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"Die Stabilität Chinas ist in unserem eigenen Interesse"

China strebt nur noch 7,5 Prozent Wachstum an. Wenn das Land destabilisiert wäre, dann würde das Deutschland unmittelbar in Mitleidenschaft ziehen, sagt der Politologe Eberhard Sandschneider. Die neue Führungsgeneration werde fortsetzen, was ihre Vorgänger angefangen haben: Politik, die primär auf Stabilität setzt.

Eberhard Sandschneider im Gespräch mit Dirk Müller | 05.03.2013
    Dirk Müller: Das ist noch keine Katastrophe aus unserer Sicht; aus der chinesischen Sicht ist es eine Art Katastrophe, denn die Wirtschaft bricht ein. Nur noch siebeneinhalb Prozent Wachstum strebt das Reich der Mitte an. Ob das ein gutes Zeichen ist, ein gutes Omen für die neue Führungsmannschaft in Peking? Der neue Mann an der Spitze, Xi Jinping, setzt bereits wuchtige Akzente, pünktlich zur Eröffnung des Nationalen Volkskongresses. Die Waffenschmieden werden befeuert, weiter Aufrüsten ist angesagt.
    Neue Milliarden also für die Rüstung. Der Volkskongress und die neue Führung – darüber sprechen wollen wir nun mit China-Kenner Professor Eberhard Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag nach Berlin!

    Eberhard Sandschneider: Schönen guten Tag.

    Müller: Herr Sandschneider, sind die neuen Jüngeren jung im Geiste?

    Sandschneider: Das ist im Augenblick noch schwer zu sagen. Natürlich sind sie jünger, sie sind anders ausgebildet, sie haben völlig andere Erfahrungen gemacht. Das ist eine Führungsgeneration, die in ihrem aktiven politischen Leben China im Steilflug erlebt hat und nicht mehr unbedingt schwerpunktmäßig die Katastrophe etwa der Kulturrevolution. Insofern muss man schon annehmen, dass sie etwas anders denken. Aber sie haben dieselben Probleme, die ihre Vorgänger auch zu bewältigen hatten, ebenfalls auf der Tagesordnung. Daran wird dieser Volkskongress nichts ändern. Von Umwelt über soziale Probleme über wirtschaftliche Probleme über Ressourcenprobleme, alles das bleibt auf der Tagesordnung und wird dazu führen, dass diese Führung fortsetzt, was ihre Vorgänger angefangen haben, nämlich eine Politik, die primär auf Stabilität setzt.

    Müller: Ist eine aggressivere Außenpolitik, eine aggressivere Militärpolitik die Möglichkeit, von diesem Problem abzulenken?

    Sandschneider: Nein, da geht es nicht um Ablenkung. Zunächst einmal: Das soll nicht beschwichtigend klingen, aber die Tatsache, dass ein Land wie China, das über dreieinhalb Jahrzehnte zweistellig wächst, irgendwann in die Situation kommt, diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auch in politischen Einfluss und letztendlich auch in militärische Macht zu übersetzen, ist so unüblich nicht. Das hat es in vielen anderen Fällen auch gegeben. Und China fängt natürlich an, sein Selbstbewusstsein auch zunächst einmal regional umzusetzen, und weiß, dafür braucht es auch entsprechende Streitkräfte. Man darf im Übrigen nicht vergessen: Die Volksbefreiungsarmee ist ein wichtiger innenpolitischer Faktor und man weiß auch aus unseren eigenen Ländern, dass Anforderungen an Politik für bestimmte Rüstungsmaßnahmen zu einem wichtigen innenpolitischen Thema werden können. Das ist auch in China so. Und neu ist diese Zahl von elf Prozent plus jetzt nicht. In den vergangenen Jahren hat es schon Zuwächse von 17 Prozent gegeben. China setzt seinen Weg an dieser Stelle fort und wird auch zu einem gewichtigen militärischen Faktor, ohne deswegen zwangsläufig aggressiv sein zu müssen.

    Müller: Sind die wirtschaftspolitischen Argumente, die China zu bieten hat – wir denken ja alle auch an die Eurokrise und die chinesische Rolle, die Rolle Pekings -, nicht stark genug, gerade auf dem anderen Segment zu sparen und anders einzuteilen und zu verteilen?

