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Die singende Amazone

Maria Antonia Walpurgis führte nicht nur die Regierungsgeschäfte in Sachsen, sie war darüber hinaus auch eine anerkannte Künstlerin - und stellte mit der Oper "Talestri, Königin der Amazonen", die 1765 erschien, ihre musikalischen Fähigkeiten unter Beweis.

Von Gerd de Bruyn |
    Als 1765 die Partitur der Oper "Talestri, Königin der Amazonen" im Druck erschien, stellte ihr der "tyrannische Sprachrichter" Johann Christoph Gottsched eine Widmung in Versform voran:

    Mein Leser.
    Siehst Du hier Geschmack und Kunst vereint,
    So schön, als dieses Paar sonst nirgendwo erscheint:
    So wünsch: Antonia, das Götterkind, soll leben!
    Die an Verstand und Witz Europas Wunder bleibt.
    Wird nur des Himmels Hand Ihr Glück so hoch erheben,
    Als Sie des Geistes Gaben treibt.


    Mit dem Götterkind war die sächsische Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis gemeint, die nicht nur das Libretto zu dieser Amazonenoper beigesteuert, sondern sie zur Gänze komponiert hatte. Dass diese außergewöhnliche Frau, die jung an Jahren in die Dichterakademie "dell' Arcadia" aufgenommen wurde, über hohen Kunstverstand verfügte, wussten nicht nur ihre Landeskinder. Für Gottsched, der die Fürstin gut kannte, verkörperte sie in idealer Weise das, was man eine "femme savante", eine "gebildete Frau", nannte.

    Die Musikwissenschaftlerin Christine Fischer, die ein kenntnisreiches Buch über Maria Antonia mit dem Titel "Instrumentierte Visionen weiblicher Macht" schrieb, führt hierzu aus:

    Auf eine Frau angewandt gewann das Attribut der Gelehrsamkeit nahezu unumgänglich eine weitere Bedeutungsnuance: Es implizierte auch noch in den 1760er-Jahren den Bezug zu einer lange anhaltenden, traditionsreichen Debatte um Wesen und Fähigkeiten der Frau, der sogenannten Querelle des Femmes.

    Dieser schon in der Renaissance entbrannte Streit wurde darüber geführt, ob Männer und Frauen auf moralischem und intellektuellem Gebiet als ebenbürtig anzusehen sind. Diejenigen, die der Meinung waren, es sei der Fall, pflegten den bis ins 18. Jahrhundert verbreiteten "Lexika für Frauenzimmer" Verzeichnisse "gelehrter Frauen" beizulegen, worin die herausragenden Geschlechtsgenossinnen aus Mythologie und Geschichte aufgelistet waren. Maria Antonia wurde bereits zu Lebzeiten ein solches Verzeichnis gewidmet, von einem Verfasser, der sie mit Minerva verglich, der Göttin der Gelehrsamkeit.

    Minerva, die bei den Griechen Athena hieß, wurde von den antiken Künstlern nicht mit den Insignien höherer Bildung ausgestattet, sondern einer Amazone gleich mit Helm, Brustpanzer und Speer abgebildet. Auf diese Weise konnte kein Zweifel bestehen, dass die kluge Göttin eine große Herrscherin war. Ihre Weisheit und Macht verführte manche hochgestellte Fürstin dazu, sich als Minerva malen zu lassen.

    Auch Maria Antonia identifizierte sich mit der starken Göttin. In den Wirren des Siebenjährigen Krieges war ihr vom Schwiegervater, dem sächsischen Kurfürsten, und von Friedrich Christian, ihrem Gemahl, ein Großteil der Regierungsverantwortung übertragen worden. An dieser Aufgabe war sie gewachsen und politisch einflussreich geworden.

    Außerdem hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie die Geschicke ihres Landes positiv beeinflussen konnte und dass ihr dabei ihre hohe Intelligenz, Bildung und künstlerischen Talente weiterhalfen. Maria Antonia beherrschte mehrere Sprachen, spielte viele Instrumente, konnte sehr gut singen, tanzen, malen und sogar reiten und schießen.

