Die eigene Kindheit liefert vermutlich am häufigsten den Impuls für literarisches Schreiben, und der Zugriff auf das persönliche Material gestaltet sich so unterschiedlich wie die vielfältigen Inhalte dieser Schatzkiste. In "Brandhagen", so nennt der Autor die Kleinstadt in der norddeutschen Tiefebene, geht er dieses Unterfangen beherzt und mit Genauigkeit an und eröffnet so das "Panorama einer kleinen Gesellschaft", wie es im Untertitel heißt.
Es beginnt mit dem Hunger. Er stellt sich unerbittlich ein, nachdem die Mutter gerade erst "Gute Nacht" gesagt und das Zimmer verlassen hat, quält sich der junge Erzähler so lange, bis er es nicht mehr aushält und sich im engen Frotteeschlafanzug auf den Weg in die nächtliche Küche macht. Sitzen die Eltern noch im "Hintenzimmer", ahmt er die humpelnden Schritte der Großmutter mit Stock nach.
Es herrscht die Atmosphäre der frühen 70er Jahre: die Türglocke des elterlichen Ladens, die feste Ordnung der Weckgläser in der Speisekammer, die kleine Straße vor dem Haus und die stille Sommerluft im ländlichen Idyll um den Ort herum.
Zentrale Rolle für den Ich-Erzähler spielt die Großmutter. Auch wenn sie streng herrscht im Familiengeschäft wie im Garten, für den Enkel ist sie immer da, versteckt ihn sogar, wenn er nicht zum Kindergarten will. Als die junge Haushaltshilfe Erdmute in die Mansarde einzieht, bekommt er eine neue Verbündete, die ältere Cousine Alexandra, die ihm ihre Art zu spielen aufzwingt, verliert an Einfluss.
Von klein auf waren alle wichtigen Personen in meinem Leben Frauen. In ihnen und nicht in den Männern von Brandhagen lernte ich die Palette der Menschencharaktere kennen: meine eigensinnig-aggressive Mutter, meine barocke Tante, Erdmute – unabhängig und zielstrebig –, Alexandra – ehrgeizig und unzufrieden – und natürlich meine Großmutter, unumstößlich in ihrer Weltanschauung, immer voller Gusto und Autorität, aber auch von einer verhärteten Traurigkeit umgeben. Diese Persönlichkeiten, denen allen eine außerordentliche Willensstärke gemein war, überschatteten die Männer. Zugleich umgab die Frauen eine faszinierende Fremdheit, die eine Art Entdeckerlust in mir weckte. Ich wollte mehr wissen über diese seltsamen Wesen und suchte daher ständig ihre Nähe.
Und so entdeckt er die Welt jenseits der häuslichen Regeln, von Geschäftssinn und Gefühlsarmut, sieht das Gefüge aus Männer- und Frauenwelten, aus Verwandten, Mundfaulen und Klatschmäulern. Zunächst ohne sie zu bewerten, beobachtet er die biederen Traditionen, erspürt den unterschwelligen Rhythmus, dem Brandhagen gehorcht, bei dem sich über Wesentliches ausgeschwiegen wird – und wie sich die alteingesessenen Dorfbewohner von sozialen Strukturen und Abhängigkeiten beherrschen lassen, im stillschweigenden Fluidum des Stiekum. Während sich seine kindliche Religiosität noch in überhöht theatralischen Inszenierungen ausleben kann, werden andere Spiele zu Ernst. Immer schwankend zwischen Rückzug, bei der Großmutter, im eigenen Zimmer oder später in die Literatur, und rastlos neugierigem Beobachten. Als die Tante mit einer unehelichen Tochter zurückkehrt, kommt etwas in Bewegung. Denn unter dem Eindruck der eigenen erwachenden Sexualität, so fremd und geheimnisvoll, zeigt sich plötzlich auch die spießige Gesellschaft in einem anderen Licht: Beim traditionellen Faschingsfest beobachtet der Junge heimlich die wild knutschenden Erwachsenen, sieht förmlich das Brodeln unter der Oberfläche. Die extravagante Klavierlehrerin bringt ihn schließlich in Berührung mit der rettenden Kunst: In der Musik und dann in der aufregenden Literatur findet er vorsichtig zu einer eigenen Gedankenfreiheit, mit der sich selbst die Erfahrung von Trauer verarbeiten lässt.
