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Die Stadt planen (2/4)
"Nebeneinander von neuer Wohnungsnot und Abrissprogrammen"

Der Stuttgarter Wohnsoziologe Tilman Harlander, geboren 1946, beschäftigt sich seit Langem mit der Wohnungsbaupolitik in Deutschland. Angesichts der Gefahr, dass durch sozialräumliche Polarisierung und Segregation die Stadtgesellschaft auseinanderdriftet, plädiert er für die Erhaltung einer ausgewogenen sozialen Mischung in der Stadt.

Der Wohnsoziologe Tilman Harlander im Gespräch mit Jochen Rack |
    Prof. Dr. Tilman Harlander, Universität Stuttgart
    Prof. Dr. Tilman Harlander, Universität Stuttgart (privat)
    Jochen Rack: Herr Harlander, Sie haben sich als Professor für Wohn- und Architektursoziologie an der Universität Stuttgart bis zum Jahr 2011 mit Problemen der Wohnungspolitik und der Frage nach der richtigen sozialen Mischung in der Stadt auseinandergesetzt. Worauf führen Sie denn dieses neu erwachte Interesse an der Frage "Wie wollen wir wohnen?" zurück?
    Tilman Harlander: Das ist natürlich ein ganzes Bündel von Faktoren. Das eine ist schlicht ein quantitatives Problem: Noch bis in die 90er-, ja, bis in die Nullerjahre hinein hat man gedacht, die klassische Wohnungsfrage habe sich erledigt, es sei ein gewisser Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf den Wohnungsmärkten erreicht, und die Konsequenz war dann, dass sich der Bund aus der Wohnungsbauförderung zurückzog, 2006 hat er diese Aufgabe ganz allein den Ländern überlassen, und der klassische soziale Wohnungsbau, der war längst auf ein Minimum reduziert und konzentrierte sich nur noch auf wirklich randständige und unterprivilegierte Gruppen. Und dann änderte sich die Situation spätestens seit den Nullerjahren auf, ja inzwischen kann man sagen, dramatische Art und Weise. Wir können da mindestens vier Faktoren unterscheiden: Das eine ist die Renaissance der Städte und des Stadtwohnens, die neue Attraktivität der Städte als Wohnstandort, vor allem für die sogenannte Creative Class, die kreative Klasse, aber beileibe nicht nur für die, auch für die ganzen sogenannten Bildungswanderer, ja selbst junge Familien, aber auch alte Menschen schätzen die Städte mit ihrer besseren Erreichbarkeit von Infrastruktur und Dienstleistungen, auch Vergnügungsstätten, Bildungseinrichtungen immer mehr.
    D andere ist: Der Nachfragedruck hat sich ungeahnt erhöht, gerade in Deutschland mit seinen scheinbar unterbewerteten Immobilienbeständen durch die Nachfrage internationaler Immobilieninvestoren, und - das kam dann auch noch hinzu - durch den Nachfragedruck von Kapital und Steuerflüchtlingen aus den südeuropäischen Ländern. Dann eben in jüngster Zeit noch zwei ganz entscheidende Punkte, die alle Statistiken über den Haufen geworfen haben und uns völlig überrollt haben: Das war einerseits die Zuwanderung, vor allem auch aus den osteuropäischen Staaten im Zuge der EU-Osterweiterung, und dann waren es natürlich, zweitens - das hat noch mal eins draufgesetzt -, der Zuzug der Flüchtlinge. Also all dies hat den Nachfragedruck in den Städten ungeahnt erhöht.
    "Schwund von belegungs- und mietpreisgebundenen Wohnungen"
    Rack: Ich fasse mal zusammen: Wohnraum ist knapp geworden in Deutschland, vor allem in den großen Städten. Wir müssen vielleicht noch auch über die ländlichen Regionen reden, wo es etwas anders aussieht, aber da Ihr Thema ja die soziale Mischung in der Stadt ist, oder eins Ihrer großen Themen - kann man denn aus dieser Diagnose, die Sie jetzt beschrieben haben, auch folgern, dass die soziale Polarisierung in der Stadt zunehmen wird oder kann man sagen, sie hat schon zugenommen durch diese Prozesse der Verknappung von Wohnraum und des Anstiegs der Preise?