    Auf ihre musikalische Ausbildung war besonderen Wert gelegt worden. Als Jugendliche war sie angehalten worden, jeden Tag nach dem Mittagessen zwei Stunden zu musizieren. Im Anschluss erhielt sie eine Stunde Tanz- und eine Stunde Musikunterricht. Es heißt, Giovanni Ferrandini sei ihr Gesangs- und Kompositionslehrer gewesen. In den verbleibenden Abendstunden bildete sich Maria selbstständig im Instrumentalspiel weiter.

    Natürlich sollte aus ihr keine Berufsmusikerin werden, doch übertraf die Anzahl der Stunden, die ihrem Musikstudium gewidmet waren, bei Weitem das, was man einem Dilettanten zumuten würde. Kein Wunder also, dass sie schon als 15-Jährige die Hauptrolle in einem Singspiel übernahm.

    Das war am Hofe ihres Vaters Karl Albrecht gewesen, des bayrischen Kurfürsten, der nur wenige Jahre später zu einem der bedauernswertesten deutschen Kaiser gewählt wurde, die es je gegeben hat. Bei der Krönung in Frankfurt bereiteten ihm seine Nierensteine solche Schmerzen, dass er die Zeremonie kaum überstand. Damit nicht genug, marschierten zwei Tage später österreichische Soldaten in München ein und beraubten ihn seiner Stammlande. So musste er mit seiner Familie in Hessen bleiben und Ehrentitel verkaufen. Auf diese Weise wurde auch aus Goethes Vater ein "Wirklicher Kaiserlicher Rat", denn er hatte ja seinem Kaiser wirkliche 300 Gulden dafür bezahlt.

    Damals war Maria Antonia 18 Jahre alt. Zwei Jahre lang lebte sie mit Vater, Mutter und Geschwistern im Frankfurter Exil. Ihre Mutter Amalie litt darunter, fernab ihrer prächtigen Hofhaltung in einer Bürgerstadt wohnen zu müssen. Am meisten sehnte sie sich nach ihrem Jagdschlösschen im Nymphenburger Park.

    Entworfen hatte es François Cuvilliés. Er stand als Hofzwerg im Dienste des bayrischen Kurfürsten, an dem er erotische Handlungen vornehmen musste, die ihm den Ruf eines "Glücksbringers" einbrachten. Marias Mutter ahnte nichts davon. Sie wusste bloß, dass der kleine Mann nach Paris durfte, um dort Architektur zu studieren, und schon bald zum Hofbaumeister ernannt wurde.

    In dieser Funktion baute er ihr die Amalienburg - ein Kleinod barocker Baukunst, ausgestattet mit einer Küche, für die der technisch talentierte Liliputaner einen Herd mit geschlossenem Feuerkasten konstruierte, den ersten seiner Art. Darauf brutzelten die Rebhühner, die Fürstin Amalie auf dem Dache wartend vom Himmel schoss.

    Von ihrer lebenslustigen Mutter erbte Maria Antonia die Jagdleidenschaft. Schon früh zeigte sie Interesse für die Ornamentik der Amalienburg, die ihr eine eigene Vorstellung vom Jagen vermittelte. Am besten gefiel ihr die Göttin Diana, die als Halbplastik die Ostfassade zierte. Sie war keine Matrone wie die Frau Mama, sondern eine schlanke und ranke Bogenschützin. Dem Bildprogramm des Schlösschens konnte Maria entnehmen, dass Jagen etwas anderes ist, als von bequemen Hochsitzen auf flügellahme Vögel zu schießen. Als sie das begriff, verwandelte sie sich in ihren Tagträumen in eine wehrhafte Göttin und legte sich in späteren Jahren auch eine Waffensammlung zu.

    Eine Mitarbeiterin des Historischen Museums in Speyer, das 2010 in der Ausstellung "Sagenhafte Amazonen" Steinschlossgewehre aus der Sammlung Maria Antonias präsentierte, berichtete:

    Eine der Flinten zeigte sehr starke Abnutzungsspuren, das heißt, sie war ständig in Benutzung und aufgrund der häufigen Verwendung musste sie entsprechend oft gereinigt werden, sodass die Gravuren fast wegpoliert sind. Eine andere Besonderheit war eine sogenannte Damengarnitur, die extra für Maria Antonia angefertigt wurde und aus einem Gewehr und zwei Pistolen bestand.