Bettina Hesse: Brandhagen ist ein Entwicklungsroman, warum haben Sie dafür eine derart traditionelle Form gewählt?
Hinrich von Haaren: Ich muss gestehen, ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ich hatte das Buch im Kopf, und es war nach den Erzählungen, die ich geschrieben hab, das nächste, was ich machen wollte, und ich hab mich ganz naiv einfach hingesetzt und geschrieben.
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Hesse:: Die Alteingesessenen wehren sich ständig gegen jeden Einfluss von außen. War es so etwas wie der Urwunsch, die Seele der Tiefebene darzustellen?
Von Haaren: Der Wunsch war, einen Roman über diese bestimmte Gegend zu schreiben, diese flache Landschaft und Grün und Birken und Moor bringt ja einen bestimmten Charakter hervor – vielleicht bilde ich mir das auch ein, aber so ist es eben in dem Buch. Dieses Mundfaule und nicht viel Reden, über gar nichts wird eigentlich geredet, dadurch kommen ja auch diese Unterströmungen in dem Roman mit raus.
Hesse: Der Protagonist macht die klassischen Stationen durch: Bindung an die Großmutter, Kindergarten, theatralische Sendung, erwachende Sexualität bis zur Entdeckung der Kunst. Als Leser erlebt man den Sog der dichten, eigenen Sprache und der in einer Aufsicht geschilderten Episoden: Es ist das Tableau eines Kleinstadtlebens mit seinen Krämerseelen und ihren solitären Ausbrüchen und Fluchtversuchen. Dabei scheint der Text einem musikalischen Schema zu folgen, mit einer längeren Exposition, den Variationen, Musik und Literatur oder dem Wendepunkt, durch den Unfall nach einem Besäufnis – eine Läuterung, die mit dem Schlaganfall der Großmutter auch das Ende der Kindheit einleitet.
Sie sagten, das Ausgangsbild für den Roman war die Erbsen pflückende Großmutter. Wie ist das Verhältnis von Komposition und biographischem Material im Spannungsfeld von Realismus und Erinnerung? Ich gehe davon aus, es ist nicht alles erfunden.
Von Haaren: Nee, natürlich nicht, sondern die Grunderfahrung und die Bilder, von denen ich vorher gesprochen habe, sind natürlich autobiografisch angelegt. Es ist so ein Hin- und Herpendeln des Kindes aus der Erwachsenen-Perspektive und seinen eigenen Erfahrungen.
Die Schwierigkeit ist natürlich, wenn man biografisches Material benutzt, dass man sich nicht chronologisch erinnert, sondern man hat immer Erinnerungsblöcke - kann man das vielleicht nennen -, die man dann benutzt, das sind eben diese Bilder, die dann aber verbunden werden müssen mit einer generellen Handlung, dass es am Ende alles zusammenhängt, und das ist natürlich dann, wo sich das Biografische entwickelt in etwas Fiktives, da kommt das Romanelement hinein, und dadurch, wenn man sie verbindet, diese Blöcke, verändern sich die Erinnerungsblöcke. Also es verändert sich dann, und es beginnt der Roman zu entstehen.
Hesse: Nach Ihrem Debüt, dem wunderbaren Erzählungsband "Die Überlebten", haben Sie nun drei Jahre an diesem Roman geschrieben, nicht nur aus zeitlicher, sondern auch aus räumlicher Ferne, aus London, wo Sie seit vielen Jahren leben. Dieser Abstand, sagten Sie, hat geholfen, da der Stoff gut abgehangen war. Ist Ihnen beim Schreiben auch eine Überraschung begegnet, gab es so etwas wie eine Störung?
Von Haaren: Ja, es gibt schon bestimmte Dinge, wo man merkt, darüber kann man eigentlich nicht schreiben, oder man kann es nur so umzirkeln, oder wie man das nennen soll.
