Über Architektur zu schreiben ist hierzulande ein nur wenig bekannter und genauso wenig anerkannter Nebenjob für Architektinnen und Feuilletonredakteure. Alexandra Langes Buch „Writing about Architecture“ erschien 2012.
Mit Essays und Rezensionen aus der neueren amerikanischem Baugeschichte stellt sie Traditionen und Strategien des kritischen Schreibens über Hochhäuser, Museen, Parks, Stadtzentren, Stadtteilentwicklung und Landschaftsarchitekturen vor. Wir schauen ihre beiden Kapitel über Hochhäuser und engagierte Stadtteilplanungskritik näher an.
Alexandra Lange ist Architektur- und Design-Kritikerin, sie lebt und lehrt in New York City. Langes Architekturkritik nimmt vor allem öffentliche Bauten und Planungen in den Fokus. Neben ihrem Lehrbuch über Architekturkritik schrieb sie auch über Shopping Malls („Meet me at the Fountain“) und die Beliebtheit von New Yorker Lofts in SoHo bei einer ganzen Generation von Künstlerinnen und Künstlern.
Jane Jacobs gehörte zu den einflussreichsten Bürger(rechts)-Architekturkritikern des letzten Jahrhunderts.
Ihr erstes Buch The Death and Life of Great American Cities, erschienen 1961, wirft noch immer einen langen Schatten. Die deutsche Ausgabe Tod und Leben großer amerikanischer Städte kam 1963 heraus.
Sowohl Stadtplanungsexperten als auch Bürgerbeauftragte verwenden bis heute Ideen und Formulierungen aus diesem Buch - genauso wie Kritiker und Architektur- oder Stadtplanungsbüros.
Jane Jacobs‘ Wissen fußte nicht auf Büchern, die sie gelesen hatte, sondern auf ihren Erfahrungen - als New Yorkerin, Journalistin und Mutter, wohnhaft im New Yorker West Village der Nachkriegszeit. Wohnen, arbeiten und das Stadtleben beobachten - das waren die Bestandteile, aus denen sie eine urbane Theorie formte.
Tod und Leben großer amerikanischer Städte wurde so ein grundlegendes Dokument einer bodenständigen, de-institutionalisierten Form der Architekturkritik und lieferte einige bis heute relevante Diskussionen darüber, was Städte eigentlich brauchen.
Die bekanntesten Auszüge stammen aus den Anfangskapiteln von Tod und Leben großer amerikanischer Städte, sie befassen sich mit dem Leben in Jacobs‘ eigenem Wohnviertel in den 1960er Jahren, dem Teil von Manhattan, der mit seinen niedrigen Townhouses eine Art idealen städtischen Organismus darstellt.
„So ist der Teil der Hudson Street, in dem ich wohne, jeden Tag Szenerie eines vielgestaltigen Bürgersteigballetts. Ich selbst trete kurz nach acht auf, wenn ich den Abfalleimer hinaustrage. Das ist zwar eine prosaische Beschäftigung, aber ich genieße meine Rolle, mein kleines Klappern, während die Züge der Schüler von der Junior High School durch die Bühnenmitte ziehen und ihre Bonbonpapiere fallen lassen. Wie können sie nur so viel Bonbons schon so früh am Morgen essen?“
So klingt Jacobs in ihrer charmantesten Ausprägung: wie sie ihre Stadt ganz häuslich, alltäglich und detailliert beschreibt, als Bürgersteigballett. Dieses berühmt gewordene „Bürgersteigballett“ auf der Hudson Street, aus dem sie unter anderem die These zog, dass kleine Bebauungseinheiten, überschaubare Wohnhäuserreihungen und ein vielfältiges reges Straßenleben mit zahlreichen kleineren Ladengeschäften große amerikanische Städte sicher mache.
Nach den High-School-Schülern kommen morgens die Ladenbesitzer, die ihre Türen öffnen und die Waren nach draußen stellen. Danach die Grundschulkinder, die Büroangestellten und die Taxis, die scheinbar genau im richtigen Moment erscheinen, um die Aktentaschenträger aufzugabeln, die runter zur Wall Street wollen. All dies noch vor 9 Uhr. Das Ballett geht den ganzen Tag weiter - eine ständige Mischung aus geschäftlichen und privaten Begegnungen. Da sind die miteinander verwobenen Wege der Hafenarbeiter, die es in die Bars zieht, und der Rollschuh fahrenden Kinder; da sind die Straßenlaternen, die genau dann angehen, wenn alle wieder nach Hause kommen, außer den Trinkern und den Nachtarbeitern. Jacobs beabsichtigt hier nicht nur, die Leser so zu bezaubern, dass sie am liebsten in ihr dörfliches Viertel einziehen würden, sondern auch, zu zeigen, dass ein Stadtviertel ein lebendiger, sich bewegender, funktionierender Organismus ist.
„Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, steigert sich das Ballett. Es ist die Zeit des Rollschuh- und Stelzenlaufens und des Dreiradsports, des Einkaufens im Zickzack von einer Straßenseite zur anderen, vom Lebensmittelladen zum Obststand und zurück zur Metzgerei; es ist die Stunde, in der sich die Teenager in schönster Aufmachung präsentieren und sich um herausschauende Unterröcke oder gutsitzende Kragen besorgt zeigen; es ist die Stunde, in der hübsche Mädchen aus den MGs steigen, in der die Feuerwehr durch die Straße braust; es ist die Stunde, in der jeder, den man in der Hudson Street kennt, vorbeikommen wird.“
Alle Mitwirkenden, die Jane Jacobs beschreibt, haben ihre zugewiesenen Rollen, wenn es darum geht, ihren Teil der Stadt sicher, funktionsfähig und bewohnbar zu erhalten:
„Wir sind nur die glücklichen Eigentümer einer städtischen Ordnung, die es uns verhältnismäßig leicht macht, den Frieden zu erhalten, weil auf den Straßen so viele Augen sind. Die Ordnung selbst ist ebenso wie die überwältigende Anzahl ihrer Komponenten kompliziert.“
Dieses sehr persönliche Kapitel stimmt die Leserschaft auf Jacobs‘ eigentliche Argumentation ein. Doch schon jetzt verfolgt sie dadurch, dass sie die Leser in ihr eigenes Leben mitnimmt, einen ganz anderen kritischen Ansatz als die bekannte Architekturkritik. Sie nähert sich der Stadt und ihren Gebäuden nicht als neutrale Beobachterin von außen, ihre Argumentation baut sich von unten nach oben und von innen nach außen auf. So gelangt sie von persönlichen, gründlich beobachteten Einzelheiten zu einem Satz vereinheitlichter Theorien.
Ihr Ansatz mag weitschweifig wirken, als würde sie eine Kurzgeschichte erzählen, aber die bescheidene Art ihrer Rhetorik sollte uns nicht von ihrer Präzision ablenken.
In ihrem Buch thematisiert sie kapitelweise Zweck und Funktionen des Bürgersteigs.
Der Bürgersteig ist der perfekte Ausgangspunkt, ist er doch ein öffentlicher Raum, der trotzdem eng mit dem Reich des Privaten verbunden ist, und diese Bewegung vom Privaten hin zum Öffentlichen ist sowohl Jacobs‘ Thema als auch das Aufbauprinzip ihrer Argumentation.
Persönliche Geschichten prägen unsere Meinungen zu allem und jedem, nicht nur zu Architektur und Stadtplanung. Jacobs lässt die Ecke, aus der sie kommt, ganz allmählich durchscheinen, mit einem Beispiel.
Sie schafft es, ihr Viertel wie jedes andere Viertel erscheinen zu lassen. Dies erzeugt Empathie in uns Lesern; wir sind in der Lage, das, was sie über ihren Block sagt, als Sprungbrett für unsere Gedanken zu nutzen, um das Gesagte auf unsere eigene Wohnumgebung zu übertragen.
Seit Jacobs‘ Tod im Jahr 2006 wurde ihr Vermächtnis von einer Reihe von Kritikern infrage gestellt und neu interpretiert und man fragte sich, ob die Community, die sie beschreibt, überhaupt jemals wirklich existierte.
Jacobs‘ Vision ist sicher nicht universell einsetzbar. Das heißt aber nicht, dass sie ihre eigene Sphäre nicht gründlich untersucht hätte. Ihre Anekdoten sind nicht ohne Ziel - allein deren Zugänglichkeit erschließt uns eine Art, über Städte zu sprechen, die jeder Kritikerin, jedem Kritiker gut zu Gesicht stehen würde.
Heute sind typische Kennzeichen des Bloggens - und überhaupt der allgemeinen Verschiebung journalistischer Inhalte ins Internet - der vermehrte Einsatz des Erzählens aus der Ich-Perspektive, unter Verwendung von Anekdoten.
