Bocholt, Anfang Februar. Seit Stunden haben die Genossinnen und Genossen im Textilwerk auf Martin Schulz gewartet. Und als dieser dann endlich von hinten das alte Fabrikgebäude betritt, brandet Applaus auf.
Schulz geht hinter den dichten Stuhlreihen, von denen seine Partei-Freunde aufgesprungen sind, entlang – und bleibt in der Ecke vor einem aufgebauten Mikrofon stehen. Der WDR bekommt zuerst ein Live-Interview – vor der geplanten Rede. Die Genossen klatschen einfach weiter – und Schulz redet in das Mikrofon:
"Was ich aber mache: Ich reise durchs Land. Ich höre Menschen zu. Ich treffe Leute in den Betrieben, ich treffe Leute in Krankenhäusern, Pflegeheimen und höre zu."
"Zeit für Martin" oder "Jetzt ist Schulz", so lauten die Sprüche und Aufschriften, die bei solchen SPD-Veranstaltungen seit Ende Januar, seitdem klar ist: Schulz wird Kanzlerkandidat und Partei-Chef, auf Plakaten, Ansteck-Buttons oder T-Shirts getragen werden. Wenn der "Schulz-Zug" kommt, wie es Social-Media-kompatibel alsbald hieß, dann herrscht Euphorie. Wie eben jetzt in Bocholt, wo der designierte Kandidat mittlerweile auf der Bühne steht:
"Vielen Dank, liebe Genossinnen und Genossen für den …"
"Martin für Deutschland."
"… freundlichen Empfang."
Die Genossen aufrichten, stark reden, ihnen Selbstbewusstsein einflößen
Es gibt wohl kaum einen Termin, an dem sich der sogenannte "Schulz-Effekt" besser aufzeigen lässt, als an diesem Abend in Bocholt. Denn gerade hier, im konservativen Münsterland, im eigentlich tiefschwarzen Bocholt, in dem seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausschließlich Kandidaten der CDU die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, herrscht nun Euphorie. Dabei waren die Genossen am Boden: Im Dezember trat der örtliche SPD-Vorsitzende Thomas Purwin wegen Hassmails und Mord-Drohungen gegen sich und seine Familie zurück, weshalb auch Schulz, an große Sozialdemokraten wie Otto Wels, die in der NS-Zeit Widerstand geleistet haben, erinnert:
"Wenn ich an die Dreckigkeiten denke, die Thomas erdulden musste, und seine Familie. Dann denke ich an diese Helden der deutschen Geschichte, die sich im Namen unserer Partei dem untersten, was es in unserem Lande gibt, in den Weg gestellt haben. Diese Leute können uns nicht treffen. Sie haben nicht das Niveau …"
Die Genossen aufrichten, stark reden, ihnen Selbstbewusstsein einflößen. Das ist es, was Martin Schulz an diesem Abend in Bocholt praktiziert – und seit seiner Kür eben auch bundesweit. Innerhalb der ersten Woche als designierter Kanzlerkandidat schossen die Umfragewerte der SPD in die Höhe, die Partei ist nun auf Augenhöhe mit der Union, bisweilen sogar vorne, was auch Schulz überrascht:
"Weil ich mir nicht sicher war, ob das gelingen würde, in der Kürze der Zeit, aber dass es gelingen könnte, dessen war ich mir sicher und deshalb wiederhole ich den Satz heute: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erhebt den Anspruch, die stärkste Partei dieses Landes zu werden. Und ich …"
Der Applaus dauert fast eine Minute. "Und ich erhebe den Anspruch Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden." Das erinnert viele Genossen an die Wechselstimmung im Jahr 1998 unter dem damaligen Kandidaten und späteren Kanzler Gerhard Schröder. Nach seinem Auftritt muss Schulz Autogramme geben, für Selfies posieren. Die Genossinnen und Genossen fühlen sich verstanden:
"Er hat mir aus der Seele gesprochen, in ganz vielen Dingen. Auch mit einfachen Worten."
"Er kommt von unten her, ich komme auch von unten her, gerade ein Autogramm von ihm bekommen, ich kenne Solidarität. Ich hoffe, dass er es wird."
"Wenn Du den Ball jetzt hältst, dann ist Deine junge Karriere früh beendet."
"Er kommt von unten her, ich komme auch von unten her, gerade ein Autogramm von ihm bekommen, ich kenne Solidarität. Ich hoffe, dass er es wird."
"Wenn Du den Ball jetzt hältst, dann ist Deine junge Karriere früh beendet."