    Als sie sich diese Waffen anschaffte, führte sie kein Leben, mit dem sich eine Amazone hätte anfreunden können. Maria Antonia war verheiratet und scheint ihren Mann gemocht zu haben. Jedenfalls vergalt sie ihm seine Zuneigung mit fünf Söhnen und zwei Töchtern. Friedrich Christian litt seit Geburt an einer Lähmung beider Füße und saß im Rollstuhl. Seiner Frau vergaß er nie, dass sie ihn, den Krüppel, geheiratet hatte.

    Beide verband die Leidenschaft zur Musik. Im Laufe der Ehe hatten sie den gleichen Geschmack entwickelt: in Fragen des Stils, der Mode und des Essens. Auch stimmten sie oft im Urteil der Menschen ihrer nächsten Umgebung überein. Als er tot war, las sie in seinem Tagebuch: Maria ist mein zweites Ich.

    1763, als der Siebenjährige Krieg mit dem Hubertusburger Frieden endete und Marias Oper "Talestri", die eine Amazonen- und eine Friedensoper war, aufgeführt wurde, bestieg Friedrich Christian den sächsischen Thron und übertrug seiner Frau das staatliche Finanzwesen. Kaum war das geschehen, erkrankte er, und die Pocken rafften ihn dahin.

    Lassen wir ein wenig unsere Fantasie spielen und stellen uns vor, dass sich die Fürstin trauernd in ihre Gemächer zurückzog und ein Selbstporträt betrachtete, das ihr wie ein Zauberspiegel erschien. Zwar behauptete er nicht, sie sei die Schönste im Land, aber man sah ja, wie klug, reich, talentiert und schön sie war - und in dieser imposanten Häufung wichtiger Eigenschaften zweifellos einzigartig.

    Vor einigen Jahren hatte Maria dieses Porträt von sich gemalt und dabei wenig Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Stellung genommen. Ganz davon absehen konnte sie freilich nicht. Das Repräsentieren war ihr zur zweiten Natur geworden. Doch verspürte sie den starken Wunsch nach einer persönlichen Note.

    Ihr reichte es nicht, in eine hochgestellte Familie hineingeboren worden zu sein. Zumal die aktive Politik den Männern vorbehalten war. Um etwas daran zu ändern, durften Frauen wie sie ihren Intellekt und ihre Begabungen nicht länger verbergen, auch wenn die Erziehung das vorschrieb. Aus diesem Grund präsentierte ihr Bild das Porträt einer Fürstin und einer selbstbewussten Künstlerin.

    In der linken Hand hält sie eine Farbpalette, in der mehrere Pinsel stecken. Sie greift nach ihnen mit der Rechten. Das sieht geziert aus. Vielleicht zu sehr. So äußerte sich jedenfalls der junge Raphael Mengs, der ihr beim Malen über die Schulter schaute. Aber sie war eben keine Bürgersfrau, sondern eine hochgestellte Dame mit tadelloser Körperhaltung bei allem was sie tat - ob sie Konversation trieb, speiste oder zur Jagd ausritt. Was Maler Mengs monierte, konnte ebenso gut die Zierde ihres Geschlechts genannt werden.

    Marias geröteter Teint wirkte im Kontrast zu dem hellblauen Kleid, in dem sie sich gemalt hatte, täuschend lebendig. Fast konnte man meinen, ihre Haut auf der Leinwand fühle sich warm an. Versonnen betrachtete sie ihr schmales Gesicht mit der energischen Nase und den großen Augen. Zwischen ihnen und den Augenbrauen war viel Platz. Noch mehr erstaunte sie die Höhe ihrer Stirn. Das musste überprüft werden.

    Sie eilte zum Spiegel und erschrak nicht wenig: Wer war das Gespenst, das da vor ihr stand? Von geröteten Wangen keine Spur. Hatte sie sich hübscher gemalt, als sie war? Oder war sie gealtert? Aber sie entdeckte ja keine Falten. Eigentlich war überhaupt nicht viel von ihr zu sehen. Ihr Gesicht lag unter einer dicken Schicht Schminke und Puder verborgen. Ihre echten Haare verbarg eine Perücke. Ohne Zögern riss sie sich das lästige Teil vom Kopf, ergriff einen Hornspachtel und schabte den festgebackenen Puder Schicht für Schicht von der Haut, mit einer Rücksichtslosigkeit, die dazu führte, dass ihr Körper wieder Farbe annahm.