Wie könnte eine neue Stadt nach Jacobs‘ Kriterien aussehen? Welche ihrer Theorien könnten auf Projekte der Gegenwart angewendet werden?
Für mich passt Jacobs‘ stadtplanungskritische und architekturkritische Methode auch für eine bis in die Gegenwart reichende städtebauliche Kontroverse, die sich um die Neubebauung eines Gleisgeländes im New Yorker Stadtteil Brooklyn dreht, zu Beginn der Planungen bekannt unter dem Namen „Atlantic Yards“. Seit 2014 trägt das Projekt unter neuer Leitung den Namen „Pacific Park“.
Die Kritik an diesem umstrittenen Stadtplanungsprojekt dient als gute Gelegenheit, Jacobs‘ Einschätzungen auf die Stadt von heute anzuwenden. Ich möchte gleich noch zeigen, wie Paul Goldberger, amerikanischer Architekturkritiker für das Magazin The New Yorker und der frühere Architekturkritiker der New York Times, Nicolai Ouroussoff, über ein solches Großprojekt geschrieben haben, und überlegen, wie Jane Jacobs dies vielleicht anders angegangen wäre.
Jane Jacobs Anstoß für ihr Buch Tod und Leben großer amerikanischer Städte war ein persönlicher: Anfang der 1950er Jahre erarbeitete der berühmte Stadtplaner Robert Moses ein etwa 4,8 Hektar großes Areal in Manhattan, südlich des Washington Square Parks. Er wollte die dort von ihm als „Schandfleck“ angesehenen Industriebauten und in die Jahre gekommenen Wohnhäuser abreißen lassen und stattdessen mithilfe staatlicher Fördermittel eine neue Mittelklasse-Wohnsiedlung errichten.
Um diese neue Siedlung im Norden mit Greenwich Village und im Süden mit der von ihm vorgeschlagenen neuen Stadtautobahn Lower Manhattan Expressway zu verbinden, plante Moses, den wenig genutzten Fahrweg, der sich durch den Park schlängelte, zu einer vierspurigen Straße auszubauen. Die Richtung Süden führende Spur der Straße wäre dann mitten durch den Triumphbogen am Washington Square geleitet worden, und den großen Brunnen in der Platzmitte hätte man abgerissen.
Robert Moses lag nicht unbedingt falsch, als er Jane Jacobs und seine Gegnerinnen aus Greenwich Village bei einer öffentlichen Anhörung als „einen Haufen MÜTTER!“ bezeichnete. Allerdings erkannte er nicht, wie groß der Einfluss war, den diese Mütter und weitere Unterstützer mithilfe der Presse ausüben konnten. Gut begründetes und beharrliches Anprangern seines Plans zur Zerteilung des Parks sowie berühmt gewordene Pressebilder des Widerstands führten dazu, dass der Plan schließlich aufgegeben wurde. Heute wird jede David‑gegen‑Goliath‑Stadtplanungssaga, in der sich basisdemokratische Protestierende gegen „Big Money“ und Pläne der Regierung wehren, als Neuauflage von „Jacobs gegen Moses“ betrachtet.
Jacobs schrieb Tod und Leben großer amerikanischer Städte während eben dieser Washington-Square-Park-Proteste. Um für ihre Sache zu werben, spannte sie die Medien geschickt ein und erkannte, dass eine Berichterstattung in der New York Times allein nicht reichen würde, weil diese auch den Gegner Moses,
„immer ausführlich zu Wort kommen ließ“.
Sie wandte sie sich an die Village Voice, eine alternative Stadtzeitung, die erst 1955 gegründet worden war. Ihre vielleicht effektivste Strategie war es, ganz vorn bei den Protesten stets Kinder zu zeigen - eine Methode, die Fürsprecher von Parks und Schulen heute noch einsetzen. Die Kinder sammelten Unterschriften, reckten selbstgebastelte Plakate in die Höhe oder hielten das Band, das bei einer ironisch gemeinten Eröffnungszeremonie für die Zeitungsfotografen durchgeschnitten wurde. Zusammen mit einem Geschwader weiterer Frauen aus dem Viertel schaffte Jacobs es, in diesem urbanen Konflikt Mutterschaft in ein Pfund zu verwandeln, mit dem sie wuchern konnten. Ihre Argumentation sprach sich für das Kleine gegen das Große aus, für Kinder und gegen Autos.
