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"Die SPD muss sich sehr viel breiter aufstellen"

Peer Steinbrück hat ein Buch geschrieben, so wie er spricht: bissig, ironisch, zuweilen sarkastisch. Der SPD-Politiker und ehemalige Bundesfinanzminister versucht darin den Nachweis zu führen, dass Deutschland nichts dringender bedürfe als weiterer Reformen. Eine Agenda 2020 soll es sein.

Peer Steinbrück im Gespräch mit Peter Kapern |
    In Peer Steinbrücks Bonner Abgeordnetenbüro hat Peter Kapern den Politiker gefragt, ob er Verständnis haben würde, wenn seine Parteifreunde von der SPD, der Partei der Agenda 2010 also, dieses Plädoyer für eine weitere Agenda als Aufforderung zum politischen Selbstmord lesen würden:

    Peer Steinbrück: Sich dem rasanten, global ökonomischen, demografischen und gesellschaftlichen Wandel zu entziehen, indem man sagt, das kann alles so bleiben wie es ist, wäre nicht mein politischer Ratschlag und dürfte auch nicht die Überzeugung der SPD sein.

    Peter Kapern: Dieses sich den Problemen entziehen, ist es das, was Sie meinen, wenn Sie im Buch Ihrer Partei eine "strukturell bedingte Verspätung in der Realität" attestieren?

    Steinbrück: Das hat damit zu tun.

    Kapern: Was genau meinen Sie damit?

    Steinbrück: Na ja, nehmen wir das aktuelle Beispiel der Rente mit 67. Natürlich ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters alles andere als populär. Viele stöhnen darüber. Viele weisen auch zu Recht darauf hin, wie sie das denn machen sollen, wenn es gar keine Arbeitsplätze dafür gibt. Ich sage richtig. Nur trotzdem, die Suspendierung ist falsch, weil sie so tut, als ob diese Demografie zu überlisten ist, und das ist sie nicht. Es ist ein falsches Signal an Arbeitgeber, die glauben, sie könnten vielleicht mit der Frühverrentung weitermachen. Es ist aber auch ein falsches Signal an Arbeitnehmer, die sich darauf einrichten müssen, dass unter dem demografischen Druck das bisherige soziale Sicherungssystem insgesamt, aber auch die umlagefinanzierte Rente eindeutig in den Schraubstock kommt. Deshalb glaube ich, dass dies ein Beispiel der strukturellen Verspätung ist, weil die SPD, wenn sie an der Regierung wäre wieder, was ich ihr oder uns eher schneller wünsche als später, dann letztlich eine solche Beschlusslage doch wieder revidieren müsste."

    Kapern: Die inhaltlichen Empfehlungen, die Sie Ihrer Partei geben, gehen ja noch viel weiter. Sie empfehlen ihr einige gewichtige Traditionen oder zumindest Rituale über Bord zu werfen, zum Beispiel die Orientierung an den Zielen und Forderungen der Gewerkschaften oder auch die ausschließliche Fixierung auf die Nöte von Transferempfängern. Wie tiefgreifend wäre so ein Wandel, den Sie dafür notwendig halten? Hätte das die Dimension eines zweiten Godesbergs, oder was wäre das?

    Steinbrück: Nee, aber das ist jetzt eine ziemliche Verkürzung die sie bringen. Ich weise nur darauf hin, wenn nur noch 24 oder 25 Prozent der Arbeitnehmer die SPD wählen, dann wird sie alleine mit einer Politik, die auf klassische Arbeitnehmerinteressen zugeschnitten ist, nicht mehr mehrheitsfähig, und deshalb halte ich ein Plädoyer, dass sie sich auch widmen sollen dem Mittelstand, sogenannten disponiblen Arbeitern, insbesondere auch der kreativen Wirtschaft. Gut ausgebildeten Frauen in urbanen Milieus, insbesondere auch einer sehr mobilen jüngeren Generation, die nicht per se irgendeine Interessenlage haben oder eine hohe Affinität gegenüber den Gewerkschaften. Das heißt, die SPD muss sich sehr viel breiter aufstellen, um aus dem 20-Prozent-Ghetto wieder herauszukommen und mehrheitsfähig zu werden. Das ist der Kern meines Plädoyers. Und zweitens, Sie haben recht, ja, ich sehe manchmal mit etwas zugekniffen Augen, dass die SPD ihre Hauptbotschaften auf die Interessenlagen von Rentnern legt und von Transferempfängern, aber weniger eine Aussage trifft für die Generation meiner Kinder oder eines Tages meiner Enkelkinder, oder der Klasse, die Peter Glotz mal als die produktivistische Klasse bezeichnet hat, also derjenigen, die diesen Sozialstaat mit ihren Beiträgen und ihren Steuern finanzieren.

