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Die Spiegel-Bestsellerliste "Belletristik"

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 23.04.2013
    Dieses Gehirn treibt seit über zehn Jahren die Frage um, ob manche Bücher von manchen Lesern vielleicht als Narkotikum eingesetzt werden und ob darin möglicherweise die Erklärung für das Auftauchen so vieler schlechter, ja miserabler Bücher auf der deutschen Bestsellerliste liegt.

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch: diesmal mit der Wiederkehr des Grafen Dracula der esoterischen Erbauungsliteratur, Zeitreisen zum Grafen von Saint Germain, Nachrichten aus europäischen Adelshäusern zur Zeit der Völkerschlacht, Ausflügen in die Aristokratie Amerikas, zwei Romanen mit tumben kleinbürgerlichen Helden - sowie der Wahrheit über die literarische Auferstehung Adolf HitlerSeiten

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen rekordverdächtige fünf Kilo und 755 Gramm auf die Waage: zusammen 4507 Seiten.

    Platz 10: Kerstin Gier: "Rubinrot" (Arena Verlag, 345 Seiten, 15,99 Euro)

    Zu dieser Zeitreisegeschichte und ihren beiden Fortsetzungen werde ich mich in naher Zukunft äußern …

    Platz 9: Paolo Coelho: "Die Schriften von Accra". Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes, 184 Seiten, 17,90 Euro)

    Der Urvater aller esoterischen Schwachsinnsschwurbler ist wieder da. Jetzt noch dümmer, noch plakativer, noch abgeschmackter. "Versuche nicht, nützlich zu sein. Sei nur du selbst! Das allein zählt!", schreibt Coelho allen Ernstes, als müsste irgendjemand im Kapitalismus noch zur Kultivierung des eigenen Egos ermutigt werden. Coelhos im Predigerton verfasste Maximen, Trostofferten und Sinnsprüchlein häufen Dummheit auf Dummheit:

    "Das Schlimmste ist, zu fallen und nicht wieder auf die Füße zu kommen." Oder: "Die Augen sind der Spiegel der Seele", oder "In der äußeren Schönheit wird die innere Schönheit sichtbar." Ich aber sage Euch: Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen.
    Platz 8 und Platz 7: Kerstin Gier "Samaragdgrün" (Arena Verlag, 437 Seiten, 18,95 Euro) und "Saphierblau" (Arena Verlag, 395 Seiten, 18,95 Euro)

    Sowie der schon erwähnte Auftaktband der Jugendbuchtrilogie "Rubinrot" auf Platz zehn.

    Unsere Heldin Gwendolyn entstammt einer mehr als schrulligen britischen Familie, kann Geister sehen, die für andere unsichtbar bleiben, und ist 16 ½ Jahr alt, als sie herausfindet, dass sie zudem Trägerin eines seltenen Gens ist, das ihr Zeitreisen in die Vergangenheit erlaubt. Es geht um einen uralten Geheimbund, die erste große Liebe, einen finsteren Plan des Grafen von Saint Germain und um den Unsterblichkeit versprechenden Stein der Weisen. Ich habe durchaus eine Schwäche für Zeitreisegeschichten, aber keine so große, um dieser schwachen Zeitreisegeschichte ihre Geschichtsbilder und Geschlechterklischees zu verzeihen.

    Platz 6: Jussi Adler-Olsen: "Das Washington Dekret" (Deutsch von Hannes Thiess und Marieke Hamburger, DTV, 653 Seiten, 19,90 Euro)

    Zum ersten Mal muss ich diesen Autor loben: loben für seinen Ehrgeiz, Adler-Olson versucht in seinem neuen Thriller nämlich zu beschreiben, wie die Etablierung einer Diktatur in den Vereinigten Staaten ablaufen könnte. Leider erweist sich der Autor sowohl dramaturgisch, wie auch stilistisch komplett von seinem Thema überfordert: Das Innenleben meines Staubsaugers wirkt aufregend im Vergleich zu dem Bild, das Adler Olson von der Psyche des amerikanischen Präsidenten und seinem Umfeld zu zeichnen vermag. Niemals hätte dieses auf jämmerlichem Niveau gescheiterte Buch ein halbwegs ordentlich arbeitendes Verlagslektorat passieren dürfen.

