Neuordnen und dadurch, dass sie ihre Aneignung selbst thematisiert, um zu zeigen, dass Borgen und Schöpfung keineswegs unvereinbar sind. Weiter legt sie nahe, dass das vermeintliche Originalkunstwerk selbst stets ein Produkt uneingestandenen Ausleihens ist, der einzigartige und völlig neue Text immer ein Gewebe aus den Echos und Fragmenten früherer Texte... Und so wie die Dichotomie Schöpfung/Aneignung in Frage gestellt wird, wird auch die tiefgehende Trennung von kreativem Künstler und aneignendem Publikum in Frage gestellt. Umformende Wertschätzung kann selbst zur Kunst werden."
Einer der erfolgreichsten aktuellen Vertreter der schönen Kunst des Mixens ist DJ Spooky, der mit bürgerlichem Namen Paul Miller heißt. Er ist ein afroamerikanischer Laptop-Musiker, der in New York lebt und als Avantgarde-DJ mit Formationen wie Public Enemy oder Metallica zusammengearbeitet hat, aber auch mit Komponisten wie Iannis Xenakis oder Pierre Boulez. Er versteht seine Remixes als flüssige, sich ständig wandelnde Klangskulpturen. Über seine künstlerische Arbeit bekennt er selber:
"Ich liebe es, mich in verschiedenen Kontexten als Person neu zu erfinden. Wenn ich abends auf mein Hotelzimmer gehe, schicke ich Soundfiles rund um die Welt, höre, was andere mir geschickt haben, und füge die Fragmente zusammen. Ich bin ein Sound-Nomade. Meine Geschichte liegt im Mix."
Der Lärm eines startenden Flugzeugs, ein Klaviermotiv oder ein Techno-Rhythmus - DJ Spooky schiebt seine Klänge auf der digitalen Leinwand hin und her, lässt sie am Rande der Wahrnehmung auftauchen und wieder verschwinden. DJ Spooky spricht in den Booklets seiner CDs von "Dekonstruktion", "postrationaler Kunst" oder bezeichnet sich selbst als "polymorph-perversen Psychonauten, der durch Datenwolken navigiert". Alles Akustische wird dem Avantgarde-DJ zum Material musikalischer Collagen: zwei Plattenspieler und ein Laptop. Das sind die Instrumente des DJ Spooky. Live strukturiert er hier gespeicherte und manipulierte Klänge. Auf den Bildschirmen wuchern und zerfallen dazu grafische Ornamente, Foto- oder Videosequenzen. DJ Spooky über sein ästhetisches Verfahren:
"Die Plattenspieler, die Computer, die großen Bildschirme und Projektionen - alles das bedeutet nicht nur einen Generationenwechsel, sondern auch einen Perspektivwechsel. Und zwar von der ständigen Wiederholung eines durch Notation fixierten Werkes - so wie in der klassischen Musik - zu einer Ästhetik der ständigen Veränderung."
Die Kunst der medienmusikalischen Metamorphose, der unbegrenzte Umgang mit medialen Klängen, der Neues aus Vorhandenem schafft, macht vor keiner Musik halt, auch nicht vor der Neuen Musik mit dem großen "N". Laptop-Musiker nutzen alle in der vernetzten Welt verfügbaren Klänge als Material für ihre multimediale "Musik über Musik". Die Kunst des Mixens schafft mit ihren Sample-Collagen immer neue Zusammenhänge und Perspektiven und ist damit auch eine erst durch die Medienentwicklung ermöglichte Form der Musikvermittlung. Sie ernährt sich von vorfabrizierten Klängen aus Popsongs, Film- und Werbemusiken, Jazz und Klassik, aber auch aus nicht-musikalischen Mitschnitten wie z. B. aus Nachrichtensendungen oder aus unserer akustischen Umwelt.