    Kapern: Kann man denn beides, Schutzmacht der kleinen Leute sein und diese, darf ich sagen, diese neue Mitte gewinnen?

    Steinbrück: Ja.

    Kapern: Oder öffnet man dadurch Fluchttüren nach links?

    Steinbrück: Nein, das ist das Beste, um in der Mitte Wahlen zu gewinnen, wie ich behaupte. Die schwierige Übung wird intellektuell und politisch sein, dass wir bei einer zunehmenden Unübersichtlichkeit und bei diesem Wandel, einer zunehmenden Komplexität, politisch nicht mehr in Entweder-Oder-Kategorien denken können. Sondern sowohl als auch. Sie werden ein Solidarsystem nach wie vor erhalten müssen, ich bezeichne den Sozialstaat als Kulturgut, der maßgeblich verantwortlich ist, dass der Zusammenhalt dieser Gesellschaft einigermaßen gehalten werden kann. Aber gleichzeitig werden sie die Interessen derjenigen, die diesen Sozialstaat finanzieren, nicht aus dem Auge lassen dürfen.

    Kapern: Ist das das Konzept einer Politik, die Sie beschreiben, die sowohl ausgleichend als auch ambivalent sein muss?

    Steinbrück: Ja, ich rede davon, dass die Politik mit Ambivalenzen mindestens fertig werden muss. Ich komm zu dem Ergebnis, Volksparteien, die Volksparteien bleiben wollen, werden eine sehr breite Klammer liefern müssen, um so viel wie möglich der Gesellschaft in ihren Interessen und Vorstellungen binden zu können. Diese Gesellschaft wird pluralistischer, sie wird individualistischer, die Wählermilieus lösen sich auf. Also wird eine Partei, die nur fixiert ist auf eine ganz bestimmte Wählergruppe allenfalls eine Klientelpartei sein, aber keine Volkspartei.

    Kapern: Aber wenn die Gesellschaft so ist, wie Sie sie beschreiben, warum sollten Volksparteien dann überhaupt eine Zukunft haben?

    Steinbrück: Na ja, ich behaupte ja nicht, dass es so leicht sein wird, wieder 40 Prozent oder 45 Prozent wie früher zu bekommen. Aber ich würde mir doch schon um der demokratischen Substanz und politischen Stabilität wünschen, dass es mehrere Volksparteien gibt, die koalitionsfähig und regierungsfähig sind. Das setzt nur voraus, dass sie ihre politischen Angebote verändern müssen, dass sie ihr politisches Personal wahrscheinlich auch anders auswählen müssen als bisher, dass sie ihre Sprache verändern, ihre Kommunikation, und ich füge hinzu auch das ablegen, was viele Menschen empfinden, nämlich dass diese politischen Parteien sehr selbstbezogen sind. Ich rede von dem selbstreferentiellen System der politischen Parteien."

    Kapern: In Ihrem Buch, Herr Steinbrück, schlagen Sie einen weiten Bogen von der Verschiebung der geopolitischen und globalwirtschaftlichen Gewichte Richtung Asien bis hin zu den Finanzierungsnöten unserer sozialen Sicherungssysteme und zum demografischen Wandel. Sie zeichnen die Skizze einer Welt im Umbruch, die in der Warnung endet, das Deutschland und Europa aus der Belle Etage des Wohlstandes und des sozialen Friedens hinausgeworfen werden könnten. Ist das nicht arg alarmistisch?

    Steinbrück: Nein, das empfinde ich so nicht, sondern ich glaube, das ist nachweisbar. Ich sage ja nicht, dass man sich dem ergeben soll, dass man morgens im Bett bleiben soll und die Bettdecke über den Kopf ziehen soll. Wir haben es weltweit mit Veränderungen zu tun, die, wenn wir nichts tun, wenn wir uns nicht anstrengen, wie ich an einer Stelle sage, dazu führen können, dass das bisher sehr europäisch-atlantische Weltbild abgelöst wird durch ein asiatisch-pazifisches Weltbild. Ich versuche deutlich zu machen, und zu unterlegen, nicht einfach nur warnend, sondern auch belegt, dass wir es weltweit mit ökonomischen Prozessen im Zuge auch der Globalisierung zu tun haben. Wir haben es mit einer Alterungsentwicklung unserer Gesellschaft zu tun. Wir haben es mit gesellschaftlichen Änderungen zu tun, ich rede auch von Fliehkräften, die diese Gesellschaft in ihrer Stabilität erschüttern, die nichts tun, oder ein Verharren und Beharren auf bisherigen Gewissheiten als sehr gefährlich darstellen lassen. Es kann sein, dass man darüber Ende dieses Jahrzehnts diese Republik nicht in der selben, vergleichbar guten Verfassung wiederfindet wie heute.


