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Die "Spiegel“-Bestsellerliste Sachbuch

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck | 29.01.2013
    Dieses Gehirn hört sich nicht auf zu wundern. Zum Beispiel über die Gründe, warum die Sachbücher auf der deutschen Bestsellerliste in der Regel ein wesentlich höheres Niveau besitzen als die Romane.

    Die aktuelle SPIEGEL-Bestseller-Liste Sachbuch:

    Platz 10) Daniel Kahnemann: "Schnelles Denken, langsames Denken" (Siedler Verlag, 624 Seiten, 26,99 Euro)

    Ein kleines Wunder auf dieser Bestsellerliste ist dieses ungewöhnlich seriöse und lohnende Buch darüber, wie unser Denken abläuft, wie wir Entscheidungen treffen und wie wir auf Risiken reagieren. Eine Betriebsanleitung für unser Gehirn – geschrieben von einem Psychologen aus Princeton und Wirtschaftsnobelpreisträger.

    Platz 9) Manfred Spitzer: "Digitale Demenz" (Droemer, 368 Seiten, 19,99 Euro)

    Manfred Spitzer, der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, kommt zu dem Fazit:

    "Digitale Medien führen dazu, dass wir unser Gehirn weniger nutzen, wodurch seine Leistungsfähigkeit abnimmt."

    Allerdings hätte man dasselbe Argument auch gegen die Erfindung des Rades ins Feld führen können. Dass übertriebenes Computergedaddel unserem Bewusstsein schadet, damit hat Manfred Spitzer sicher recht. Aber diesem Bewusstsein schaden auch aus Sensationsgier aufgeblasene alarmistische Quatschthesen.

    Platz 8) Claus Kleber und Cleo Paskal: "Spielball Erde" (C. Bertelsmann Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro)

    Dieses einsichtsreiche Buch über die geostrategischen Konsequenzen des Klimawandels und der Polkappenabschmelzung ist aus den Dreharbeiten zu einem ZDF-Dokumentarfilm entstanden. Insbesondere die Analysen, wie etwa die Chinesen im Kampf um Ressourcen auf die neue Lage reagieren und wie sie zum Beispiel im Königreich Tonga agieren, lohnen die Lektüre.
    Platz 7) Philippe Pozzo di Borgo: "Ziemlich beste Freunde" (Deutsch von Dorit Gesa Engelhardt, Marlies Russ und Bettina Bach, Hanser Berlin, 256 Seiten, 14,90 Euro)

    Ein sehr privilegierter Mann erzählt in diesem bewegenden Buch, wie eine Körperbehinderung nach einem Sportunfall und eine Freundschaft mit einem Pfleger sein Leben verändert haben. Sein von großer Weisheit zeugendes Fazit:

    "Nicht das Fehlen des Körpers macht die Behinderung aus, sondern das des Anderen."

    Platz 6) Peter Scholl-Latour: "Die Welt aus den Fugen" (Propyläen, 400 Seiten, 24,99 Euro)

    Peter Scholl-Latour hat seinen Schreibtisch aufgeräumt und allerlei Manuskripte von TV-Dokumentationen, Zeitungskommentaren und Artikeln zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Diesen Geburtsmakel merkt man seinem neuen Werk an. Allerdings ist Peter Scholl-Latour dank seiner profunden Kenntnisse, einleuchtenden Wertungen und überzeugenden Gewichtungen politischer und historischer Zusammenhänge selbst noch in der Zweitverwertung seiner Texte schlicht brillant.

    Platz 5) Manfred Lütz: "Bluff: Die Fälschung der Welt" (Droemer, 189 Seiten, 16,99 Euro)

    Wie die großen Weltdeutungssysteme der Wissenschaft, der Medien und der Finanzwelt die Wirklichkeit mit ihren Kulissen verdecken und verfälschen, beschreibt der Psychiater und Theologe Manfred Lütz in diesem pointiert geschriebenen Pamphlet. Als agnostischem Leser bleibt mir zugegebenermaßen unverständlich, warum der gläubige Katholik Lütz die Religionen nicht als uralte Oberbluffer seiner schönen Aufzählung hinzufügt, sondern auf der Zielgeraden seines Buches ausgerechnet die katholische Kirche als Alternative für ein "existentielles Leben" inklusive ewigem Seelenheil empfiehlt. Das nenne ich den Bock zum Gärtner machen. Dennoch: ein lesenswertes Buch.

    Platz 4) Jost Kasier: "Als Helmut Schmidt einmal" (Heyne Verlag, 128 Seiten, 10 Euro)

    Der Personenkult um Helmut Schmidt, den Bilbo Beutlin der deutschen Sozialdemokratie, nimmt allmählich groteske Züge an. Dieses Buch mit 55 Anekdoten aus dem Leben des großen Parteiführers erinnert an Nordkorea.


    Platz 3) Rolf Dobelli: "Die Kunst des klugen Handels" (Hanser, 248 Seiten, 14,90 Euro)

    Klug und kurzweilig erzählt Dobelli in seinen beiden Ratgebern von Stolperstellen in unserer Entscheidungsfindung und analysiert etwa, warum uns selbst erfundene Fischsaucen besser schmecken als die von Fremden gekochten und wie Zahlen als psychologische Anker funktionieren.


    Platz 2) Rolf Dobelli: "Die Kunst das klaren Denkens" (Hanser, 256 Seiten, 14,90 Euro)

    Wie amüsant es sein kann, über unser Denken nachzudenken, beweist der Schweizer Autor im ersten Band seiner Kolumnensammlung - eine im besten Sinn aufklärende Lektüre.


    Platz 1) Florian Illies: "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" (S. Fischer, 320 Seiten, 19,99 Euro)

    Natürlich ist diese Aneinanderreihung von Anekdoten über die großen Kreativen der Welt vor hundert Jahren kein substantieller Beitrag zur Kulturgeschichtsschreibung und will das auch gar nicht sein. Aber die Schlaglichter aus dem Leben und Schaffen von Franz Kafka, Picasso, Marcel Duchamp oder Thomas Mann lassen auf amüsante Weise den Zeitgeist der Epoche lebendig werden.