Im zweiten Teil von Tod und Leben großer amerikanischer Städte verschiebt sich Jacobs‘ Fokus von ihrer eigenen Greenwich Village-Straße hin zu Straßen generell, von kleinteiligen Beispielen hin zu einem größeren Prinzip. Die drei von ihr angeführten Prinzipien, die einen erfolgreichen Bürgersteig ausmachen, werden nun auf die Stadtlandschaft als Ganzes angewendet.
Als Leitmotiv schält sich allmählich die Diversität heraus, in der deutschen Ausgabe des Buches „Mannigfaltigkeit“ genannt: Mannigfaltigkeit der Nutzung, Mannigfaltigkeit der Nutzer, Mannigfaltigkeit des Raumes. Eine erfolgreiche Stadt entsteht durch Mannigfaltigkeit, Mannigfaltigkeit erzeugt wiederum Bewegung, und Architektur ist nichts weiter als ein Rahmen für menschliche Aktivitäten, ob nun gewerblich oder privat.
In typisch aufgeräumter Manier identifiziert Jacobs vier Faktoren, die in einem Viertel oder Stadtteil Diversität erzeugen können. Sie erstellt Listen. Ihre Listen kann man als Wegweiser betrachten, die uns zeigen, wonach wir in einem neuen Viertel suchen sollten.
„1. Gemischte Nutzung. Die Menschen müssen die Straßen, Bürgersteige und Parks zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Zwecken nutzen, um so rund um die Uhr eine gewisse Betriebsamkeit zu gewährleisten.
2. Kurze Blocks. Mehr Straßenecken ergeben eine größere Vielfalt an Immobilienoptionen, mehr Möglichkeiten, seine einmal eingeschlagene Route zu ändern, und mehr Chancen, zufällig auf Leute zu treffen.
3. Gemischtes Alter der Gebäude. Neue Immobilien sind teure Immobilien; in alten Gebäuden siedeln sich mehr Künstlerinnen und (kleine) Unternehmer an.
4. Bevölkerungskonzentration. Die Dumpfheit der Vorstädte ist das Ergebnis einer zu breiten Zerstreuung der Menschen, sowohl räumlich als auch zeitlich. Ohne Konzentration gibt es im Viertel keine Geschäfte und keine Kontakte; es ist nichts los.“
Neue städtebauliche Entwicklungen müssen berücksichtigen, wie die Stadt sich organisch entwickelt hat, und genug Raum für Verschiedenheit mit einplanen.
Es ist nicht schwer, sich eine aktualisierte Version von Tod und Leben großer amerikanischer Städte (oder heute vielleicht ein Internet-Blog) vorzustellen, die die von Jacobs beschriebenen guten und schlechten Architekturbeispiele dokumentiert. Nicht jeder kann in Jacobs‘ West Village der 1960er Jahre wohnen, aber man kann auch heutzutage Viertel verwirklichen, die die gleichen guten Eigenschaften der Gemeinschaft, der Vielfalt und der Sicherheit besitzen.
Das Atlantic-Yards-Projekt, ein 4,2 Milliarden Dollar teures Bauvorhaben in Brooklyn mit gemischter Nutzung auf einer Fläche von 8,9 Hektar, wurde im Dezember 2003 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Entwurf stammt von dem Stararchitekten Frank Gehry.
Das Areal sollte teilweise auf einer noch zu bauenden Deckplatte über dem Vanderbilt-Rangierbahnhof in Brooklyn errichtet werden. Das Gebiet liegt zwischen zwei Stadtvierteln, Prospect Heights und Fort Greene, die größtenteils aus den beliebten Brownstones-Stadthäusern bestehen, Darunter liegt ein wichtiger Bahnknotenpunkt, an dem sich die New Yorker U-Bahn mit der Pendlerstrecke nach Long Island verbindet.
Die ursprünglichen Versionen der Planung hatten 2.250 Sozialwohnungen und 4.500 Miet- und Eigentumswohnungen zu Marktpreisen vorgesehen, außerdem rund 420.000 Quadratmeter Bürofläche, ein Hotel, das sich auf 16 Hochhäuser mit 19 bis 58 Stockwerken verteilen sollte, sowie - und das war zunächst das Hauptverkaufsargument - ein professionelles Basketballstadion mit 19.000 Plätzen für die frisch umbenannte NBA-Mannschaft Brooklyn Nets.