    Kapern: Es gibt etwas, Herr Steinbrück, das hat mich an Ihrem Buch etwas gewundert. Während Sie also den großen Bogen schlagen, wird der Politiker Peer Steinbrück für den Leser deutlich erkennbar. Er erfährt, was Peer Steinbrück denkt, und was er für richtig hält. Der Mensch Peer Steinbrück kommt in Ihrem Buch fast gar nicht vor, nicht mal in der Chronologie der Finanzkrise, in deren Verlauf, wie Sie schreiben, die Welt am Abgrund stand, und mich würde interessieren, wie fühlt es sich eigentlich an, als Politiker in so einer Extremsituation zu stecken. Hat man Angst vor der Größe der Probleme? Darf man die haben? Gibt es Momente, in denen man glaubt, das Bemühen könnte eigentlich vergeblich sein?"

    Steinbrück: Es war nie meine Absicht, eine auch nur teilweise Biografie zu schreiben. Ich habe es für absurd gehalten, mich selber zu beschreiben, wie ich in kurzen Hosen rumgelaufen bin, oder meine Mutter mir Stullen geschmiert hat. Und im Übrigen entgleitet einem meistens eine Selbstbespiegelung oder eine Selbstbeurteilung. An manchen Stellen blickt mindestens durch, dass während der Finanzkrise ich durchaus, von ja Gefühlen übermannt wurde, oder auch in Situationen gewesen bin, wo ich buchstäblich gedacht habe, du wirst in einen Schlund geraten. Von Kräften, die du nicht mehr steuern kannst, das hat es gegeben.

    Kapern: Zu den bittersten und amüsantesten Passagen in Ihrem Buch gehört die Passage über das Verhältnis von Journalismus und Politik. Da schreiben Sie voller Sarkasmus, wie Politiker wie auf Knopfdruck vorgestanzte Fragen beantworten. Ich zitiere mal: Wollen Sie wissen, wann der Haushalt ausgeglichen ist, dann drücken Sie Taste 1. Wollen Sie Kanzler werden, dann drücken Sie Taste 4. Also dann jetzt Taste 4, wollen Sie Kanzler werden, ist das ein Bewerbungsschreiben?

    Steinbrück: An der Frage kommen Sie auch nicht vorbei. Es ist ganz erstaunlich, weil Sie damit bestätigen, was ich in dem Buch schreibe. Das ist der Hang zur Personalisierung von Politik. Das ist offenbar das leckermäuligste was es in der Politik gibt.

    Kapern: Ja, die Menschen wollen wissen, wer die Personen sind, die dann die Politik umsetzen.

    Steinbrück: Ja das ist doch eine völlig absurde Frage. Ich meine, ich kann die nicht abwehren, aber ich stelle sie selber ja gar nicht, und ich bin sehr gezielt aus allen Ämtern nach der verlorenen Bundestagswahl herausgegangen. Ich habe keine Ambition auf ein solches politisches Amt.

    Kapern: Aber Ihr Verlag macht Werbung damit, dass Sie als Kanzlerkandidat gehandelt werden.

    Steinbrück: Ja gut, so wie mich viele Menschen auch darauf ansprechen. Das ist eine Umgebung, für die diese Frage aktuell ist. Ich kann Ihnen nur ehrlicherweise sagen, für mich ist sie nicht aktuell, sie stellt sich nicht.

    Kapern: Dann schreiben Sie noch ein Buch?

    Steinbrück: Meine Frau würde sich beschweren, nachdem ich fast acht Monate als Einsiedler in meinem Arbeitszimmer gesessen habe. Aber es hat mir Spaß gemacht, es ist, freimütig gesprochen, eine sehr viel anstrengendere Arbeit als ich das für möglich gehalten habe. Sie müssen sich sehr disziplinieren. Sie können nicht einfach mal zwei, drei Stunden am Tag schreiben. Sondern Sie müssen sich einen richtigen Arbeitsplan machen, und der Zeitdruck, dann ein solches Buch fertig zu stellen, das ist so ähnlich gewesen wie in der Politik.

    "Unterm Strich" - so heißt das Buch von Peer Steinbrück. Die 480 Seiten sind bei Hoffmann und Campe erschienen. Wer sie haben will, muss 23 Euro zahlen.