Schulz, einer von uns – das ist sein Image. An einem Ball kann er bis heute nicht vorbeigehen.
"Wir haben diese Seite hier beackert von hinten bis vorne. Er war linker Verteidiger."
Mit 20 ist der Traum von der Profi-Karriere ausgeträumt
Bei den Schwarzen Teufeln von Rhenania Würselen spielt der rote Schulz vielversprechend, doch mit 20 ist der Traum von der Profi-Karriere ausgeträumt: Knie kaputt!
"Ich gebe es auf! – Nein, noch einmal!"
Das Kicken gibt er auf, sich selbst nicht. Dabei steht der junge Schulz kurz vor dem Scheitern. Das Abi schafft er nicht, seine Freunde sind rat- und machtlos.
"Weil er einfach viel getrunken hat, und die Menschen um ihn herum, haben ihm auch gesagt: Wir können auch bald nicht mehr helfen!"
Schulz hilft sich am Ende selbst und überwindet seine Alkoholsucht.
"Ich kenne das Leben auch von unten!"
Sagt er heute. Das prädestiniert ihn in den Augen vieler dafür, ganz oben zu stehen - an der Spitze der SPD, der er als 19-Jähriger beitrat.
"Meine Mutter war eine Hausfrau, mein Vater war Polizeibeamter im mittleren Dienst. Meine Fußballträume sind zerplatzt, und ich hab die Orientierung verloren. Aber ich weiß auch, wie gut es sich anfühlt, wenn man dann eine zweite Chance bekommt. Ich bin stolz darauf, ich habe sie genutzt, ich habe eine Buchhändler-Lehre gemacht, ich habe später einen kleinen Buchladen eröffnet. Ich habe dann in der Kommunalpolitik von der Pike auf gelernt, was man in der Politik wissen muss."
Die Brüche in seiner Biographie machen ihn authentisch
Vom Buchhändler zum Bürgermeister, vom einfachen Europaabgeordneten zum Parlamentspräsidenten. Diese Karriere fasziniert, meint der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer:
"Schulz projiziert ein Bild eines sozialdemokratischen Politikers, der von unten kommt – kleine Verhältnisse – der einen Aufstieg gemacht hat, abgestürzt ist, wieder aufgestiegen ist, Weg nach oben. Es gibt dann aber eben auch eine Art und Weise, von sich zu erzählen, dass die Leute sagen: Das ist mir vielleicht auch so passiert, da erkenne ich auch den kleinen Mann wieder, der für die SPD steht – geht auf den Fußballplatz, geht zu den Leuten, redet kumpelhaft, redet auch in einer Sprache, die unmittelbar verständlich ist."
Die Brüche in seiner Biographie machen ihn authentisch. Im Rückblick gibt es nichts zu bereuen, er hat sein Ding gemacht. Schulz spricht die Sprache der kleinen Leute und kann sich doch bei den Großen der Welt Respekt verschaffen. Schulz beherrscht fünf Fremdsprachen. Er liebt Frankreich, französische Chansons, neben Fußball auch die Literatur. Bodenständigkeit und Weltgewandtheit – diese Mischung trägt dazu bei, dass der künftige Vorsitzende scharenweise neue Anhänger zur SPD zu locken vermag.
Samstagmittag in einem Raum der Arbeiterwohlfahrt in der Kölner Innenstadt. Der Pizza-Bote ist vorbeigekommen. Seit knapp drei Stunden beschäftigen sich hier neun neue Genossinnen und Genossen mit der SPD – es geht um die Geschichte, Arbeitsweisen und Strukturen der Partei. Aber nun, gibt es erst einmal etwas zu essen:
"Also, es ist schon geschnitten."
Die Neumitglieder gehören zu einer großen Gruppe: Anfang März konnte die SPD das 10.000. Neumitglied im Jahr 2017 verkünden, auch das ist der "Schulz-Effekt", der Katja Kleegräfe viel Arbeit macht: "Normalerweise machen wir monatlich ein bis zwei Seminare für neue Mitglieder. Jetzt machen wir doppelt so viele. Das ist wirklich toll."
Seit acht Jahren organisiert sie diese Seminare bei der NRW-SPD. Sie steht nun in der Düsseldorfer Messe, außerordentlicher Landesparteitag Mitte Februar, Hannelore Kraft wird einstimmig zur Spitzenkandidatin gekürt. Auch hier hat die SPD wieder rund 100 Neu-Mitglieder eingeladen. Alle tragen noch ein Schild, mit der Aufschrift "Gast".