Die mediale Globalisierung ließ zudem einen musikalischen Multikulturalismus entstehen, der Musik aus allen Stilen und Epochen individuell abrufbar- und collagierbar gemacht hat. Jenseits von Purismus, Kopie oder Synkretismus wächst eine polykulturelle Metamusik heran, die ihre eigenen ästhetischen Formen und Traditionen entwickelt. Sample-Mixes aus japanischer Hofmusik, Streichquartett und Hard Rock fragmentieren und rekomponieren eigentlich inkompatible Musiken und erzeugen so inspirierende interkulturelle Korrespondenzen - auch wenn die Erzeuger der Ursprungsklänge weder ein Mitspracherecht noch eine finanzielle Teilhabe an den Resultaten haben.
Im Zeitalter von Internet und MP3, von Samplern und leistungsstarken Computern werden alle Versuche, das grenzüberschreitende freie Spiel der digitalen Klänge durch moralische oder rechtliche Regulative einzuschränken, hilflose Anachronismen bleiben. Ein respektvoller Umgang mit vorgefundenem Material findet in solchen Bestimmungen keine wirkliche Stütze. Außerdem passt die säuberliche Trennung im Gefüge herkömmlichen Urheberrechts zwischen Werk, Bearbeitung, Interpretation und Aufführung einfach nicht mehr zur aktuellen Praxis multimedialer Musikerzeugung und -vermittlung. Heutiges Recht steht dagegen vor der schwierigen Aufgabe, eine internationale Verteilungsgerechtigkeit zu gewährleisten, ohne die Weiterentwicklung künstlerischer wie kultureller Vielfalt zu behindern.
Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin hat für das 21. Jahrhundert einen virtuellen Hyper-Kapitalismus mit einer sich zuspitzenden Dialektik von Kultur und Kommerz vorausgesagt. Wenn Produktion und Dienstleistungen, körperliche und geistige Arbeit zunehmend von intelligenten Maschinen erledigt werden, kommt der Befriedigung soziokultureller Bedürfnisse wie dem Musikhören größere Bedeutung zu als dem physischen Eigentum. An die Stelle der konventionellen Auffassungen von Märkten und Eigentumsverhältnissen tritt die Vermarktung der sozialen und kulturellen Sphäre durch transnationale Medienkonzerne. War das Zeitalter der Märkte durch den Austausch von Gütern und die Akkumulation von materiellem Kapital bestimmt, so werden im Zeitalter des multimedialen Zugangs zu Informationen die Anbieter an Einfluss gewinnen, die kulturelles Kapital angehäuft haben.
Die Funktionen von Internet, Stereoanlage, Handy und Fernseher verschmelzen schon heute und verändern so die Musikindustrie. Die musikkulturelle Vielfalt wird künftig als "Content" in kommerzialisierbare Formen verpackt und in miteinander konkurrierenden Netzwerken angeboten, wo für jede Minute der Nutzung bezahlt werden muss. Damit die weltweit agierenden Multimediakonzerne nicht allein die Bedingungen und Verhältnisse des Zugangs der Menschen zueinander, zum Wissen oder zur Musik diktieren, sind nichtkommerzielle Angebote für Kommunikation, Information und Kultur von existenzieller Wichtigkeit. Unabhängige Kultur, so Rifkin am Anfang des neuen Jahrhunderts in seinem Buch "Access", wird im Zeitalter eines globalisierten Hyper-Kapitalismus die Gegenkraft zu einem planetaren Erlebnis-Kommerz sein.
Die bereits 1996 in der World Intellectual Property Organization durchgesetzte "WIPO Copyright Treaty", die unter dem Namen "Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der digitalen Informationsgesellschaft" auch ins EU-Recht umgesetzt wurde, schützt bisher einseitig die Rechte der großen Verwerter, während die Interessen der Kreativen und auch die der Allgemeinheit darin praktisch nicht vorkommen. Die Urheberrechtspolitik, so Reto Hilty, Direktor des Münchner Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht 2007 in der Zeitschrift "Brand eins", wird geprägt von Medienkonzernen wie EMI, Sony / BMG, den großen Hollywood-Studios, Großverlagen wie Bertelsmann/Random House und Software-Giganten wie Microsoft:
"Es ist doch absurd, dass in der ganzen politischen Diskussion immer und allein vom 'Urheber' die Rede ist. Gemeint ist aber nicht der Kreative, sondern in aller Regel eben die Urheberrechts-Industrie."