    Sandschneider: Na ja, das ist etwas, was uns ein bisschen schwer fällt zu lernen. Ein kommunistisches System – und das ist China nach wie vor – ist mittlerweile hochgradig wichtig zur Rettung einer westlichen Währung oder zur Stützung einer westlichen Währung. Das gilt sowohl für den Euro als auch für den US-Dollar. Auch an der Stelle werden wir uns an veränderte machtpolitische Gegebenheiten gewöhnen müssen. Das ist aus unserer Sicht vielleicht bedauerlicherweise so, aber das ist ein Faktum in der Weltpolitik, mit dem man umgehen muss. Das setzt allerdings auch voraus, dass China selbst in der Lage ist, seine wirtschaftliche und finanzpolitische Stabilität zu erhalten. Da gibt es Fragezeichen und Vorsicht ist angesagt.

    Müller: Sie sagen "Fragezeichen". Wir haben das in den Nachrichten gemeldet, in den Tageszeitungen heute Morgen war das auch zu lesen. Wir reden von siebeneinhalb Prozent Wirtschaftswachstum prognostiziert, so soll das auch weitergehen. Für uns unvorstellbar gute Zahlen, in China ein bisschen Grund zu Pessimismus. Warum?

    Sandschneider: Wenn Sie es etwas spöttisch ausdrücken wollen: In China bricht eine innenpolitische Krise dann aus, wenn sich die Wachstumszahlen der Sechs-Prozent-Grenze nähern, aber von oben. Wir wären schon mehr als glücklich, wenn sie sich von unten dieser Zahl nähern würden. Aber wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen einer entwickelten Volkswirtschaft, wie wir sie im Westen haben, und einem Land, das in weiten Teilen immer noch tatsächlich den Charakter eines Entwicklungslandes trägt. Dort ist der Nachholbedarf größer, dort lassen sich andere Wachstumszahlen erzielen. Die werden in China vermutlich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch abflachen, so wie sie bei uns abgeflacht sind. Solche Wachstumszahlen hatte Deutschland etwa in den 50er-Jahren, als Wiederaufbau angesagt war. Heute sieht die Welt völlig anders aus. Das wird auch an China nicht völlig vorbeigehen.

    Müller: Herr Sandschneider, hätten die Chinesen in China ein Problem mit Stuttgart 21 und dem Berliner Flughafen?

    Sandschneider: Das ist die Frage nach der Leistungsfähigkeit eines autokratischen Systems. Vermutlich nicht. In China werden solche Großprojekte politisch verordnet, dann funktionieren sie. Aber sie schaffen eine gewaltige Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Zahl der jährlichen Fälle von sozialen Unruhen steigt. Vieles davon hat mit Umsiedlungsmaßnahmen zu tun, Enteignungsmaßnahmen im Zuge von solchen Großprojekten. In der Sache wären die Chinesen vermutlich in der Lage, das sehr viel schneller durchzuziehen. Ob das nachhaltiger ist, ob das besser funktioniert auf Dauer, ist eine offene Frage. Da stoßen dann die Leistungsfähigkeit von Demokratie und Autokratie direkt aneinander.

    Müller: Reden wir über diese Gruppierungen, die den Preis bezahlen müssen, wie Sie es gerade auch formuliert haben, Eberhard Sandschneider. Gibt es Gruppierungen, die klar inzwischen identifizierbar sind, die in der Lage sind, auch durch die Neuen Medien systematisch Widerstand oder Opposition zu leisten?

    Sandschneider: Das ist schwer vorauszusagen in einem Land, wo die öffentliche Berichterstattung noch ausgesprochen zurückhaltend ist. Aber ich nenne Ihnen eine Gruppierung, stellvertretend für vermutlich viele. Das sind junge Akademiker, die nach ihrem Studium darauf warten, dass sie jetzt in die Situation versetzt werden, entsprechend zu verdienen, aber hoch prekäre Arbeitsverhältnisse vorfinden, die nicht dem entsprechen, was sie sich letztendlich vorgestellt haben, als sie ihr Studium begonnen haben. All diese Leute sind frustriert, all diese Leute verfügen aber über Internetzugang, über Facebook, zum Teil über Twitter, und bilden ein jederzeit aktivierbares Unruhepotenzial, das schwer einzuschätzen ist. Wir werden uns auch in China mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie gefährlich es ist, wenn kleinste und kleine Ereignisse plötzlich riesige Wirkungen haben, wie wir es beispielsweise in Nordafrika gesehen haben.

