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Die schöne Schlachterin

Die Umsiedlung der alten Schlegels in ein Reihenhaus steht bevor, die buchstäblich letzte Sau im Schlegelschen Stall soll nun dran glauben. Da erscheint zur allgemeinen Verblüffung nicht der ambulante Schlachter, sondern eine Schlachterin - und wirbelt alles durcheinander.

Von Nils Kahlefendt |
    Erleben wir in der deutschen Gegenwartsliteratur so etwas wie die Renaissance des Provinz-Romans? Die Kritik hatte schnell die passende Schublade zu Hand, nach dem im letzten Jahr etwa Norbert Scheuer in "Überm Rauschen" Familien- und Naturgeschichte eines abgelegenen Eifeldorfs erkundete und Stefan Thome mit seinem im hessischen Biedenkopf angesiedelten "Grenzgang" auf die Shortlist des Deutschen Bücherpreises kletterte. Auch der 1971 im sächsischen Borna geborene Patrick Hofman kehrt mit seinem Debütroman "Die letzte Sau" in die alte Heimat zurück: In den Leipziger Südraum, eine Region, die zu DDR-Zeiten Hochburg des Braunkohletagebaus war. Der in Meuselwitz geborene Wolfgang Hilbig war es, der diese um- und übergestülpte, industriell bearbeitete Landschaft, in der historische und soziale Umbrüche gleichsam offen zutage liegen, in düstere Bilder gebannt hat. Patrick Hofmann, der sein Abitur noch in der DDR, den Zivildienst bereits in der Bundesrepublik machte, brauchte offensichtlich Abstand, um sich dem Ort seiner Kindheit und Jugend literarisch anzunähern.

    "Das hängt tatsächlich ein bisschen mit der Fremde, mit Athen in dem Fall, Griechenland, zusammen. Dass ich dort - ich bin dort 2002 hingegangen - dass ich, nach zwei Jahren merkte ich, ich war auf einmal so weit in der Sprache, in der neuen, griechischen Sprache drin, dass ich auf einmal dachte: Oh, ich will aber meine Sprache auch festhalten. Und da hatte ich auf einmal ein starkes Bedürfnis, nicht nur an meiner Muttersprache dranzubleiben, sondern auch im Denken in einer Nähe zu bleiben. Und da verfiel ich auf den Stoff, der mich so sehr an meine Ursprünge, an meine Heimat brachte. Das war schon ein wesentlicher Punkt. Der gerade durch die Distanz für mich auf eine Weise notwendig, aber überhaupt erst möglich wurde: Durch den Abstand, den ich hatte. Und ein zweites Moment: Diese DDR-Geschichte, was in der Wende alles sich so überschlug, ereignet hatte – das war doch was, wo ich eine ganze lange Zeit nix mit zu tun haben wollte. Und erst über diesen historischen Abstand kam ich da ran. Und hatte wirklich ein Interesse, mich damit mal auseinanderzusetzen. Wie ich in den Westen gekommen bin. Was da für mich passiert ist. Denn das war schon eine Erfahrung. Der Mauerfall! Die Wende! Wo für mich, der ich relativ positiv eingestellt war, dem DDR-System gegenüber, viel zusammenbrach. Zwar sehr glücklich – ich musste nicht zur Armee, ich konnte studieren, was ich wollte – aber das war doch mit einer gewissen Verletzung, wo ich nicht wusste, wo die herkam, verbunden. Mit so was, was man, ja, auch ein ostdeutsches Minderwertigkeitsgefühl nennen könnte. Was da alles kaputt gegangen ist – und wie man sich halt arrangieren musste, neu sich anpassen, einen neuen Weg finden musste. Das ging so schnell. Damit konnte ich mich eine ganze Reihe von Jahren nicht auseinandersetzen. Und das wollte ich mal machen."
    Im Dorf Muckau, das den näher rückenden Braunkohlebaggern weichen muss, hat sich an einem Dezembertag des Jahres 1992 auf dem Hof von Albrecht und Hertha Schlegel die Familie – Töchter, Schwiegersöhne und Enkel – versammelt. Die Umsiedlung der alten Schlegels in ein Reihenhaus steht unmittelbar bevor, die buchstäblich letzte Sau im Schlegelschen Stall soll dran glauben. Ein letztes Fest, fast wie in alten Zeiten. In dieser emotional aufgeladenen Situation erscheint zur allgemeinen Verblüffung nicht der ambulante Schlachter, sondern eine Schlachterin: Die so resolute wie attraktive Diana Kampradt, die fast überfallartig das Kommando über die verduzte Sippe übernimmt, forsch mit Bolzenschussgerät, Messern und Eimern hantiert, ist eine, die "das Schlachten nicht über, sondern auf die Bühne" bringt. Ihre natürliche Autorität und erotische Ausstrahlung wirbelt die Familie, Männer wie Frauen, gehörig durcheinander. Fast folgerichtig, dass es vor ihrem überraschenden Abgang zu sexuellen Übergriffen unter Einsatz frischer Wurst kommt. Eine krude Szene, die sich dringend für die Neuauflage der "Klassischen Sau", Hermann Kinders "Handbuch der literarischen Hocherotik", empfiehlt. Für Hofmanns Roman hat die Familienaufstellung nach Kampradt Katalysator-Funktion:

