Es geht um das Gewicht der Worte. Diesseits und jenseits der Linie, die unsere Weltsicht von der des Islamischen Staates trennt. Den sollte man dabei eigentlich nur noch "das Kalifat" nennen, betont Philippe-Joseph Salazar. Das sei ein Wort, das in unserer – also der französischen wie der deutschen - Sprache eine klare Bedeutung habe. Im französischen Radiosender France Culture erklärte der Rhetorikprofessor an der Universität Kapstadt:
"Es fällt mir auf, dass wir in der aktuellen Debatte eine Reihe von Ausdrücken benutzen, die kein Gewicht haben. Zum Beispiel: unerbittlich, ohne Gnade. Seit Februar 2015 befinden wir uns im Kriegszustand. Wenn wir uns tatsächlich im Kriegszustand befinden, dann bedeutet dies, dass die Franzosen, die ihre Waffen gegen die Republik richten, Verräter sind. Das meine ich mit dem 'Gewicht der Worte'."
Worte ernst nehmen
Als Verräter müssten die IS-Terroristen bezeichnet und entsprechend bestraft werden, argumentiert Salazar in seinem Buch "Die Sprache des Terrors". Aber das geschehe nicht. Weder in Frankreich noch in Deutschland. Es geht dem französischen Rhetoriker und Philosophen nicht um das konkrete Strafmaß, sondern darum, dass Worte in ihrer Bedeutung ernst genommen werden. Er prangert den Widerspruch an, der sich speziell in Frankreich aus dem martialischen, also kriegerischen politischen Sprachgebrauch – und dem dieser Sprache nicht angemessenen rechtsstaatlichen Handeln ergibt. So werde nicht nur die Sprache ausgehöhlt, sondern auch die Demokratie.
"Seit der Aufklärung ist unser rhetorisches Modell ein öffentliches. Der Bürger muss umfassend informiert sein, wenn er wählen geht. Das ist es, was Republik und Demokratie bedeuten. Wenn man die Dinge nicht mehr exakt bei ihrem Namen nennt, dann ist die Öffentlichkeit immer weniger informiert. Als Folge wendet sie sich von logischen und rationalen Prozessen ab und verlegt sich auf emotionale und pathetische Verhaltensweisen."
Worte erschaffen Realitäten
Dabei spielt der in Marokko geborene Salazar an auf Trauermärsche und das Anzünden von Kerzen auf öffentlichen Plätzen nach Terroranschlägen. Das reiche ebenso wenig aus wie Sicherheitsmaßnahmen. Die Herausforderung müsse auch auf rhetorischer Ebene angenommen werden. Denn Worte reflektierten nicht nur Realitäten, sie erschafften sie auch. Deshalb sei es wichtig, die Schriften und Reden des Kalifats genau zu analysieren, um seine Dynamik zu verstehen. Und gleichzeitig sollten wir unsere eigene Sprache wieder bewusster einsetzen, uns auf die Bedeutung von Worten besinnen und ihnen entsprechende Taten folgen lassen.
"Wir sollten eine genaue und folglich anspruchsvolle Sprache sprechen. Eine bewaffnete Sprache."
Salazars Buch ist mehr Essay als wissenschaftliche Analyse. Er will aufrütteln und durchaus provozieren. Der 61-Jährige hat zwei Jahre lang die Schriften, Äußerungen und Videos des Islamischen Staates analysiert. Eine wichtige Erkenntnis: es handelt sich bei den Anhängern nicht um einen Haufen Durchgeknallter, die man nicht ernst nehmen muss – wie es viele unserer Politiker und Medien glauben machen möchten. Das Kalifat habe eine ausgefeilte, professionelle Rhetorik entwickelt und nutze die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets wie keine andere dschihadistische Terrororganisation zuvor. Die Proklamationsrede Abu Bakr al-Baghdadis im Juli 2014 hält Salazar für ein rhetorisches Meisterwerk. Die arabisch-islamische Redekunst sei geprägt von einem blumigen Stil, voller Allegorien, Verzierungen, weitschweifiger Formulierungen und Umschreibungen.
"Gegen diesen Stil sind wir machtlos: Unsere politische Sprache ist vergleichsweise steril, rhetorisch banal und ohne jede Poesie."
Wunsch nach Heldentum
Auch die im Arabischen weit verbreitete Logik von Analogien sei uns fremd.
"In den Reden des Kalifats ist demnach eine Logik am Werk, die nichts mit dem zu tun hat, was wir in der Politik für logisch, vernünftig und überzeugend halten. Eine Logik ganz anderer Art, die uns folglich pervers und verrückt erscheinen muss."
Sie verfängt aber offensichtlich bei tausenden Europäern, die sich dem IS in den vergangenen Jahren angeschlossen haben. Salazar betont zu Recht, dass die Propaganda des IS die Gefühle und den Wunsch nach Idealen anspreche.
"Die Propaganda des Kalifats ist für kluge junge Menschen gemacht, die einen reflektierten Wunsch nach Heroismus und Grenzüberschreitung haben."
Nicht alle IS-Rekruten sind klug und gut ausgebildet, möchte man einschränken. Jedoch scheint der Wunsch nach Heldentum und danach, über sich hinaus zu wachsen, jene jungen Menschen zu einen. Der materialistisch orientierte Westen spreche sie nicht mehr an, ihm fehlten Werte mit Appellkraft.
"Die Werte der französischen Revolution haben nicht mehr die gleiche verkündende und kategorische Wirkung wie die muslimischen Glaubensformeln."
Karten neu mischen
Der Essay Salazars bietet intelligente Denkanstöße und zeichnet sich durch seine messerscharf klare Darlegung aus. Es ist kein leichter Lesestoff, der Autor setzt Hintergrundwissen voraus. Leider mangelt es mitunter bei ihm selbst an Differenziertheit. So spricht er vom Dschihadismus, als gäbe es davon nur die IS- Variante. Auch ist nicht richtig, dass der muslimische Märtyrerbegriff immer den Täter meint, während der christliche Märtyrer immer Opfer ist. Solche lapidaren, nicht haltbaren Behauptungen irritieren. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Mosaikstein für das Verständnis des Islamischen Staates in seiner gegenwärtigen Form und darüber hinaus. Denn die aktuellen territorialen Einbußen des Kalifats bedeuten nicht gleichzeitig sein Ende. Diese Ausprägung des dschihadistischen Terrorismus wird sich an zukünftige Gegebenheiten anpassen, wie es Al Kaida vor ihr getan hat. Deshalb fordert Salazar:
"Lasst uns die Karten neu mischen. Erheben wir die Stimme. Ziehen wir unsere Trümpfe."
Philippe-Joseph Salazar: "Die Sprache des Terrors: Warum wir die Propaganda des IS verstehen müssen, um ihn bekämpfen zu können".
Pantheon Verlag, München 2016. 224 Seiten, 14,99 Euro.
Pantheon Verlag, München 2016. 224 Seiten, 14,99 Euro.