Derzeit ist es immer noch so, dass jeder, der ohne eine Erlaubnis bzw. Rechteabklärung ein musikalisches Werk kommerziell oder nicht kommerziell nutzt, eine Urheberrechtsverletzung begeht. Aber sollte heutzutage nicht differenziert werden zwischen einer integralen oder teilweisen, einer funktionalen oder zitierenden und besonders auch einer kreativen sowie vermittelnden Nutzung von Musik? Lawrence Lessig, der an der amerikanischen Stanford University Rechtswissenschaften lehrt, plädierte 2006 in der "Süddeutschen Zeitung" für eine mit der Hardware als Abgabe verbundenen Copyright-Flatrate, bei der die Kreativen um so mehr von diesen Abgaben erhalten, desto häufiger ihre Werke heruntergeladen werden. Ein Vorteil dabei wäre für Lessig,
"dass es für diese Künstler einen Anreiz schafft, ihre Arbeit so zugänglich wie möglich zu machen. Auf diese Weise wird das Internet zu einer wesentlich produktiveren Plattform."
So nachvollziehbar es ist, einen teuren Film entsprechend zu schützen, so wenig macht für Lessig ein restriktives Urheberrecht im Multimediazeitalter Sinn, wenn es nicht um einen konsumierenden sondern um einen kreativen Umgang mit Medieninhalten geht:
"Die interessanteste neue Entwicklung im Internet ist nicht, wie die Nutzer Inhalte konsumieren. Das Spannende ist, wie sie Inhalte selbst produzieren, teilen und weiterentwickeln. Jugendliche nehmen sich Songs, remixen sie oder basteln aus vier oder fünf Filmen einen neuen zusammen für ein Schulprojekt."
Natürlich kann das digitale Collagieren von Musik am Laptop die Erfahrung sinnlich-körperlichen Musizierens wie das Singen oder das Erlernen und Spielen eines Instruments nicht ersetzen. Dafür ermöglicht multimediales Mischen neue Verbindungen der Erzeugung und Vermittlung von Musik - etwa im Sinne einer Verfertigung musikalischer Skulpturen, eines Schreibens musikalischer Geschichten oder einfach eines Entstehenlassens musikalischer Landschaften.
In einer Zeit, in der die Schulen immer weniger Musikunterricht anbieten, wächst auch die bildungspolitische Bedeutung einer multimedialen Musikvermittlung. Über die Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten von Abruf- und Podcast-Angeboten wird heute besonders ein jüngeres Publikum zu anspruchsvoller Musik geführt, das allein über traditionelle Medien wie Radio, Tonträger oder Printerzeugnisse oft nicht mehr zu erreichen ist.
Der amerikanische Musikpublizist Alex Ross wies 2007 in seinem Essay "The Well-Tempered Web" darauf hin, dass das Internet gerade für die klassische Musik eine neue Chance für deren Verbreitung und Vermittlung bedeutet. Im sich ankündigenden Aussterben des physischen Tonträgers CD sieht Ross ähnlich wie beim historischen Schicksal von Schellack und Vinyl kein Ende der medialen Verbreitung klassischer Musik, sondern nur einen Medienwechsel, der zudem ganz neue Potenziale für Klassik-Einsteiger bereit hält. So bedeutet die Anonymität und zeitlich wie räumlich individuelle Verfügbarkeit von Internetangeboten für Ross einen großen Vorteil besonders für Jüngere und Nicht-Spezialisten, die hier in Ruhe Audio-Samples vergleichen oder miteinander kombinieren, Informationen studieren oder verschiedenen Blogs folgen können.