    "Ja, die Schlachterin, die vollführt ja eine irgendwie widersprüchliche Begegnung. Die geht ganz bewusst und entschlossen dort hinein und pflanzt sich da so richtig in diese Familie. Und im nächsten Moment versucht sie sich da aber zurückzunehmen, um das, was sie eigentlich in dem Moment ihres Auftretens erschüttert hat – um das wirklich eine Weile zittern zu lassen und zu sehen: Entwickelt sich da was? Kommen die irgendwie jetzt zueinander? Kommt der eine oder andere in irgendeinem Moment zu sich, an sich heran?"

    Die eigentlichen Schlachtabläufe, der Mikrokosmos der Arbeiten des Zerlegens und Verarbeitens der Sau zu Blut- und Leberwürsten, Schinken und Wellfleisch, werden von Hofmann so detailreich, gelegentlich gar unter Beigabe von Zeichnungen und Gewichtstabellen, in Szene gesetzt, als gelte es, die strengen Normen der deutschen Metzger-Innung zu erfüllen. Vegetariern dürften Passagen wie diese indes schwer im Magen liegen:

    Die Schlachterin legte mit vorsichtigen Stichen die Fersensehne der Hinterbeine frei und zwängte das Krummholz zwischen Flechse und Knochen. Mit dem Strick, an dem sie die Sau aus dem Stall geführt hatte, band sie das Holz an die Leiter. Zu viert hoben sie die Leiter von den Böcken und lehnten sie an den Stall. Gekreuzigt mit dem Kopf nach unten, rutschte dem Schwein das Gedärm in den Brustkorb. Aus den Wunden im Kopf, in der Brust, aus dem Maul und der Nase lief Blut.

    "Ich wollte das nicht nur als eine Kulisse, die dann zu schnell dann auch symbolisch verpufft oder einfach einen Rahmen für die Geschichte bildet. Ich wollte selbst mit den Schlachtbeschreibungen, den Schlachtabläufen eine Intensität erreichen. Ja, ich hatte stellenweise den Ehrgeiz, wer dieses Buch liest und sich das zutraut, sollte dann auch Schlachten können oder zumindest wissen, wie das geht. Und was da alles so reinkommt."