    Da sie nicht zimperlich war, kratzte sie allen Schorf ab, der sich über eine Unzahl von Insektenstichen und -bissen gebildet hatte. Vor allem die Läuse setzten ihr fürchterlich zu, trotz des Porzellangefängnisses, das sie Tag und Nacht um den Hals trug. Irgendein Duftstoff lockte die Quälgeister an, die lüstern hineinkrabbelten und nicht mehr herausfanden. Jeden Morgen leerte es die Zofe aus. Doch niemals, wenn Maria in der Nähe war. Sie hasste den Anblick dieser Kreaturen, die eklig waren und sogar lebensgefährlich. Einige tödlich verlaufende Krankheiten führte man auf ihre Bisse zurück, von denen die Ärzte behaupteten, sie riefen Geschwüre hervor und würden sogar die Knochen angreifen.

    Nach der schmerzhaften Prozedur war der Boden bedeckt von Mehl, und sie stand da wie der Vogel Phoenix in der eigenen Asche. Sie war dabei, das alte Leben in sich auszulöschen. Fast 40 Jahre zählte sie schon und fühlte sich dennoch frisch wie lang nicht mehr. Neugierig schälte sie sich aus ihren Kleidern.

    Die neue Künstlergeneration malte lieber nackte Götter als nackte Göttinnen. Die fleischigen Olympierinnen der Barockkünstler standen nicht mehr hoch im Kurs. Aber wer sagte denn, dass Griechenlands Göttinnen dick waren? Maria hatte ihren Körper mit langen Ausritten in Form halten können. Wären nicht die vielen Geburten gewesen, hätte sie sich vor die Amalienburg stellen und als lebendiges Abbild der Diana durchgehen können.

    Sie hatte eine Amazonenoper geschrieben, um ein Gegengewicht zu dem von der höfischen Etikette beherrschten Leben zu schaffen, das sie führte. Den Stoff ihrer Oper entdeckte sie in einem mehrbändigen Roman, in dem sie auf die Liebesgeschichte zwischen der Amazone Talestri und dem Skythenprinz Oronte gestoßen war. Oronte hatte sich in die schöne Kriegerin verliebt und als Frau verkleidet, um ihr nahe sein zu können. Als Talestri seine Maskerade durchschaute, jagte sie ihn fort und - verliebte sich ebenfalls in ihn.

    Die Tragik der Handlung besteht darin, dass Talestri zur Amazonenkönigin gekrönt werden und zugleich den Schwur ablegen soll, alle Männer zu hassen. Mit dem Krönungstag beginnt Marias Oper. Talestri erfährt, dass Oronte zu ihr zurückkehrt ist und gefangen genommen wurde. Die Amazonen verlangen von ihr, den Prinzen zum Tode zu verurteilen und Diana zu opfern. Sie begnadigt ihn. Da aber das Heer der Skythen die Hauptstadt der Amazonen belagert, kommt es zu schlimmen Verwicklungen, bevor die verfeindeten Völker endlich Frieden schließen und Talestri ihren Oronte heiraten kann.

    Als Maria Antonia an diesem Stoff arbeitete, kam ihr zu Ohren, Christoph Willibald Glucks Oper "Orpheus und Eurydike" klinge nicht nur ungewohnt, sondern weise auch eine andere Struktur auf als die Werke, die dem Schema der "Opera seria" folgten. Diese Mitteilung war irritierend im höchsten Maße, da man sie im Geiste der italienischen Musik erzogen hatte. Wieso veränderte Gluck etwas, das perfekt war?

    In ihrer neuen Heimat Sachsen hatte Maria, die schon alle Tasteninstrumente beherrschte, Laute spielen gelernt. Im Zentrum ihrer musikalischen Weiterbildung aber stand der Kompositionsunterricht bei Johann Adolph Hasse, einem Schüler Alessandro Scarlattis. Hasse zählte in Europa zu den führenden Komponisten der "Opera seria".