Ross zitiert Chris Bell, den Musik-Marketingdirektor von iTunes, der auf eine im Vergleich zum stagnierenden CD-Markt überproportional wachsende Zahl von Musik-Downloads verweist. Außerdem konstatiert Ross, dass weltweit zunehmend inhaltsreiche und medienattraktive Webseiten für Klassik entstehen, wie die des Wiener Arnold Schönberg Zentrums, wo man das komplette Werk des Komponisten als Streaming Audio hören kann , wo es aber auch Reproduktionen von seinen Briefen und Werkentwürfen gibt oder Videos, die den Komponisten beim Tennisspielen zeigen. Neben solchen Angeboten einer multimedialen Musikvermittlung mit enzyklopädischem Charakter gibt es auch Tools mit audiovisuellen Beiträgen zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen wie Opernpremieren oder Uraufführungen.
Aufgezeichnet existieren schriftlich notierte Musikwerke schon in ihren Partituren. Gegenüber der als Aufnahme fixierten Tonkonserve ist eine Partitur allerdings offen für unterschiedliche Interpretationen. Denn das notierte Musikwerk ist, um mit Roman Ingarden zu sprechen, ein "rein intentionaler Gegenstand", der Zeit potenziell in sich enthält, der offen ist für Entwürfe von Zeitabläufen. In seiner "Ontologie der Kunst" hat Ingarden gezeigt, dass gegenüber einer schriftlosen Musikpraxis, die einfach mit der ablaufenden Zeit vergeht, notierte Musik eine virtuell unendliche Vielfalt von Zeitgestaltungen, von Interpretationen des jeweiligen Werkes erlaubt.
Die fruchtbare Spannung aus bestimmbaren und unbestimmbaren Faktoren im Ablauf einer Musikaufführung weckt unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis. Das ereignishaft Erklingende wird in der technischen Speicherung zu etwas Beständigem, Verfügbarem, so, als ob es der visuell-objekthaften Sphäre angehören würde. Die heutige Kunst des Mixens versetzt das Fixierte von Tonkonserven allerdings wieder in einen gleichsam flüssigen Zustand ständiger Verwandlung und macht es so ebenfalls zu einem "intentionalen" Gegenstand, der wie eine Partitur offen für die unterschiedlichsten Interpretationen ist.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die variierende Wiederholung der akustischen Samples. Samples, die als Loops wiederholt, abgewandelt und übereinander geschichtet werden, bilden die Bestandteile einer neuen musikalischen Grammatik. Die zwischen Repetition und Variation oszillierenden Loops sind ein ambivalentes Spiel zwischen Wahrnehmungssteigerung und Betäubung, Erkenntnis und Halluzination, Erinnern und Vergessen. Ähnlich wie in Verfahren der Minimal-Music entsteht ein Gewebe aus "Differenz und Wiederholung", über deren Verhältnis der französische Philosoph Gilles Deleuze in seiner gleichnamigen Schrift ausführt:
"Die Wiederholung ist überall ... Sie bestimmt auch die Reproduktionen von Raum und Zeit, als Reprisen des Bewusstseins. Aber in all diesen Fällen ist die Wiederholung die Macht der Differenz und der Differenzierung: Sei es, dass sie die Singularitäten verdichtet, sei es, dass sie die Zeit beschleunigt oder verlangsamt, sei es, dass sie die Räume variiert. Niemals erklärt sich die Wiederholung durch die Identitätsform."