    Harlander: Ja, die hat natürlich schon zugenommen, aber da müssen wir einen weiteren Faktor jetzt mitbenennen: Das ist der enorme Schwund an bezahlbaren Wohnraum. Der hat jetzt mit spezifisch deutschen Bedingungen auch zu tun, die sich zum Teil von denen in unseren Nachbarländern Österreich oder Schweiz unterscheiden. In Deutschland haben wir einen als gravierend anzusehenden Schwund von belegungs- und mietpreisgebundenen Wohnungen. Um da nur eine Zahl mal zu nennen: Noch Ende der 80er-Jahre hatten wir noch etwa vier Millionen mietpreis- und belegungsgebundene Wohnungen, heute sind es noch etwa 1,3 Millionen. Wir rechnen also pro Jahr mit einer Abnahme von etwa 100.000 mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen, und hinzukamen in den ganzen letzten zehn, fünfzehn Jahren vielleicht gerade mal 10.000 dieser geförderten Sozialwohnungen.
    Rack: Und wenn ich das richtig sehe, diese geförderten Sozialwohnungen, die befanden sich ja auch immer im Inneren der Städte, nicht nur an den Randlagen, weil die Wohnungsbaupolitik, wenn ich das richtig sehe, ja versucht hat, die soziale Mischung in der Stadt auch aufrecht zu erhalten, nicht nur Wohnen für Reiche im Zentrum etwa zu ermöglichen.
    Harlander: Ja, das ist heute natürlich vor allem ein Ziel, aber natürlich sind über einen langen Zeitraum hinweg in den 60er- und 70er-Jahren, vor allem also zu den Hochzeiten der Förderung von sozialem Wohnraum, da sind die Großwohnsiedlungen entstanden, mit zum Großteil dann fast durchgängig sozialen Mietwohnungen, die damals zwar noch für sogenannte - so fasste es das erste und das zweite Wohnungsbaugesetz - breite Schichten der Bevölkerung konzipiert waren, aber dann im Zuge der weiteren Entwicklung doch immer mehr zu einseitig belegten Strukturen sich entwickelten, und, wie das der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft Ende der 90er-Jahre dann nannte, zu sogenannten überforderten Nachbarschaften. Überfordert hieß dann, dass in diesen Quartieren einseitige Entwicklungen eingesetzt haben, eine Spirale nach unten, indem die vermögenderen Schichten auszogen, Infrastrukturmängel kumulierten, schlechte Anbindungen an die Innenstädte vorhanden waren und so weiter.
    "In den 1970ern entsteht Entmischung des sozialen Wohnungsbaus"
    Rack: Also Sie sagen, auch zu Zeiten des sozialen Wohnungsbaus war es schon so, dass eigentlich soziale Segregation entstanden ist, auch durch diesen sozialen Wohnungsbau, weil er eben eigene Quartiere oder, man könnte vielleicht auch sagen, Gettos geschaffen hat.
    Harlander: Nicht von vornherein. Es ist eines der Kennzeichen des Wiederaufbaus und der 1950er- und 1960er-Jahre, dass das Erfolgsmodell sozialer Wohnungsbau, der ja in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war, enorm viel für die Integration der Nachkriegsgesellschaft geleistet hat. Insgesamt, um da eine weitere Zahl zu nennen, wurden von etwa 24 Millionen Wohnungen zwischen 1950 und 2000 etwa neun Millionen Sozialwohnungen gebaut, und die standen zunächst eben für breite Schichten der Bevölkerung offen, und das führte bis in die 1970er-Jahre hinein - so können wir über den Daumen sagen - bis in die 1970er-Jahre hinein zu einer relativ guten Durchmischung. Erst dann vollzog sich sukzessive eine immer einseitigere Belegung der Sozialwohnungsbaubestände, weil die, die dann am sozialen Aufstieg teilhatten und zu Besserverdienern wurden, die zogen dann im Zuge der suburbanen Stadtflucht in die Bungalow- und Eigenheimsiedlungen an den Stadträndern aus, und so entmischten sich in einem allmählichen Prozess diese Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus.