"Die Leute, die im Moment zu uns kommen, sind nicht nur die ganz jungen oder die ganz alten, sondern es ist eben auch diese Menschen, die in der Rushhour des Lebens stehen. Wir haben sehr viele Eintritte in den Jahrgängen zwischen 70 und 75."
Erklärt Kleegräfe. Und in einem Nebenraum der Messe treffen sie sich nun. Die Neuen und die Alten, gefragt sind jetzt erst einmal die Neuen: "Gibt es von Eurer Seite noch Fragen zudem, was bisher passiert ist?" Etwas weiter hinten meldet sich ein junger Mann, doch seine Frage ist akustisch nicht zu verstehen: "Die Frage war, ob man mal hier ein Meinungsbild erstellen könnte, ob man nur wegen der Kanzlerkandidatur eingetreten wäre." In manchen Medien sei dies ja kolportiert worden. "Es gibt einige. Ja."
Ganz vorne steht ein Mann um die 50 Jahre, auf Krücken gestützt. "Ja. Bei mir hat sich der Kreis geschlossen. 72 bin ich als Achtjähriger mit der Willy-Brand-Plakette ‚Willy wählen‘ hergelaufen. Was die SPD war, das wusste ich zwar noch nicht so genau, aber ich bin mitgelaufen. Und jetzt, viele Jahre später, im Willy-Brandt-Haus, dieselbe Begeisterung. Es geht wieder aufwärts. Es geht um soziale Gerechtigkeit."
Nicken in der Runde. Die Frage, ob man wegen Martin Schulz eingetreten sei, scheint beantwortet. Endlich gehe es wieder um die Probleme des kleinen Mannes. "Diese Stimmung hat Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus glaubhaft hervorgebracht. Auf Genossen, lasst es uns anpacken."
Gabriels Alleingänge waren den Genossen verhasst
"Heiko Maas – Guten Morgen! – Moin! – Schön, dass wir uns hier so am Dienstagmorgen um acht Uhr im Tiergarten treffen können!"
Eine ungewöhnliche Verabredung mit dem Justizminister. Wir treffen den Saarländer wenige Tage vor dem SPD-Parteitag beim Joggen. Der 50-Jährige ist begeisterter Triathlet, das sportlichste Mitglied des Bundeskabinetts.
"Wir wollen das jetzt mal versuchen, während des Laufens ein bisschen zu sprechen über den Sport, über den Sport in der Politik, aber natürlich über die SPD, über Martin Schulz, was der da an den Start gelegt hat, ich glaub, das können auch viele Sozialdemokraten noch nicht so ganz glauben … Maas: Zumindest können es die meisten nicht so richtig erklären, es gibt wahrscheinlich ganz viele Punkte, da ist viel zusammengekommen!"
Auch im Verhältnis des Lafontaine-Zöglings Maas zum scheidenden SPD-Vorsitzenden Gabriel war zwischenzeitlich einiges zusammengekommen. Via Deutschlandfunk-Interview hatte Gabriel seinen Justizminister angewiesen, die Vorratsdatenspeicherung auf den Weg zu bringen, die feine Art war das nicht. Maas musste sich beugen. Heute redet er offen über den unterschiedlichen Stil von Schulz und Gabriel.
"Ich glaube bei Sigmar, der eine sehr konfrontative Art hat Politik zu machen, es viel zu hart gewesen ist, ist der Stil von Martin Schulz vielleicht einer, der besser in die Zeit passt."
Gabriels Alleingänge waren den Genossen verhasst, deshalb atmen viele in der Partei nun auf. Doch Martin Schulz richtet die SPD auch inhaltlich neu aus. Er scheint einen Nerv getroffen zu haben, weil er sie zu ihrem Markenkern zurückführt. Schulz stellt das Thema "Gerechtigkeit" in den Mittelpunkt, ungeachtet der Tatsache, dass eine Mehrheit der Menschen die persönliche Situation gar nicht als so ungerecht empfindet, wie es der Kanzlerkandidat gerne darstellt. Schulz spricht über Ängste der Mittelschicht, über den 50-Jährigen, der die Kinder noch im Haus, pflegebedürftige Eltern zu versorgen hat und plötzlich Angst bekommt, seinen Job zu verlieren.
"Wie ist das, wenn Du nachts wach wirst und diesen Albtraum hast? Wie ist das, wenn eine junge Frau oder ein junger Mann sich beworben hat und hat 150 Absagen bekommen oder hüpft von einem Praktikum zum nächsten oder von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten! Dann sagen mir kluge Köpfe ´ja das sind doch Einzelschicksale, bauschen Sie das doch nicht so auf!´ - nee, die Würde des Menschen ist unantastbar, steht im Artikel 1 unserer Verfassung!"