Die nicht identische Wiederholung ist das wesentliche Gestaltungs- oder besser Entfaltungsprinzip der schönen Kunst des Mixens. In seinem Essay "Brahms, der Fortschrittliche" betont Arnold Schönberg, dass er besonders von Johannes Brahms' kompositorischem Prinzip der "entwickelnden Variation" inspiriert wurde, bei dem die Vielfalt an Gestalten eines Musikwerks aus einem Thema oder sogar nur einem Motiv abgeleitet wird. Ein Verfahren, das der Komposition - so Schönberg - Einheitlichkeit, inneren Zusammenhang und "Fasslichkeit" verleiht. Die Tendenz zur ästhetischen Verwirklichung eines organisch sich entwickelnden, an Goethes Metamorphose der Pflanzen erinnernden "Alles aus Einem" ist über die Reihen- und seriellen Techniken bis in die Formel-Kompositionen eines Karlheinz Stockhausen als Konstruktionsprinzip für komplexe musikalische Kunstwerke bis heute aktuell geblieben.
Die zeitgenössischen Vertreter der schönen Kunst des Mixens kennzeichnet dagegen eher ein mittelpunktloses Komponieren, mit ständig abgewandelten Wiederholungen, abrupten Schnitten und mäandernden Verzweigungen, das man in Abwandlung des auf Brahms gemünzten Schönberg-Wortes nicht als entwickelnde sondern als "entfaltende Variation" bezeichnen könnte - das heißt als dezentrierten, nicht-organischen, variierenden Prozess im Unterschied zur organischen, zentrierten, zielgerichteten Entwicklung. Die entfaltende Variation in der schönen Kunst des Mixens erinnert auch an fraktale Bildungen. Der Begriff "fraktal" kommt vom lateinischen "fraktum" - gebrochen -, und meint Ähnlichkeit oder Selbstähnlichkeit als Bildungsprinzip - so wie bei Unkrautwucherungen, Wurzelverzweigungen oder Küstenstrukturen in der Natur. Die schöne Kunst des Mixens realisiert, was Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Gemeinschaftswerk "Tausend Plateaus" als "Rhizom" bezeichneten:
"Die Musik hört nicht auf, ihre Fluchtlinien ziehen zu lassen, gleichsam als 'Transformations-Vielheiten', und dreht dabei ihre eigenen Codes um, die abrifizieren und strukturieren; die musikalische Form ist so bis in ihre Brüche und Wucherungen dem Unkraut vergleichbar, ein Rhizom."
Anders als in der Intensitätsökonomie klassischer Musik, aber auch populärer Musikformen mit ihrer linearen Spannungs-Lösungs-Dramaturgie bildet der Mix, um in der Sprache Deleuze und Guattaris zu bleiben, zahlreiche "Plateaus":
"Regionen kontinuierlicher Intensität ..., die sich nicht zu einem Höhepunkt treiben lassen."
Der traditionellen abendländischen Konzeption von Musik als einem organischen System stellen Deleuze und Guattari mit Blick auf Komponisten wie John Cage und Philip Glass ihre Idee von Musik als einem organlosen Körper gegenüber, der nicht durch eine hierarchische Struktur von Funktionen und Verbindungen geprägt ist, sondern durch die Kontraktion von Kräften und Flüssen:
"Manche modernen Musiker stellen dem transzendentalen Organisationsplan, der die ganze klassische Musik des Abendlandes beherrscht haben soll, eine immanente klangliche Ebene gegenüber, die immer mit dem gegeben ist, was sie ergibt... John Cage hat als erster diese feste klangliche Ebene am vollkommensten entwickelt, die einen Prozess gegenüber jeder Struktur und Genese hervorhebt, eine schwimmende, fließende Zeit gegenüber der pulsierenden Zeit oder dem Tempo."
Die schöne Kunst des Mixens ist kein Komponieren als Determinieren und auch keine Vorform von Komposition im Sinne einer bloßen Materialsammlung oder eines beliebigen Zusammenfügens musikalischer Samples. Mit ihrer permanenten Neu-Kontextualisierung musikalischer Materialien ist sie vielmehr eine neue Form von "Musik über Musik", ein Hybrid aus multimedialer Musikvermittlung und Musikerzeugung, eine gelassene Metamusik.