„Es ist das wichtigste städtische Bauprojekt seit Jahrzehnten“,
urteilte der Architekturkritiker Nicolai Ouroussoff in der New York Times und hatte in seiner Besprechung mit dem Titel „Das Bestreben, erst das Sportstadion und dann ganz Brooklyn neu zu erfinden“, 2005 nichts als Lob für die geplante Architektur:
„Sollte [Frank Gehrys neuer Entwurf] angenommen werden, wird er die Skyline Brooklyns radikal verändern und das Sichtbarwerden dieses Stadtbezirks als legitimer kultureller Rivale Manhattans noch einmal nachdrücklich bekräftigen.“
Gehrys ursprünglicher Gestaltungsvorschlag hatte dieses Basketball-Stadion raffiniert in einen Kreis aus architektonisch ambitionierten Gebäuden eingebettet, einige davon mit Riffelmetall verkleidet, andere blockhaft, bunt, fast kindlich. Das größte von ihnen, an der Kreuzung von Flatbush und Atlantic Avenue, sollte ein transparent wirkendes Hochhaus werden, das man „Miss Brooklyn“ taufte. Mit 189 Metern Höhe wäre Miss Brooklyn das höchste Gebäude Brooklyns gewesen.
Eine unregelmäßige Fläche in der Mitte sollte zum öffentlichen Park werden. Der teuerste Teil des ganzen Projekts war die Platte, die das offene Gleisgelände überspannen und so eine neue, bebaubare Fläche schaffen sollte. Das Bauprojekt beanspruchte auch einige bestehende Blocks, auf denen sich eine Mischung aus Wohn- und Industriebauten befand. Ein Wohnblock an der Pacific Street hätte vom Stadtplan getilgt werden müssen, um den Umfang des Stadions aufnehmen zu können. Sollten die Bewohner und Eigentümer dieser Gebäude nicht freiwillig weichen, würde man eine Enteignung erwirken, mit dem Argument, das schon Stadtplaner Moses in den 1960ern am Washington Square gebraucht hatte: die Gegend sei ein „Schandfleck“.
Architekturkritiker Ouroussoffs Leitmotiv ist „Gehry rettet die Stadt“.
Seine Sprache verrät, was er vielleicht ganz geblendet von all dem Neuen und Aufstrebenden selbst gar nicht erkannt hat: dass er diesen städtebaulichen Plan wie ein neues Wolkenkratzerprojekt bespricht, wie eine Skulptur, die auf eine leere Fläche gestellt wird.
Ouroussoff, normalerweise kein sehr emotionaler Autor, ruft eine ganze Palette an Superlativen auf. Für ihn lag das Potenzial des Viertels gänzlich in der Zukunft. Gehrys Design würde beweisen, dass Stadien nicht zwingend zu städtischer Ödnis führen müssten. Allein die Tatsache, dass Gehry daran interessiert sei, etwas für Brooklyn zu entwerfen, galt ihm als Zeichen dafür, dass der Stadtbezirk angekommen war und die fließenden Formen von Miss Brooklyn würden eine Art architektonischer Trophäe.
Nur an einem einzigen Punkt in seiner Besprechung begibt Ouroussoff sich wirklich nach Brooklyn hinein, mit dem Ansatz, das Atlantic-Yards-Vorhaben als etwas zu beschreiben, das bereits stattgefunden hat.
„Da sind jene - besonders die Anhänger der Urbanistin Jane Jacobs -, die die enorme Größe des Bauprojekts beklagen werden. Doch in Städten entsteht Schönheit durch eine Kombination unterschiedlicher Baugrößen; man könnte die kühn ausgreifenden Formen als Ausdruck des kulturellen Aufblühens Brooklyns betrachten.
Zudem hat sich Mr. Gehry sehr bemüht, seinen Entwurf mit der Umgebung verschmelzen zu lassen. So sind die größten der Türme entlang der Atlantic Avenue geplant, wo sie auf eine Mischung aus Shoppingmalls und Sozialwohnungen herabschauen. Entlang der Dean Street plant er niedrigere, gedrungene Gebäudeformen, die besser zu den Reihen aus Brownstones passen, welche sich Richtung Süden bis nach Park Slope ziehen.“
Ob diese Geste wirklich ausgereicht hätte, um Gehry mit den „Brownstones“ genannten Sandsteinwohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert „verschmelzen“ zu lassen, ist Ansichtssache. Doch Ouroussoffs Gesamtansatz macht deutlich, dass sein Fokus auf etwas gänzlich anderem liegt, als auf dem eigentlichen, real existierenden Brooklyn.