    Durch die Libretti des berühmten Metastasio hatte die italienische Oper ihre Form erhalten, die darauf beruhte, dass die Musik den Text respektierte. Hasse war mit Metastasio eng befreundet, der in ihm den kongenialen Komponisten sah. Beide ließen sie nichts auf die italienische Oper kommen, die sie für die höchste Kunstform hielten.

    Ein guter und wenig gestrenger Lehrer war Hasse. Sein liebenswürdiger Charakter passte perfekt zur gefälligen Art seiner Musik. Möglicherweise war es aber genau umgekehrt und Hasses Kunst, die einfache Melodielinien mit raffinierten Koloraturen versah, verdankte sich seiner noblen Natur, die nichts von Auflehnung und Revolte wissen wollte. Drum zweifelte er auch nie an dem, was er gelernt hatte.

    Als Komponist versuchte er, sich Metastasios poetischer Anverwandlung antiker Sagenstoffe perfekt anzuschmiegen. Auch war es ihm ein wichtiges Anliegen, dass sich die Entwicklung der Handlung, die den Rezitativen oblag, und die Macht der Musik, die aus den Arien sprach, nicht ins Gehege kamen. Hasse rührte nicht an der Tradition des mit zwei oder drei Saiteninstrumenten begleiteten Secco-Rezitativs, das er nur in Ausnahmefällen spärlich orchestrierte. Sein italienischer Freund legte schließlich größten Wert darauf, dass der gesungene Text verständlich blieb und nicht in einem Meer von Tönen versank.

    Gluck kümmerte weniger, was in einem Libretto wortwörtlich stand. Er wollte vor allem die seelische Verfassung der Akteure erklingen lassen. Seine Werke waren emotionaler als alle Musik zuvor, weil das Gewebe seiner Noten nicht zu Ornament und filigraner Koloratur, sondern zur Malerei tendierte. Zu Gemälden, die mit zarten und kräftigen Pinselstrichen ausgeführt wurde. Ob "tausend Qualen und drohende Schatten" oder "Chor der seligen Geister". Ob schreckliche, innige oder aufrüttelnde Seelenzustände - sie alle wurden in den lebhaftesten Farben geschildert; träufelten als entrückte Harfenklänge in die Herzen oder bestürmten mit furiosen Attacken ein Publikum, das dergleichen Ungestüm kaum schon gewohnt war.

    Zur Emotionalisierung der Musik bediente sich Gluck des reich orchestrierten "recitativo accompagnato", das außer vom Cembalo noch von Melodieinstrumenten oder dem gesamten Orchester begleitet wird. Seine Klanggewalt unterstreicht die Handlungsmotive der Gluckschen Opern und unterbricht nicht den musikalischen Fluss.

    Man könnte meinen, Hasse habe die Ausdruckssteigerung der Musik, die sein junger Konkurrent im Schilde führte, gut heißen müssen. Seine sanften Augen und sein weicher Mund wiesen ihn doch als sinnlichen und empfindsamen Menschen aus.

    Aber das war es ja: Hasse glaubte nicht, dass Musik dazu da sei, einen Mangel an Gefühlen auszugleichen. Schon gar nicht bei Genussmenschen. Lustgewinn war keine Aufgabe der Kunst. Dafür gab es andere Mittel und Wege. Jedenfalls war hiervon die höfische Gesellschaft überzeugt, für die er komponierte. Im Unterschied zu Glucks Publikum, das beim Theaterbesuch für alle Entsagungen entschädigt werden wollte, die Gewerbefleiß und bürgerliche Moral so mit sich brachten.

    Wahrscheinlich wird Hasse versucht haben, seine Schülerin davon zu überzeugen, dass Gluck den Untergang der Oper betreibe, die ja immer und zuallererst ein höchst artifizielles Erlebnis sei und der virtuosen Stimme bedürfe. Gewiss war er verärgert über eine Entwicklung, die unter dem Vorwand der Natürlichkeit vorgetragen wurde und die Oper in ein Chaos der Duette und Terzette stürzte, wo alle durcheinander sangen.