Was mir wichtig ist, auch ist, dass es nicht nur um Schmerz geht, sondern auch um Humor, also dass es da eine Balance gibt, denn das Leben ist ja nicht nur schrecklich.
Hinrich von Haaren, Brandhagen.
Luftschacht Verlag 2012, 293 Seiten, 22,40 Euro
Es beginnt mit dem Hunger. Er stellt sich unerbittlich ein, nachdem die Mutter gerade erst "Gute Nacht" gesagt und das Zimmer verlassen hat, quält sich der junge Erzähler so lange, bis er es nicht mehr aushält und sich im engen Frotteeschlafanzug auf den Weg in die nächtliche Küche macht. Sitzen die Eltern noch im "Hintenzimmer", ahmt er die humpelnden Schritte der Großmutter mit Stock nach.
Es herrscht die Atmosphäre der frühen 70er Jahre: die Türglocke des elterlichen Ladens, die feste Ordnung der Weckgläser in der Speisekammer, die kleine Straße vor dem Haus und die stille Sommerluft im ländlichen Idyll um den Ort herum.
Zentrale Rolle für den Ich-Erzähler spielt die Großmutter. Auch wenn sie streng herrscht im Familiengeschäft wie im Garten, für den Enkel ist sie immer da, versteckt ihn sogar, wenn er nicht zum Kindergarten will. Als die junge Haushaltshilfe Erdmute in die Mansarde einzieht, bekommt er eine neue Verbündete, die ältere Cousine Alexandra, die ihm ihre Art zu spielen aufzwingt, verliert an Einfluss.
Von klein auf waren alle wichtigen Personen in meinem Leben Frauen. In ihnen und nicht in den Männern von Brandhagen lernte ich die Palette der Menschencharaktere kennen: meine eigensinnig-aggressive Mutter, meine barocke Tante, Erdmute – unabhängig und zielstrebig –, Alexandra – ehrgeizig und unzufrieden – und natürlich meine Großmutter, unumstößlich in ihrer Weltanschauung, immer voller Gusto und Autorität, aber auch von einer verhärteten Traurigkeit umgeben. Diese Persönlichkeiten, denen allen eine außerordentliche Willensstärke gemein war, überschatteten die Männer. Zugleich umgab die Frauen eine faszinierende Fremdheit, die eine Art Entdeckerlust in mir weckte. Ich wollte mehr wissen über diese seltsamen Wesen und suchte daher ständig ihre Nähe.
Und so entdeckt er die Welt jenseits der häuslichen Regeln, von Geschäftssinn und Gefühlsarmut, sieht das Gefüge aus Männer- und Frauenwelten, aus Verwandten, Mundfaulen und Klatschmäulern. Zunächst ohne sie zu bewerten, beobachtet er die biederen Traditionen, erspürt den unterschwelligen Rhythmus, dem Brandhagen gehorcht, bei dem sich über Wesentliches ausgeschwiegen wird – und wie sich die alteingesessenen Dorfbewohner von sozialen Strukturen und Abhängigkeiten beherrschen lassen, im stillschweigenden Fluidum des Stiekum. Während sich seine kindliche Religiosität noch in überhöht theatralischen Inszenierungen ausleben kann, werden andere Spiele zu Ernst. Immer schwankend zwischen Rückzug, bei der Großmutter, im eigenen Zimmer oder später in die Literatur, und rastlos neugierigem Beobachten. Als die Tante mit einer unehelichen Tochter zurückkehrt, kommt etwas in Bewegung. Denn unter dem Eindruck der eigenen erwachenden Sexualität, so fremd und geheimnisvoll, zeigt sich plötzlich auch die spießige Gesellschaft in einem anderen Licht: Beim traditionellen Faschingsfest beobachtet der Junge heimlich die wild knutschenden Erwachsenen, sieht förmlich das Brodeln unter der Oberfläche. Die extravagante Klavierlehrerin bringt ihn schließlich in Berührung mit der rettenden Kunst: In der Musik und dann in der aufregenden Literatur findet er vorsichtig zu einer eigenen Gedankenfreiheit, mit der sich selbst die Erfahrung von Trauer verarbeiten lässt.
