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"Die sitzen Tag und Nacht, lernen ununterbrochen"

Satte 184.500 Unterschriften hat die Hamburger Initiative "Wir wollen lernen" in den vergangenen Monaten gegen die beschlossene Schulreform gesammelt. Zahlen, die auch in Niedersachsen mit großer Spannung erwartet wurden, denn hier wurde in der vergangenen Woche ebenfalls ein Volksbegehren gestartet, um G9 - also 13 Schuljahren an Gymnasien und Gesamtschulen - wiedereinzuführen.

Von Susanne Schrammar |
    " Guten Tag - haben Sie noch einen Moment Zeit für uns? Wir sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren gegen die Verkürzung der Schulzeit an Gesamtschulen und Gymnasien."

    "Ja, das ist gut."

    Die Pausenhalle der IGS List in Hannover vor wenigen Tagen. Mit einem Klemmbrett in der Hand sprechen Konstanze Nagel und andere Mütter Besucher an, die zum Eltern-Sprechtag der Schule kommen. Es geht um das so genannte "Volksbegehren für gute Schulen", das niedersächsische Eltern initiiert haben. Darin fordern sie, sowohl an Gymnasien als auch an Gesamtschulen zu 13 Schuljahren zurückzukehren. Im Sommer dieses Jahres hatte die niedersächsische CDU-FDP-Regierung durchgesetzt, dass auch an Gesamtschulen das Abitur bereits nach zwölf Jahren abgelegt werden muss. Konstanze Nagel, deren 13-jähriger Sohn an der IGS List unterrichtet wird, geht das gegen den Strich:

    "Es war eine völlig falsche politische Maßnahme und ich finde, dass mit dem Volksbegehren das eben insofern sinnvoll, als das es die Möglichkeit ist, das tatsächlich wieder rückgängig zu machen."

    Und so ist jetzt der Startschuss für das Volksbegehren gefallen, angeschoben von einem Dutzend Eltern aus Hannover, Göttingen, Oldenburg und Braunschweig. Zu den Initiatoren gehört auch der Professor für Schulpädagogik Manfred Bönsch von der Leibniz-Universität Hannover. Schüler, sagt der Erziehungswissenschaftler, bräuchten mehr Zeit, um sich auf das Abitur vorzubereiten:

    "Jeder von uns weiß, dass die Lerntempi von Menschen unterschiedlich sind und wenn sie unter ständigem zeitlichen Druck stehen, dann schwinden die Chancen für viele Kinder und Jugendliche zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu kommen. Wir wollen aber auch daran erinnern, dass eigentlich sich Schule eigentlich immer verbindet mit einem Bildungsbegriff - dass Bildung gewissermaßen das zentrale Anliegen ist und nicht Wissensmast in unerhörtem Zeitdruck und dafür Raum zu geben, braucht man eben auch Zeit."

    Zumal, so der Schulpädagoge, die Lehrpläne an niedersächsischen Schulen nicht entsprechend entschlackt worden seien. Die Kinder und Jugendlichen hätten immer weniger Zeit zum Spielen, für Freunde oder für die Arbeit in Vereinen, sagt auch Tatjana Matuschke-Fricke, Elternsprecherin an einer hannoverschen Gesamtschule und eine der Mitinitatorinnen des Volksbegehrens. Wer - wie die Landesregierung - auf das Beispiel anderer europäischer Staaten blicke, der müsse auch sehen, dass Bildung dort auch anders funktioniere, so Matuschke-Fricke:

    "Die fangen an mit frühkindlicher Bildung bereits im Kindergarten, sie haben Gesamtschulen, die über lange Zeit laufen, deutlich länger als nur vier Jahre. Die Kinder werden dort also auch sehr viel länger gemeinsam unterrichtet, die Klassen sind kleiner, die Ausstattungen sind anders, die Lehrerversorgung ist anders. Man kann nicht immer nur Einzelteile herausnehmen und das große Ganze hinten runter fallen lassen."

    Während die Gewerkschaft für Erziehung in Niedersachsen das Volksbegehren ebenso unterstützt wie die Landtagsopposition von Grüne, SPD und Linke, hat der niedersächsische Philologenverband den Initiatoren vorgeworfen, Haupt-, Realschulen und Gymnasien abschaffen und stattdessen eine Zwangsgesamtschule für alle einrichten zu wollen. Das Kultusministerium sieht bislang keinen Anlass, auf das begonnene Verfahren zu reagieren. Sprecher Andreas Krischat:

    "Es handelt sich hier um eine ganz normale demokratische Aktion, die hier gestartet wird und ich möchte das nicht bewerten."

    Für einen Erfolg des Volksbegehrens müssen in Niedersachsen zehn Prozent der Wahlberechtigten unterschreiben, also insgesamt 608.000 Menschen. Aus Sicht der Initiatoren ist die Aktion erfolgreich angelaufen, in der ersten Woche seien mehr als 17.000 Unterschriftenbögen angefordert worden. Auch Konstanze Nagel findet an diesem Nachmittag viele Menschen, die den Kuli zücken und die Liste mit den Forderungen unterschreiben. Auch Hans-Jürgen Ratsch gehört dazu. Als Fachbereichsleiter an der IGS List und Vater einer Zwölftklässlerin kennt er das Problem aus Lehrer- und Elternperspektive:

    "Die sitzen Tag und Nacht, lernen ununterbrochen, die Leistungsanforderungen sind brutal und das sehen wir sowohl in den Schulen als auch als Eltern zuhause. Die Lehrer sind genervt, weil sie die Leistung kaum schaffen. Es wird alles auf die Kinder weggedrückt - also hier noch ein Referat und da noch eine Ausarbeitung. Bei uns vergeht keine Nacht, wo die Tochter nicht bis mindestens Mitternacht sitzt und arbeitet."