    Vielleicht malte er sogar das Drohgespenst einer Kultur an die Wand, in der die visuelle Sensation die musikalische ablöst und die Oper den Augen größere Rechte einräumt als den Ohren. Das freizügige Dekolleté der Primadonna würde wichtiger als ihr Gesang und das Publikum wäre versessen auf alle möglichen Spektakel. Darauf zum Beispiel, dass lebende Pferde echte Kutschen auf die Bühne ziehen - wodurch nun noch die Nasen am Kunstgenuss teilnehmen könnten, sobald die Tiere vor Aufregung ihre Schwänze heben.

    Genug davon! Maria Antonia hatte sicher nichts dagegen einzuwenden, wenn die Künste einander ergänzten. Sie goutierte bei Tisch, dass im Hintergrund musiziert wurde. Und ließ die Augen mitessen, wenn Speisen geschmackvoll auf den kostbaren Tellern ihrer Meißener Manufakturen angerichtet waren. Auch ließ sie sich gern von eleganten Kostümen und üppig dekorierten Bühnenbildern ablenken, insbesondere dann, wenn sie sich bei der Wiederholung bekannter Passagen zu langweilen begann. In so einem Fall war es doch gut, dass wenigstens die Augen ihren Spaß hatten.

    Tatsache ist, dass sich Maria Antonia mit ihrer Oper "Talestri" sowohl als Librettistin vom übermächtigen Vorbild Metastasio abkehrte, als auch den Versuch unternahm, sich als Komponistin von ihrem geschätzten Lehrer Hasse zu lösen.

    Sie baute deutlich mehr "Accompagnati" in ihre Oper ein. Und was noch wichtiger ist: Sie setzte melodische Rezitative gezielt zur dramatischen Steigerung der Handlung ein.

    Am Ende des zweiten Akts, wenn sich die Konflikte zuzuspitzen beginnen, taucht bei ihr das erste "recitativo accompagnato" auf, um im dritten Akt das traditionelle Generalbassspiel vergessen zu machen. So auch in der vierten Szene, in der Streicher und Flöten einsetzen, als Talestris Ruf nach Oronte ohne Antwort bleibt. Die Amazone überfällt ein heilloser Schrecken. Als wäre das nicht genug, tritt nun noch die Hohepriesterin auf und behauptet, Oronte sei tot. Da beschließt die unglückliche Talestri in einem von Streichern getragenen Rezitativ ihren Selbstmord, um mit dem Geliebten im Tod vereint zu sein.

    Sie möchte Oronte auf dem Weg in die Unterwelt einholen und zusammen mit ihm den Fluss überqueren, der die Lebenden von den Toten trennt. "An des Styx' Ufern bin ich schon", singt sie, "die äußersten Wellen, nein, übertrete sie nicht. Wir werden gemeinsam übersetzen."

    Diese Stelle leitet über in die schönste Arie der Oper, die ein Gluck nicht besser hätte komponieren können. Vergessen wir nicht, dass auch das Libretto von Maria Antonia stammt und dass es sich dabei nicht um einen Gebrauchstext handelt, sondern um Dichtung. Nicht wenige Libretti führte man damals als Schauspiele auf. Bedenken wir weiter, dass die Fürstin den schwierigen Part der Talestri bei der Uraufführung selber sang! Für die Arie, die wir die schönste nannten, legte sie der Amazonenkönigin die traurigen Worte in den Mund:

    Bleicher Schatten, der du hier ringsum
    betrübt und irrend umgehst,
    ach, verweile nur einen Augenblick!
    Auch ich komme, um dir zu folgen.


    Weit gravierender als die behutsame Ablösung von Hasse in musikalischen Fragen, war Maria Antonias Abkehr von Metastasio und den Forderungen, die er an ein Libretto stellte. Dem Maestro waren Männer, die in Röcke, und Frauen, die in Männerhosen schlüpften, ein Ärgernis. Penibel achtete er darauf, dass sich die Charaktere, die er auf die Bühne ließ, in Alter, Geschlecht und Status unterschieden. Als ein Kind des Zeitalters der Aufklärung bekannte sich Metastasio zur Differenz und einer von Männern dominierten Kultur. Er bekämpfte den weiblichen Heroismus und entwickelte ein Libretto-Modell, bei dem eine Übermacht von zumeist vier Männern zwei Frauenfiguren gegenüberstehen. Dominante Herrscherinnen tauchen bei ihm kaum auf und kluge Regentinnen schon gar nicht.