Die SPD-Mitglieder üben in Düsseldorf, wie man Wahlkampf macht
Auf die schlechten Träume antwortet der Gabriel-Nachfolger dann auch mit Änderungen an jenem Reformwerk, das für Gewerkschafter und Linke als Inbegriff der Ungerechtigkeit gilt und den Sozialdemokraten so viel Zuspruch gekostet hat: Die Agenda 2010. Der Mittfünfziger soll eben keine Angst mehr vor dem schnellen Abstieg in Hartz IV haben müssen – bis zu vier Jahre lang will die SPD Arbeitslosengeld zahlen, wenn sich Erwerbslose in dieser Zeit weiterbilden. Auf dem rechten Flügel sorgt sich mancher, dass Schulz am Ende überziehen könnte mit den Korrekturen, linke Sozialdemokraten wie Vorstandsmitglied Michaela Engelmeier sehen das völlig anders:
"Dass Martin Schulz da jetzt kommt mit der Veränderung der Agenda, das finde ich klasse! Da hätte ich vielleicht auch erst mal nicht mit gerechnet, aber ich muss sagen, das was er da jetzt sagt, hat Hand und Fuß, Fortbildung oder Qualifizierung ist das A und O. Das Ungerechte daran war ja, dass Arbeitnehmer, die unfassbar lange gearbeitet haben und dann arbeitslos wurden – aus welchen Gründen auch immer – dann eben irgendwann in Hartz IV fielen, ich finde, das muss korrigiert werden. Da bin ich ihm unglaublich dankbar für!"
"Es ist das richtige Thema!", meint Politologe Gero Neugebauer. "Aber es ist ein Thema, das aus sehr unterschiedlichen Ecken beleuchtet wird. Wir haben viele Leute in der Gegenwart, die sagen, mir geht es eigentlich gut, aber ich befürchte, dass meine Kinder oder Enkelkinder es nicht so gut haben werden. Also das typische an dem Gerechtigkeitsbegriff von Martin Schulz ist eigentlich, dass er sagt: Ich will da keinen betriebswirtschaftlichen Blick auf die Gesellschaft nehmen, ich habe ein Interesse daran, dass die Gesellschaft stabil bleibt, dass es gerechter zugeht, weil mehr Gerechtigkeit auch zu mehr Effektivität und sozialer Stabilität führt."
"Ich freue mich, dass ihr so zahlreich an einem Samstag mit so schwierigen Schneeverhältnissen den Weg zu uns nach Düsseldorf gefunden habt."
Gut 100 SPD-Mitglieder sind an diesem Februar-Morgen nach Düsseldorf gekommen, um in den nächsten Stunden das Gespräch mit den Wählerinnen und Wählern zu üben. "Infostandtraining", so lautet der Arbeitstitel der Veranstaltung, zu der normalerweise rund 20 Leute kommen. Nun sind es fünf Mal so viele, die Partei musste extra einen größeren Raum suchen.
"Man verteilt Kugelschreiber und Flyer. Dann bricht ja die Euphorie aus." Erzählt Wolfgang Nafroth, der als Referent seit Jahren solche Seminare gibt, und sich – trotz Schulz-Hype – nicht aus der Ruhe bringen lässt.
Aber auf Kugelschreiber – das ist an diesem Morgen bei den Wahlhelfern der nächsten Wochen und Monate spürbar – sind die Genossen nun nicht mehr angewiesen: "Martin Schulz ist für mich authentisch, jetzt nicht so geleckt wie die anderen Politiker, hat nicht so einen geraden Lebenslauf. Ich glaub, der ist da nicht so in einer Blase aufgewachsen, wo man nur als Akademiker reinkommt, sondern er weiß auch, was die Leute bewegt."
Christophe Twagiramungu ist an diesem Morgen aus Köln-Chorweiler nach Düsseldorf gekommen. Der junge Mann wird in den nächsten Wochen und Monaten Wahlkampf machen: "Vor allem haben wir auch richtig Bock jetzt mit Martin Schulz. Wir glauben jetzt an eine Wechselstimmung."
"Der Martin ist ein Mann aus dem Volk"
Und meint damit den Bund. Doch in Nordrhein-Westfalen soll alles beim alten bleiben. In Schulz' Heimat NRW wird in zwei Monaten – am 14. Mai – gewählt. Aber von resignierten Genossen und der Bedrohung durch die AfD in den sozialdemokratischen Hochburgen im Ruhrgebiet, ist auf einmal nur noch wenig zu spüren. Lagen SPD und CDU in NRW zu Beginn des Jahres in den Prognosen noch gleichauf, haben die Zahlen der Sozialdemokraten nun einen Satz gemacht – entsprechend stark ist ihr Selbstbewusstsein.