    Rack: Wo gehen denn jetzt Leute heute hin, die eigentlich die Berechtigung oder die Notwendigkeit hätten, eine Sozialwohnung zu beziehen, solche aber nicht zur Verfügung stehen? Müssen die dann noch weiter raus, also noch jenseits der Sozialwohnungsviertel, die existieren oder wohin gehen die, oder können sie sich die Stadt eigentlich gar nicht mehr leisten?
    Harlander: Das sind zwei verschiedene Prozesse, da müssen wir jetzt noch einen zweiten Prozess mit reinnehmen, den der Gentrifizierung. Das ist ein soziologischer Fachbegriff, er meint einfach die Verdrängung einkommensschwächerer Schichten durch Besserverdienende im Zug eines Prozesses der allmählichen Aufwertung von Quartieren, die zuvor der Wohnungsversorgung einkommensschwächerer Schichten zur Verfügung standen. Diese beiden Prozesse, die Entmischung klassischer Sozialbausiedlungen, aber auch die Gentrifizierung klassischer Innenstadt-Randgebiete und zentraler Wohngebiete in der Stadt, die beide führen in der Tat zu einer Verdrängung einkommensschwächerer Schichten.
    Da muss man aber sofort hinzusagen, dies gilt eigentlich vor allem und in erster Linie für die Wachstumsregionen und für die Wachstumspole. Wir haben also ein Nebeneinander von Wachstumspolen mit einer enormen Dynamik auf den Miet- und Kaufpreismärkten und damit auch einen hohen Verdrängungsdruck, sodass sich also die viel zitierten Feuerwehrleute, Krankenschwestern und einfachen Angestellten und Bediensteten diese Städte wie München - und Stuttgart gehört auch dazu, Frankfurt, Düsseldorf, Köln, Hamburg - eben kaum mehr leisten können, und auf der anderen Seite haben wir die strukturschwachen Regionen, und da finanzieren wir bis heute auch, und fördern das über staatliche Programme, den euphemistisch sogenannten Rückbau von Wohnungen, also den Abriss von Wohnungen. Das ist historisch ein neues Phänomen in einem fortgeschrittenen Industrieland, ein Nebeneinander von neuer Wohnungsnot und gleichzeitig Abrissprogrammen.
    Slums und Gated Communities
    Rack: Jetzt stellt man sich ja die Frage, wenn man diese Prozesse betrachtet - das sind ja, wenn man so will, auch makroökonomische Prozesse, Sie haben vom Einfluss des Finanzkapitals auf die Wohnungsmärkte gesprochen -, welche Möglichkeiten hat denn eigentlich eine Kommune, oder welche Möglichkeiten hat die Politik, sei es auch von Bundesseite, gegen solche Prozesse anzusteuern, denn soweit ich die Situation richtig verstehe, ist es ja doch so, dass man gerne diese soziale Mischung, wo also arm und reich nicht komplett in verschiedenen Vierteln wohnen, dass man diese gerne als Teil des Erfolgsmodells europäischer Stadt eigentlich festhalten will?
    Harlander: Zunächst muss man noch mal unterstreichen, wie wichtig dieses Ziel des Erhalts einer sozialen Durchmischung und des Erhalts sozialer Vielfalt in den Städten überhaupt ist, da lohnt sich schon der Blick auch noch mal über die Grenzen: Die United Nations haben etwa in ihrem Bericht über den Zustand der Städte von 2010/11, nannten sie als eine der wichtigsten und größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, bridging the urban divide, die städtische Spaltung zu überwinden.