    Gegen dieses Modell begehrte Maria Antonia auf. In ihrer Oper stehen drei Frauen zwei Männern gegenüber. Und es ist diesmal kein Mann, sondern eine Frau - die Amazonenkönigin - die den tragischen Konflikt zwischen staatsmännischen Pflichten und ihrer Liebe aushalten muss. Hinzu kommt, dass die beiden Männer - Oronte und Freund Learco - sehr gefühlsbetont agieren. Dagegen verkörpert die Heldin Talestri männliche Eigenschaften. Ihr Entschluss, in der Schlacht gegen die Skythen ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ihr Volk zu retten, zeigt, dass sie mutig ist und eine würdige Herrscherin.

    In ihrem Libretto stellte Maria Antonia die Geschlechterrollen auf den Kopf. Die Frauen müssen sich ihren Weg zur Liebe und zum Frieden bahnen, indem sie zuerst ihre Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen akzeptieren lernen und Kampfbereitschaft zeigen. Umgekehrt sind die Männer aus Liebe zu den Amazonen kriegsmüde geworden.

    Die Oper "Talestri" macht deutlich, dass die Männer in einer besseren Welt den Mut finden müssen, sich zu ihren Gefühlen zu bekennen, wohingegen Frauen, die sich zu Höherem berufen fühlen, dem Verstand folgen und ihre politische Aufgabe erfüllen müssen, bevor sie sich auf das Abenteuer der Liebe einlassen dürfen. Erst wenn "weibliche Liebe" in den Männern und "männliche Tugenden" in den Frauen aufblühen, wird die Verbindung der Geschlechter auf Augenhöhe möglich. Mit dieser Vorstellung widersprach Maria Antonia den Opernstoffen ihrer Zeit und bewies zudem eine Aktualität, die bis in unsere Zeit reicht.

    Lassen wir nochmals die Musikwissenschaftlerin Christine Fischer zu Wort kommen, die argumentiert, Maria Antonia sei mit ihrer Oper "Talestri" aus dem Schatten Metastasios und aus ihrer politischen Deckung getreten. Und warum? Um ihren eigenen Regierungsanspruch anzumelden:

    Talestris erfolgreiche Machtausübung ist ein Plädoyer für die Befähigung von Frauen im Allgemeinen und von Maria Antonia im Besonderen in der männlichen Domäne der Staatenführung.

    Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass "Talestri" eine barocke Allegorie auf die Versöhnung Sachsens mit Preußen darstellt, wobei den erstgenannten unter dem Zepter Maria Antonias die Rolle des Amazonenvolkes zufällt, während sich die Preußen in Skythen verwandeln. Der Alte Fritz hatte das sogleich verstanden, andernfalls wäre nicht zu erklären, weshalb sich ein Hagestolz wie er 1767 dazu hinreißen ließ, der Fürstin folgende Liebeserklärung zu machen:

    Wenn man Künste und Tugenden in einer Person vereinigt findet, ist es möglich zu verhindern, sie zu lieben? Diese Liebe ist nicht der Art, die vor Scham errötet, aber eine unwiderstehliche Anhänglichkeit, von Bewunderung begleitet.

    Offenbar hatte die Oper ihre Wirkung nicht verfehlt und den Preußenkönig dazu verleitet, sich mit Oronte, dem Skythenprinz, zu identifizieren. Aber erst, nachdem er seinen ungerechtfertigten Krieg gegen Habsburg und Sachsen gewonnen hatte. Vielleicht stand ja dem gichtkranken Monarchen Maria Antonia, die Amazone, verführerisch vor Augen, als er, vier Tage vor Weihnachten, seiner "Anhänglichkeit" Ausdruck gab. Möglicherweise klang auch in ihm nach, was der Chor der Skythen und Amazonen am Schluss der Oper singt:

    Unter uns herrsche ewiger Friede,
    man spreche nicht von Strenge.
    Und der Liebe alleinige Fackel
    Entzünde nun unser Herz.


    Über den Autor:
    Gerd de Bruyn ist Professor für Architekturtheorie und Institutsdirektor an der Universität Stuttgart