"Kanzler-Unterbezirk", so steht es – demonstrativ – auf einem Plakat in unmittelbarer Nähe der Bühne des Landesparteitages in Düsseldorf.
"Also die Kameras sind einmal darauf gerichtet worden. Auch 'Würselen-Kanzlerstadt' ist hier das zweite Plakat."
Erzählt Oliver Liebchen. Der 34-Jährige kommt aus der Nähe von Würselen – und kennt daher die Begeisterung in Schulz' Heimatstadt schon länger.
"Ja, wie sich das genau erklärt? Ich weiß es nicht. Der Martin ist ein Mann aus dem Volk, hat in der Gosse gelegen und insbesondere seine eigenen Leute aus der Partei, aber auch offensichtlich ganz viele Bürgerinnen und Bürger im Land haben ganz großen Respekt davor, dass er trotzdem es so weit gebracht hat."
Doch erst einmal steht die Wahl in Nordrhein-Westfalen an. Generalprobe für den Bund, das weiß auch Schulz. Immer wieder wird er sich in den nächsten Wochen in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland zeigen. In einer Woche wird er dort auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl gewählt werden. Und das brachte Ministerpräsidentin Kraft – die ursprünglich Sigmar Gabriel als Kandidat unterstützte, nun aber – Ironie der Geschichte – wohl vom Schulz-Effekt gerettet wird – bei ihrer Rede als frisch gekürte Spitzenkandidatin in Düsseldorf auch langen Applaus ein:
"Wir sind stolz, dass er unsere Liste anführen wird. Wir sind stolz, dass er einer von uns ist und wir werden alles geben, dass er unser Bundeskanzler wird."
Es scheint, als hätte Martin Schulz gerade einen Marathonlauf gestartet – die Ziellinie ist das Tor zum Kanzleramt. Langstreckenprofis wie der sportliche Justizminister Heiko Maas wissen: Es kann fatal sein, zu schnell in ein solches Rennen zu starten. Und Schulz legt mit seiner Tour durch die Republik ein unglaubliches Tempo vor. Wird ihm am Ende die Puste ausgehen? Wird die Partei helfen, den Hype bis zum September auf hohem Niveau zu halten?
Was soll diesen Kandidaten noch stoppen?
"Na ja, es liegt jetzt an der SPD, man kann alles richtig machen und alles falsch machen. Aber wie das im Moment läuft: Es gibt in der SPD eine große Geschlossenheit, weil es eine große Sehnsucht gibt, es endlich mal wieder mit der CDU auf Augenhöhe aufnehmen zu können, und das hatten wir lange so nicht mehr."
Was soll diesen Kandidaten noch stoppen? Die Christdemokraten reagieren nervös, Finanzminister Schäuble hält Schulz Populismus á la Trump vor, ein Anti-Schulz-Dossier macht die Runde. Engen Vertrauten soll er als EU-Parlamentspräsident zu einflussreichen Posten verholfen haben.
"Das muss sich Herr Schulz, das muss sich die SPD schon gefallen lassen, dass man bei einem Kanzlerkandidaten vielleicht noch ein bisschen genauer hinschaut. Der will das wichtigste politische Amt in diesem Land!"
Meint CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Schulz, ein Mann des Brüsseler Establishments mit Schattenseiten? Wird der Kämpfer für soziale Gerechtigkeit am Ende darüber stolpern? Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer kann sich das kaum vorstellen.
"Das ist eher in der Rubrik Kleinkram zu verorten, weil Schulz so eine Mentalität hat, wie sie auch Helmut Kohl schon hatte: Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Es gibt Aussagen von Leuten, die sagen: Ach, da guck einer an, der kümmert sich um seine Leute, hat er sich persönlich bereichert? Das ist der Punkt: Würde er sich persönlich bereichern, dann gibt´s kein Pardon."
Auf dem Sonderparteitag der SPD in Berlin dürften sie Martin Schulz am Sonntag nicht nur mit überwältigender Mehrheit zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten küren, sondern ihn vor allen Dingen frenetisch feiern - als Heilsbringer einer vom Wähler allzu lang verachteten Partei. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Michaela Engelmeier hat daran keinerlei Zweifel.
"Der rockt den Saal! Nach spätestens zehn Minuten geht die Post da ab!"