Für eine Kritikerin oder einen Kritiker Jacobsscher Prägung dagegen würde eine Besprechung genau dort beginnen: auf den real existierenden Bürgersteigen Brooklyns, exakt in der Dean Street.
Wo ist das Ballett? Man würde den Charakter des existierenden Viertels beobachten und Fragen von „Schandflecken“, Sicherheit, Diversität, Blockgröße und Alter der Gebäude erörtern - Fragen, die Jacobs in den 1960er Jahren ihrem eigenen Viertel und ganz New York City stellte.
Am geplanten Atlantic-Yards-Standort fanden um 2005 zwei unterschiedliche „Balletts“ statt. Das erste ereignete sich in der Nähe der verkehrsreichen Kreuzung Flatbush und Atlantic Avenue, gegenüber des zukünftigen Stadion-Standorts. Dort belegen zwei Shoppingcenter, die in den 1990er und frühen 2000er Jahre gebaut wurden, zwei Blocks an der Atlantic Avenue. Beide sind finanziell erfolgreich, aber architektonische Fehlschläge - schachtelförmig, wenig ansprechend, mit unangenehm heißen Gängen im Inneren und ohne zentrales Atrium. Und, noch wichtiger für einen Kritiker, der nach Jacobs vorgeht: Keins von beiden hat Läden, die die Center zur Straße hin öffnen. Die Fußgänger eilen vielmehr hastig an den langen, größtenteils glatten Wänden der beiden Shoppingcenter entlang, auf der Suche nach den Eingangstüren.
Jacobs beschrieb, was große Gebäude ohne Türen zur Straße hin mit Städten machen, so:
„Sie sortieren die Menschen automatisch auf Wege, die sich zu selten treffen, sodass gemischte Nutzungen, die geografisch nah beieinander stattfinden, im Ergebnis praktisch blockiert werden.“
Nachdem der Jacobssche Kritiker die Situation an den Avenues untersucht und einen Mangel an Diversität, Fußgängerdichte und Zugänglichkeit vorgefunden hat, würde sie oder er sich in die kleineren Straßen des Brooklyner Viertels Prospect Heights begeben.
Jacobs stellte die These auf, dass kleinere Blocks, wie sie hier vorherrschend sind, mehr unterschiedliche Routen durch einen bestimmten Stadtteil möglich machen, was wiederum mehr Diversität bei Geschäften und Nutzern mit sich bringt. Kleinere Blocks ergeben auch mehr Eckgebäude, welche wiederum attraktivere Ladenfassaden abgeben, und Geschäfte ziehen auch Kunden an, die nicht in unmittelbarer Nähe wohnen. Diese Vielfalt verhindert eine Erstarrung der Wohnumgebung.
Jacobs argumentierte, dass Straßen besser funktionieren, wenn sie nicht homogen wirken. Ohne Läden, Bepflanzung und Parks, die eine Route interessant machen…
„[…] sind diese Wege bedeutungslos, denn all ihre Szenen sind im Grunde dieselben“.
Das Bürgersteigballett ist ein Tanz der Diversität, und das traf auch auf den Tanz der Dean Street und der Pacific Street von Prospect Heights zu.
Prospect Heights wird von genau jener Art Straßen durchkreuzt, die Jacobs bevorzugt, mit Wohnhäusern jeweils in der Mitte der Blocks und geschäftlicher Nutzung an den Ecken sowie vielen Geschäften entlang der größeren Avenues. In den Querstraßen gibt es Künstlerateliers und Werkstätten; dort wurden die Reihenwohnhäuser schon vor langer Zeit durch Industriegebäude und Garagen ersetzt. Diese gemischten Nutzungen bringen auch dann Leben auf die Straßen, wenn die meisten Anwohner bei der Arbeit sind. Nach Einbruch der Dunkelheit wird die Sicherheit erhöht durch die erleuchteten Eingangshallen der renovierten alten Wohngebäude in den langen Blocks der Pacific und Dean Street und durch die Bewohner auf dem Weg dorthin sowie bis vor einiger Zeit durch die langen Öffnungszeiten von Freddy’s Bar, die seitdem umgezogen ist.