    Wir wissen alle, worin sich die im Weltmaßstab manifestiert: Das ist auf der einen Seite in einem gravierenden Slumwachstum - wir können davon ausgehen, dass weltweit etwa eine Milliarde Menschen in Slums wohnen auf der einen Seite - und auf der anderen Seite in einer enorm raschen Expansion von Enklaven des Reichtums, mehr oder weniger abgeschlossen, Gated Communities. Das ist eine Entwicklung, die uns längst auch in Europa erreicht hat und auch in Deutschland Sorgen macht, das Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften. Im Hintergrund steht natürlich eine Auseinanderentwicklung von arm und reich, die OECD beobachtet das für Europa und auch für Deutschland, und die unterstreicht regelmäßig, dass es in Deutschland in dieser Hinsicht keinen Anlass gibt für Selbstzufriedenheit.
    Wenn vor 30 Jahren das oberste Zehntel noch etwa das Siebenfache verdiente vom untersten Zehntel, dann ist es mittlerweile das Zehnfache, was verdient wird, und, was manchmal auch manche Fachkollegen kaum glauben wollen, aber die OECD hat es in mehreren Untersuchungen unterstrichen: Neben Österreich gehört Deutschland zu den Ländern in der Eurozone, in denen die Vermögen am ungleichsten verteilt sind. Gut, und jetzt ist es natürlich kein Wunder, dass sich diese wachsende Spaltung von Arm und Reich, die ja auch abgebildet wird in den Armuts- und Reichtumsberichten, die die Bundesregierung regelmäßig vorlegt, dass sich die auch niederschlägt in einer sozialräumlichen Entwicklung, im sozialräumlichen Auseinanderdriften in den Städten. Wir Soziologen nennen das Segregation in verschiedenen Quartieren, und damit sind wir bei den Instrumenten, die die Städte haben.
    Ich nenne vielleicht gleich das wichtigste Instrument jetzt im Neubau - wir müssen getrennt betrachten den Neubau und den Bestand - im Neubau hat sich vielleicht zum wichtigsten Instrument entwickelt - da war München ein Schrittmacher -, die sogenannte Förderquote. Das meint, immer dann, wenn die Stadt neues Baurecht vergibt und ermöglicht, muss sich der Investor verpflichten, in einem gewissen Prozentsatz auch geförderten Wohnraum für einkommensschwächere Gruppen zu errichten, und das ist in München eine 30-Prozent-Quote, auf städtischen Grundstücken sogar 50 Prozent.
    Das haben inzwischen zahlreiche Städte nachgeahmt: Stuttgart hat eine 20‑Prozent‑Quote, aber das gibt es in Köln, in Freiburg, in Hamburg, in Regensburg, also viele weitere Städte haben es eingeführt, weil es der simplen Logik folgt, man sagt, es kann nicht angehen, dass von der neuen Nachfrage nach urbanem Wohnraum allein Besserverdienende profitieren, sondern im Sinne des Erhalts gemischter urbaner Stadtquartiere müssen eben auch im Neubau - das heißt, auf Konversionsflächen, in Baulücken, auf Brachflächen - gemischte Quartiere entstehen.
    Rack: Aber wie sieht es denn aus, wenn wir auf den bestehenden Wohnraum, auf die bestehenden Strukturen blicken - haben da die Städte auch diese Macht, die Sie jetzt beschreiben, wenn es darum geht, eben neuen Wohnraum zu schaffen, wo sie Vorschriften erlassen können offenbar, oder wo sie zum Teil ja auch die Grundstücke dann günstiger etwa an Baugenossenschaften vergeben, die solche Modelle verfolgen, aber wenn wir die gewachsenen Städte anschauen, gibt es da eine Gegenmacht gegen das Kapitalgesetz, die diese Entmischung aufhalten kann?
    "Mit Städtebaurecht gegensozialpolitisch unerwünschte Prozesse wirken"
    Harlander: Im Bestand ist es enorm schwierig, das muss man sich eingestehen. Im Grunde hat die Entwicklung ja schon in den 1980er-Jahren eingesetzt, der Aufwertung von Beständen und damit auch der Gentrifizierung und Vertreibung einkommensschwächerer Gruppen. Ich kann mich als Münchener gut erinnern, wie schon in den 1980er-Jahren in dem Stadtteil Schwabing Investoren von Haus zu Haus gegangen sind und versucht haben, so viel Altbauten wie möglich aufzukaufen, um die dann luxuszumodernisieren und umzuwandeln von Miet- in Eigentumswohnungen.