    Müller: Finden diese Akademiker, von denen Sie gerade gesprochen haben, möglicherweise Anschluss in der Partei, Ansprechpartner in der Partei?

    Sandschneider: Niemand muss der chinesischen kommunistischen Partei und ihrer Führung erklären, dass das ein Problempotenzial darstellt. Das weiß man, darum kümmert man sich. Aber einfache Lösungen zu finden, ist leichter gesagt als getan. Die chinesische kommunistische Partei weiß, dass sie sich – beispielsweise das Stichwort Korruption – um solche Probleme kümmern muss. Aber wehe, sie macht einen Fehler in der Behandlung solcher Probleme. Und dafür, dass ein solcher Fehler nicht passiert, dafür gibt es keine Garantie.

    Müller: Über den Wachstumsboom China reden wir permanent, auch über den Wachstumsboom Indien reden wir permanent. Wenn wir beide miteinander auf eine Stufe stellen jetzt in diesem Aspekt, habe ich Sie eben richtig verstanden, dass wir uns ein bisschen zurücklehnen können und einfach abwarten müssen, bis die inneren Probleme tatsächlich die dortige Führung einholen?

    Sandschneider: Ja und nein. Einerseits bin ich fest davon überzeugt, dass in China bei all seinen beeindruckenden Erfolgen, aber auch bei seinen beeindruckenden Problemen die Bäume nicht in den Himmel wachsen werden. Jede Form der Angst davor, dass der Westen weggespült wird von solchen Mächten, war in der Vergangenheit immer falsch und wird vermutlich auch in der Zukunft falsch sein. Aber man muss hinzufügen: Die Stabilität Chinas ist in unserem eigenen Interesse. Es gibt in Deutschland Zehntausende von Arbeitsplätzen nur deshalb, weil Unternehmen in China und auf dem chinesischen Markt erfolgreich sind. China destabilisiert zu sehen in der jetzigen Situation der Weltwirtschaft, würde uns unmittelbar und direkt in Mitleidenschaft ziehen.

    Müller: Machen wir es vielleicht an einem anderen Beispiel noch einmal klar. Wie stark ist die Diktatur zu spüren in China? Kann die Führung in Peking die Luft in Peking ignorieren?

    Sandschneider: Nein, natürlich nicht. Und ich glaube, die ersten Debatten im Umfeld des Nationalen Volkskongresses, der ja in Zeiten massiver Luftverschmutzung gerade in Peking zusammentritt, machen schon deutlich: Die chinesische Führung hat verstanden, dass Umweltpolitik auf Dauer nichts ist, was sie negieren kann. Sie hat zum Teil im Zeitraffer wirtschaftliche Entwicklungen auf Kosten der Umwelt gemacht. Wir haben das in Europa zum Teil auch getan, aber zeitlich deutlich entspannter. Und jetzt weiß die Führung, wenn sie offiziell von Krebsdörfern spricht – das war ein Begriff, der in der Berichterstattung über China immer mal aufgetaucht ist; jetzt nimmt die Regierung diesen Begriff auf -, Krebsdörfer heißt, dort sterben Menschen, weil nebenan Chemiefabriken ungereinigte Abwässer einleiten und die Menschen buchstäblich nicht mehr leben können, dann hat diese Regierung ein Problem, um das sie sich kümmern muss. Und noch einmal: Ich glaube, niemand muss der chinesischen Regierung sagen, dort habt ihr ein Problem. Wie die Lösung aussehen kann, bei gleichzeitigem Drängen auf Wirtschaftswachstum, das ist eine spannende Frage, an der sich auch die Qualität dieser neuen Führung wird messen lassen müssen.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Eberhard Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören nach Berlin.

    Sandschneider: Bitte sehr.


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