    Platz 5: Anne Gesthuysen: "Wir sind doch Schwestern" (Kiepenheuer & Witsch Verlag, 416 Seiten 19,99 Euro)

    Verklemmt und verdruckst, katholisch und kinderreich sowieso: Das Leben der Menschen am Niederrhein wurde selten so anrührend genau geschildert wie in diesem Roman über drei sehr unterschiedliche Schwestern, die alle Facetten einer grandiosen deutschen Landschaft repräsentieren. Erzählanlass ist der hundertste Geburtstag der ältesten Schwester Gertrud. Anne Gesthuysen erzählt von Organisation der Feier und breitet angenehm gelassen die Vorgeschichte der Schwestern aus, doch der eigentliche Held in ihrem besonderen Familienroman ist der Niederrhein und seine Bewohner.

    Platz 4: Sabine Ebert: "1813. Kriegsfeuer" (Knaur Verlag, 934 Seiten, 24,99 Euro)

    Es bedarf durchaus literarischen Muts, wie Sabine Ebert in Tolstois Fußstapfen zu treten, und einen historischen Roman über Napoleon und die Völkerschlacht von Leipzig zu schreiben. Dieser Mut weckt meine Sympathie. In der Wahl ihrer literarischen Darstellungsmittel bleibt Sabine Ebert aber vollkommen mutlos konventionell, dafür reitet sie der Übermut, wenn sie in ihrem Roman ein ständiges Promi-Schaulaufen veranstaltet und neben Zar, Franzosenkaiser und Prinz Eugen von Württemberg sogar noch den Säugling Richard Wagner auf den Armen seiner Mutter in Leipzig nach Brot greinen lässt. Endgültig den Todesstoß versetzt diesem historischen Schinken sein trendiger Vulgärfeminismus, der auch nicht besser ist als der Hurrapatriotismus, mit dem frühere Autoren dieses Sujet behandelt hätten:

    "Männer nehmen Leben, Frauen schenken Leben. So ist es seit Anbeginn der Zeit."

    Ja, und Frauen, Frauen schreiben seit Anbeginn der Zeit aufgeblähte Liebesromane über Stoffe, die keine literarische Naivität verzeihen. Aber so muss es ja nicht auf ewig bleiben.

    Platz 3: Volker Klüpfl, Michael Kobr: "Herzblut" (Droemer Verlag, 395 Seiten, 19,99 Euro)


    "Low-carb, low-fat, low-salt": der Allgäuer Kriminalhauptkommissar Kluftinger hat wirklich nichts zu lachen in diesem Fall um eine rätselhafte Mordserie – seine Leser dafür um so mehr, denn die Angst vor einem dräuenden Herzinfarkt zwingt den Kässpatzen-Fanatiker dazu, Diät zu halten und Tofu und Joghurt statt Leberkäsesemmeln zu futtern, ein Testament aufzusetzen und sogar seinem cholerischen Naturell Zügel anzulegen. Kluftingers schwerblütiger Inspector-Clouseau-Charme ist sicher nicht jedermanns Sache, immerhin aber steigern sich Klüpfl und Kobr von Buch zu Buch.
    Platz 2: Dora Heldt: "Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!" (DTV, 352
    Seiten, 17,90 Euro)


    Die Lektüre dieses in einlullelende Phlegma-Prosa verfassten Romans gleicht einer Selbsteinweisung in die Geriatrie. Ich kenne Friedhöfe, unter deren Grassoden mehr reflektiert wird als in diesem Buch: nach 70 Seiten kommt es während einer Autofahrt zu einem Reifenwechsel, 60 Seiten weiter wird die Suppe serviert, am Ende kulminiert der tranige Plot um eine Rentnerabzocke mit gefakten Immobiliendeals in einem leichten Herzinfarkt. Dora Heldt schreibt für jene Sorte Mensch, die schon mit 30 auf den Tag genau weiß, wie viel Zeit sie noch zur Rente braucht.

    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:
    Timur Vermes: "Er ist wieder da" (Eichborn, 396 Seiten, 19,33 Euro)


    Was für ein großartiges Comeback hat der deutsche Comickünstler Walter Moers Hitler in seinen Comicbänden "Adolf", "Adolf Teil Zwei" und "Adolf - Der Bonker" verschafft. Und was für ein lahmes Machwerk ist dieser schwache Roman um einen im Berlin des Jahres 2011 wiederaufgetauchten Adolf Hitler.

    "Da hätte ich mir den ganzen Krieg ja schenken können", lässt Vermes Hitler rufen, als er von der Fortexistenz Polens erfährt, "teilweise sogar auf ehemaligen Reichgebiet!" Solche Sparwitzchen kennzeichnen diesen Roman und machen ihn eher zum Partygag als zur Kunst. So muss ich dem Romantitel widersprechen: der Schmonzes "Er ist wieder da" ist sofort wieder weg.