    Um solche städtebaulich und sozialpolitisch unerwünschte Prozesse zu bremsen, gibt es eigentlich nur einige wenige Instrumente. Das wichtigste ist die Erhaltungssatzung nach dem Städtebaurecht: Es gibt da einen Paragrafen im Baugesetzbuch, den Paragraf 172, das ist die sogenannte Erhaltungssatzung, da ist es den Städten möglich, wenn sie aus städtebaulichen Gründen begründen kann, warum bestimmte Gebiete mit dieser Satzung zu belegen sind, dann kann sie dort jeden Eingriff genehmigungspflichtig machen. Das heißt, man kann dann bei jeder Modernisierung überlegen, ob das schon eine Luxusmodernisierung ist, die möglicherweise zu einem unerwünschten Bevölkerungsaustausch führt oder, ob es eben nur die ja durchaus erwünschte Anpassung des Wohnungsbestandes an verbesserte Wohnstandards ist.
    Rack: Herr Harlander, wir müssen über ein Thema noch intensiver sprechen, das Thema der Migration, was in Deutschland jetzt vor allem im Jahr 2015 akut geworden ist: Die Wohnungsfrage verbindet sich jetzt auch mit der Frage, wie können wir diese Flüchtlinge - eine Million im Jahr 2015 allein, vielleicht mehr -, wie können wir diese Flüchtlinge human unterbringen. Im Jahr 2016 steht die Architekturbiennale Venedig unter dem Titel, oder der deutsche Beitrag steht unter dem Titel "Making Heimat - Germany, Arrival Country". Was würden Sie denn mit diesem Begriff verbinden? Wie kann man Heimat herstellen für Menschen, die aus einem ganz anderen Kulturkreis hierher kommen, wie können wir lebenswerte Städte für diese Menschen schaffen, wo wir eben Segregation, von der wir vorher gesprochen haben, vermeiden?
    Harlander: Das ist natürlich eine gewaltige Herausforderung, die sich auch in entscheidenden Punkten von der Integrationsaufgabe der Flüchtlinge in der Nachkriegszeit unterscheidet. Sie ist ja gleichzeitig leichter und schwerer als diese Integration der Flüchtlinge in den 1950er-Jahren. Leichter vielleicht deshalb, weil wir natürlich jetzt eine der reichsten Nationen dieser Welt sind und über gewaltige Ressourcen verfügen und nicht selbst, wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, unter extremen Einschränkungen leiden müssen, aber sie ist auch schwerer, weil hier jetzt Zuwanderer und Flüchtlinge zu uns kommen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, andere Religionen haben, und vor allem auch, was die Integration massiv erschwert, in aller Regel nicht über die nötigen Sprachkenntnisse verfügen, die wir ihnen erst in einem mühsamen Prozess vermitteln müssen. Ich habe da selbst nur die Zahl gelesen: Im Grunde müssen wir mindestens 20.000 Lehrer jetzt innerhalb kürzester Zeit zusätzlich einsetzen, um die entsprechenden Sprachvermittlungsaufgaben zu leisten, und die sind natürlich nicht da.
    "Für Integration reicht nicht Schaffung zusätzlichen Wohnraums"
    Rack: Ich will noch mal auf den Begriff Arrival Country zurückkommen, der ja anspielt auf den Titel eines Buches von Doug Saunders, Arrival City heißt dieses Buch. In diesem Buch schildert dieser kanadische Journalist eigentlich Städte weltweit, wo Migranten ankommen und sich einrichten, und er sagt, die Gefahr besteht, dass, wenn da Fehler gemacht werden in der Stadtplanung, diese Orte der Ankunft auch zu Orten der Gewalt werden könnten. Wir sind ja jetzt alle mit der Frage konfrontiert, Gewalt in Banlieues, möglicherweise auch der soziale Untergrund, wo dann Terrorismus entstehen kann, das heißt also, die Frage ist, wenn man sich diese Arrival Cities anschaut - was kann man denn lernen, wenn man diesen Blick auf andere Arrival Cities richtet, um zu sehen, wie müssen wir diese Ankunftskultur in den Städten denn am besten gestalten?