Bettina Hesse: Brandhagen ist ein Entwicklungsroman, warum haben Sie dafür eine derart traditionelle Form gewählt?
Hinrich von Haaren: Ich muss gestehen, ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ich hatte das Buch im Kopf, und es war nach den Erzählungen, die ich geschrieben hab, das nächste, was ich machen wollte, und ich hab mich ganz naiv einfach hingesetzt und geschrieben.
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Hesse:: Die Alteingesessenen wehren sich ständig gegen jeden Einfluss von außen. War es so etwas wie der Urwunsch, die Seele der Tiefebene darzustellen?
Von Haaren: Der Wunsch war, einen Roman über diese bestimmte Gegend zu schreiben, diese flache Landschaft und Grün und Birken und Moor bringt ja einen bestimmten Charakter hervor – vielleicht bilde ich mir das auch ein, aber so ist es eben in dem Buch. Dieses Mundfaule und nicht viel Reden, über gar nichts wird eigentlich geredet, dadurch kommen ja auch diese Unterströmungen in dem Roman mit raus.
Hesse: Der Protagonist macht die klassischen Stationen durch: Bindung an die Großmutter, Kindergarten, theatralische Sendung, erwachende Sexualität bis zur Entdeckung der Kunst. Als Leser erlebt man den Sog der dichten, eigenen Sprache und der in einer Aufsicht geschilderten Episoden: Es ist das Tableau eines Kleinstadtlebens mit seinen Krämerseelen und ihren solitären Ausbrüchen und Fluchtversuchen. Dabei scheint der Text einem musikalischen Schema zu folgen, mit einer längeren Exposition, den Variationen, Musik und Literatur oder dem Wendepunkt, durch den Unfall nach einem Besäufnis – eine Läuterung, die mit dem Schlaganfall der Großmutter auch das Ende der Kindheit einleitet.
Sie sagten, das Ausgangsbild für den Roman war die Erbsen pflückende Großmutter. Wie ist das Verhältnis von Komposition und biographischem Material im Spannungsfeld von Realismus und Erinnerung? Ich gehe davon aus, es ist nicht alles erfunden.
Von Haaren: Nee, natürlich nicht, sondern die Grunderfahrung und die Bilder, von denen ich vorher gesprochen habe, sind natürlich autobiografisch angelegt. Es ist so ein Hin- und Herpendeln des Kindes aus der Erwachsenen-Perspektive und seinen eigenen Erfahrungen.
Die Schwierigkeit ist natürlich, wenn man biografisches Material benutzt, dass man sich nicht chronologisch erinnert, sondern man hat immer Erinnerungsblöcke - kann man das vielleicht nennen -, die man dann benutzt, das sind eben diese Bilder, die dann aber verbunden werden müssen mit einer generellen Handlung, dass es am Ende alles zusammenhängt, und das ist natürlich dann, wo sich das Biografische entwickelt in etwas Fiktives, da kommt das Romanelement hinein, und dadurch, wenn man sie verbindet, diese Blöcke, verändern sich die Erinnerungsblöcke. Also es verändert sich dann, und es beginnt der Roman zu entstehen.
Hesse: Nach Ihrem Debüt, dem wunderbaren Erzählungsband "Die Überlebten", haben Sie nun drei Jahre an diesem Roman geschrieben, nicht nur aus zeitlicher, sondern auch aus räumlicher Ferne, aus London, wo Sie seit vielen Jahren leben. Dieser Abstand, sagten Sie, hat geholfen, da der Stoff gut abgehangen war. Ist Ihnen beim Schreiben auch eine Überraschung begegnet, gab es so etwas wie eine Störung?
Von Haaren: Ja, es gibt schon bestimmte Dinge, wo man merkt, darüber kann man eigentlich nicht schreiben, oder man kann es nur so umzirkeln, oder wie man das nennen soll.
Was mir wichtig ist, auch ist, dass es nicht nur um Schmerz geht, sondern auch um Humor, also dass es da eine Balance gibt, denn das Leben ist ja nicht nur schrecklich.
Hinrich von Haaren, Brandhagen.
Luftschacht Verlag 2012, 293 Seiten, 22,40 Euro