    Hofmanns Fleischwolf macht, logisch, auch vor Familie Schlegel nicht halt. Der von reichlich Alkohol begleitete Schlachttag ist ein Tag des Abschieds – vom Hof, aber auch von der gemeinsamen Vergangenheit. Jeder hat in diesen rasanten Zeitläuften etwas verloren - die Älteren, die sich mehr oder weniger mit dem System arrangiert hatten und nun mit den Tücken der Wende ringen, ebenso wie die Generation der "Zonenkinder", die im Westen studieren und überraschend gut im neuen Deutschland funktionieren. Für den Darm, weiß Hofmann, ist die Wurst eine Revolution – und bringt mit seiner Schlacht-Metaphorik die Wendezeit in ein überraschend schlüssiges Bild:

    "Wir haben ein lebendiges Schwein, das hat in diesem Roman 162 Kilo, bringt das auf die Waage. Und wie das dann in den Darm kommt – mit allen Verlusten. Und sei es den Verlusten allein schon vom Warmgewicht, wie der Schlachter sagt, zum Kaltgewicht, einfach durch diese Auskühlung. Wie viel da schon Wasser verdunstet. Oder wie dann beim Kochen auch Kochverluste entstehen. Dass sich das zwar alles auflöst, aber irgendwo auch hingeht. Und das war für mich auch ein Sinnbild für Geschichte. Sagen wir es mal ganz konkret: Für DDR. Die gibt es nicht mehr, die ist tot. Aber irgendwo ist das alles hingegangen, hineingekommen, und lebt irgendwie auch weiter."

    Dass sich Patrick Hofmann als Liebhaber von Laurence Sterne, Jean Paul, Lichtenberg oder Flann O'Brien in seinem klug konstruierten Roman einen gewissen Hang zum Schnörkel leistet und gelegentlich sogar mit Trash-Elementen aufwartet, ist verzeihlich. So darf der verschleppt pubertierende Enkel René mit blutbesprenkelter Nickelbrille schon mal eine Himmler-Rede rezitieren, die Wurst als "deutsche Meisterleistung" und die Schlachterin Kampradt als "Meisterin aus Deutschland" preisen. Kaldaunen und Kalauer, so what! Anstrengender schon, dass der Autor es mit seinen Exkursen zu den gewiss radikalen gesellschaftlichen, ideologischen, industriellen und landschaftlichen Umwälzungen der Region ein wenig zu gut meint. Zwischen Stuhltanz und reichlich Korn geht es da im Sauseschritt von Treuhand-Mauscheleien über die Umweltsünden der DDR bis zu Euthanasie-Verbrechen der Nazis und Opas Kriegserinnerungen an das Ghetto von Litzmannstadt. Dazu signalisieren in das Stimmen-Parlando eingestreute Zitate von Hölderlin bis zum DDR-Jugendweihe-Geschenkbuch "Weltall-Erde-Mensch", im Anhang säuberlich ausgewiesen: Achtung, Geschichte!

    Verständlich, dass dem einzigen Wessi im überschaubaren Figuren-Ensemble, Enkelin Kathrins Freund Lukas, bei so tiefen Blicken in den Abgrund der Zeit ganz blümerant wird. Den positiven Gesamteindruck können diese Einwände nicht verdrängen: Da kann einer erzählen – und hat die Kraft, Begriffe und Gedanken nicht vorschnell aus der Hand zu geben. Mit seinen Schlachtszenen aus der Wendezeit hat Patrick Hofmann ein beachtliches Prosadebüt abgeliefert. Und uns, ganz nebenbei, bewiesen, dass über diese medial reichlich verwurstete Periode jüngster deutscher Geschichte noch gute Romane zu schreiben sind.

    "Dass wir weiter in Zukunft neue, gute Romane über diese Zeit lesen, davon gehe ich aus. Und gerade deswegen, weil ich mir gar nicht so genau vorstellen könnte, was uns da alles noch erwartet, in welche Ecken da noch geleuchtet wird. Oder welche Verbindungen da eingegangen werden. Für mich ist jetzt erst mal die Arbeit gemacht. Da werde ich jetzt nicht irgendwie weitergehen oder in dieser Zeit bleiben. Das ist für mich gegessen."

    Patrick Hofmann: Die letzte Sau. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt 2009. 286 Seiten, 19,90 Euro.