Die Jacobssche Kritikerin beziehungsweise der Kritiker würde feststellen, dass die Gebäude aus unterschiedlichen Zeiten stammen - von Wohnblocks aus dem 19. bis zu renovierten oder neugebauten Häusern aus dem späten 20. Jahrhundert. Insgesamt ergibt das die lebendigen Viertel, die Jacobs in ihrem Kapitel „Die Notwendigkeit alter Gebäude“, beschreibt.
Wo sind da nun die Schandflecken?
Auch Kritiker, die Frank Gehrys Starkonzept für Brooklyn wohlgesonnen waren, wiesen darauf hin, dass es für ein neues Viertel dieser Größenordnung eventuell besser sein könnte, von mehreren Architekten entworfen zu werden statt nur von einem einzigen.
Selbst wenn dann die gesamte Architektur auf einmal gebaut würde, könnte sie trotzdem verschiedene Handschriften tragen - eben wie in einer richtigen Stadt.
Der Architekturkritiker Paul Goldberger schrieb 2006 im Magazin The New Yorker:
„Jedoch ist Gehrys Design ein großer Teil des Problems. Er erzählte mir, er habe den Auftrag auch deshalb angenommen, weil er sich einer solchen urbanen Herausforderung bisher nie gestellt habe, aber seine Talente scheinen dafür kaum geeignet zu sein. Gehrys großer Erfolg sind seine architektonischen Juwelen, die vor dem Hintergrund der restlichen Stadt glänzen können. […]
In Brooklyn besteht die Aufgabe jedoch darin, eine kohärente Stadtlandschaft zu schaffen, die sich auf angenehme Weise mit ihrer Umgebung verbindet. Gehry versuchte das zu erreichen, indem er einige wenige sehr kunstvolle Türme mit eher unauffälligen umstellte. […]
Doch anstatt einen Effekt von Vorder- und Hintergrund zu erzeugen, sieht diese Nebeneinanderstellung von gewöhnlich und schick einfach nur so aus, als stünden dort ein paar zum vollen Preis gekaufte Gehrys neben welchen, die es billiger gab.“
Goldberger ist Gehry durchaus gewogen - wie den meisten Architekten, über die er schreibt. Sowohl er als auch Ouroussoff sahen das Atlantic-Yards-Bauprojekt primär als Gelegenheit für Gehry, seine Fähigkeiten nicht nur als Architekt, sondern auch als Stadtplaner zu präsentieren. Keiner der beiden Kritiker setzt den Akzent auf die Stadt, wie sie bereits existiert; beide ziehen es vor, bei dem bisher nur in der Vorstellung existierenden neuen Brooklyn zu verweilen.
Warum betrachten sie Brooklyn als „Hintergrund“? Was gibt es dort schon, das durch Gehry ersetzt wird? Wer hat entschieden, dass das „kulturelle Aufblühen“ des Stadtbezirks unbedingt architektonisch betont werden müsste? Diese Beispiele stadtplanerischer Kritiken, in denen die Autoren so vieles einfach weglassen, werfen ein Schlaglicht darauf, was ein kritischer Ansatz so alles bewirken kann.
Am 11. März 2010 wurde an der Ecke Atlantic und Flatbush Avenue der erste Spatenstich für ein Stadion getätigt. Aber nicht Gehrys Stadion. Nach Jahren voller Probleme und Enttäuschungen und einem langsamen Herunterfahren der städtebaulichen Ambitionen des Projekts war Stararchitekt Frank Gehry nicht mehr länger dabei. Die Stadtentwicklung, die Brooklyns Skyline erneuern sollte, begann stattdessen mit dem Bau der heute als Barclays Center bekannten Sport-Arena. Die restlichen Gebäude - Architekten unbekannt - werden vielleicht irgendwann in der Zukunft gebaut.
2014 wechselte das Projekt den Namen und heißte heute „Pacific Park“.
2018 waren erst vier der geplanten 15 Gebäudekomplexe eröffnet, der Eröffnungstermin für das gesamte Planungsareal wurde um zehn Jahre verschoben, von 2025 auf 2035.
Das Erbe der Bürgerkritikerin Jane Jacobs wurde deutlich, als Bürgerinnen und Bürger Brooklyns schriftlich protestierten, als sie forderten, beim Werden (oder Abreißen) ihrer Stadt ein Wörtchen mitzureden. Auch machten sie aufmerksam auf die kleinen Veränderungen, die schon im Gange waren, bevor die Stararchitekten anrückten und die ebenso bahnbrechend sein können, wie die große, wogende Intervention.
Aus dem Amerikanischen von Katrin Höller