    Harlander: Es ist ein wunderbares Buch, ich würde es am liebsten allen Politikern, all denen, die in irgendeiner Weise mit der Integrationsaufgabe von Ankommenden und Migranten und Flüchtlingen befasst sind, zur Pflichtlektüre machen, weil es so schön zeigt, dass die Frage der Integration nicht verkürzt werden darf auf ein quantitatives oder technisches Problem, auch nicht bloß auf das Problem der Schaffung zusätzlichen Wohnraums, sondern es ist eine viel weitergreifende, auch kulturelle und soziale Aufgabe, und da lohnt es sich, sich mit den Motiven der Ankommenden viel intensiver zu beschäftigen. Das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch von Doug Saunders, dass er einen Perspektivwechsel ermöglicht, also den Perspektivwechsel auf die Slums und Ankunftsquartiere von Migranten, nicht nur als Orte des Elends, der schlechten Gesundheitsversorgung, der fehlenden Bildungschancen, der fehlenden Arbeitschancen, der geringen Wohnfläche, der schlechten Sanitärausstattung, sondern umgekehrt, es sind Orte - und das ist das eigentliche Anliegen seines Buches -, in denen die Ankömmlinge versuchen, auf intelligente Weise ihren sozialen Aufstieg und ihr Überleben zu organisieren, und das in doppelter Weise, indem sie einerseits Rücküberweisungen tätigen zu ihren Herkunftsorten auf dem Land und dann auf gezielte Weise nach und nach Verwandte, Freunde auch nachziehen, und auf der anderen Seite in den neuen Ankunftsquartieren Strukturen auch schaffen, die ihnen wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichen. Das muss man ihnen auch ermöglichen.
    Das Interessante an dem Buch ist auch, dass Doug Saunders zeigt, wie in verschiedenen Quartieren in dieser Welt eben dieser Kampf der Ankömmlinge - es ist ein Kampf, ein struggle um Überleben -, wie der entweder behindert werden kann oder unterstützt werden kann. Eigentlich deprimierend ist, dass er zeigt, dass gerade in unseren wirtschaftlich starken Ländern wie Frankreich, in den Banlieues, da beschreibt er eine Banlieue, natürlich in der Nähe von Paris, Le Pyramide, oder auch Berlin-Kreuzberg, beschreibt er gerade nicht als besonders interessante und nachahmenswerte Beispiele, sondern er schildert sie als Beispiele, in denen dieser Überlebenswille der Ankömmlinge eher behindert wurde als unterstützt wurde.
    Rack: Muss man den Migranten vielleicht auch mehr Freiheit gewähren, sich diese Orte selber zu gestalten? Es wird ja vielfach auch geklagt, dass eben die deutschen Bauvorschriften etwa viel zu stark ausgeprägt sind, dass die Menschen zu wenig Möglichkeit haben, ihre Infrastruktur da zu entwickeln. Diese Infrastrukturen, die sind ja oft bei Migranten ganz andere als wir die kennen, die bestehen aus kleinen Geschäften, aus Straßenläden, aus solchen kleinen Ökonomien - ist dafür eigentlich das deutsche Baurecht geeignet? Was muss da geschehen, damit wir diese Integration im Sinne der sozialen Mischung besser hinkriegen?
    Harlander: Ein klassischer Punkt bei derartigen Integrationsaufgaben ist immer Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen. Wir vergessen allzu leicht, dass das auch bei uns selbst in schweren Krisenzeiten im 20. Jahrhundert ein ganz wichtiger Weg war, etwa in der Weltwirtschaftskrise, als es an Wohnraum fehlte und Millionen arbeitslos waren, da hat man in all der Not immerhin ein relativ erfolgreiches Stadtrandsiedlungsprogramm für Erwerbslose aufgelegt, in der zu allerbilligsten Preisen Kleinsiedlerhäuschen für Erwerbslose in Gruppenselbsthilfe errichtet wurden und dann mit einer kleinen Landzulage sogar noch im Nebenerwerb eine füllbare Ergänzung des Lebensunterhalts ermöglicht wurde. Das war, noch mal, nach dem Zweiten Weltkrieg, unterstützte ähnliche Prozesse die Kirche, die Kirchenland zur Verfügung stellte und wieder Leuten, die in Not waren, eben Wohnungsversorgung und Nebenerwerb ermöglichte. Das heißt, ich glaube schon, dass wir in Deutschland auch uns über Nachkriegsjahrzehnte hinweg an Wohnungsversorgung, sozialstaatliche und bürokratisierte Wohnungsversorgungsmechanismen gewöhnt haben, und solche Gedanken wie den der Selbsthilfe allzu wenig in derartige Konzepte integrieren.
    An Kopenhagen und Zürich orientieren
    Rack: Ich will Sie jetzt am Abschluss unseres Gesprächs noch fragen, wenn wir alles dies resümieren und zurückblicken auf unsere Diskussion: Wenn Sie sich eine Stadt vor Augen führen sollten, in der diese Probleme, von denen wir jetzt gesprochen haben, einigermaßen bewältigt sind, in denen es eine soziale Mischung gibt, in der Segregation verhindert wird, haben Sie da so was wie eine utopische Stadt im Kopf?
    Harlander: Ich finde im Augenblick, man kann sich vielleicht an zwei Städten ganz gut orientieren: In der Stadtplanung ist für mich vieles vorbildhaft, was Kopenhagen macht. Kopenhagen hat dezidiert eine Stadtvision formuliert, die nicht mehr von den Gebäuden oder von Signature Architecture ausgeht oder derartigen Dingen, sondern in Kopenhagen hat man versucht, die Dinge scheinbar auf den Kopf zu stellen, aber es ist eigentlich die richtige Reihenfolge - man sagt in Kopenhagen, und da war ein Stadtsoziologe und Planer wichtig, Jan Gehl, man sagt, man geht zunächst mal davon aus, welches Stadtleben wollen wir, und dann definiert man, nachdem man dieses soziale Ziel definiert hat, welche Stadträume brauchen wir, und erst als drittes kommt man zu den Gebäuden.
    Das ist eigentlich umgekehrt wie bei uns, da geht man von den Gebäuden aus und den Investoren, und dann versucht, die Stadtplanung noch in ihrer Wohnumfeldplanung zu retten, was zu retten ist, und was sich an sozialem Leben entwickelt, das ist eine Residualgröße, die kaum Aufmerksamkeit findet. In der konkreten Ausgestaltung würde ich Zürich nennen: Zürich hat sich mit seinen genossenschaftlichen Traditionen wohnkulturelle Leistungen erhalten, die ich vorbildhaft finde.
    In Zürich sind also 25 Prozent des Wohnungsbestandes dauerhaft sozialgebundener Wohnmietraum, und aktuelle genossenschaftliche Projekte in Zürich, wie etwa "Mehr als Wohnen" oder die "Kalkbreite", die sind auch wohnkulturell führend - die realisieren sozial- und nutzungsgemischte Projekte, die auch ökologisch vorbilderhaft sind, aber in denen man dann auch neue Wohnformen und mit neuen Grundrisstypen experimentiert, die auf grundsätzliche Veränderungen unserer Gesellschaften reagieren, wie die Pluralisierung der Werthaltungen und die zunehmende Individualisierung etwa, mit dem Konzept von Clusterwohnungen und Satellitenwohnungen.
    Das sind einfach kleine Mikrowohnungen, die in solchen Wohnprojekten ermöglicht werden, in denen man zurückgezogen mit einer kleinen Küche und Badeinheit auch als Ein‑Personen‑Haushalt in seinem privaten Raum wohnen kann, aber gleichzeitig in einem Wohnzusammenhang wohnt, der auf großzügige Weise ergänzt ist durch Gemeinschaftseinrichtungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.