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Die Steinaxt als Werkzeug

Mit der Steinaxt und dem Steinbeil hat der Mensch der Vorzeit nicht nur eines der wichtigsten Geräte erfunden - er hat auch einen großen Zivilisationsschritt getan. Nun konnte er Bäume fällen, Häuser bauen, Tiere jagen und häuten. Noch heute lassen sich Zeugnisse der damaligen Lebens- und Arbeitsweise entdecken - beispielsweise auf der Insel Orkney.

Mit Reportagen von Martin Alioth, Moderation: Thilo Kößler |
    Ein Steinbaumeister auf der Insel Orkney über einen Werkstoff, der einer Menschheitsepoche seinen Namen gab:

    "In manchen Gegenden Orkneys kann man in Steinen wie in einem Buch lesen."

    Und ein Archäologieprofessor über die Menschen der Jungsteinzeit am Nordatlantik, denen er sein ganzes Forscherleben widmete.

    "Es waren gebildete, erfahrene Menschen: In der Tat - es war eine fortschrittliche Gesellschaft im Neolithikum."

    Gesichter Europas: Die Sonne als Kompaß und die Steinaxt als Werkzeug - auf den Spuren der ersten Bauern an den Ufern des Atlantik. Eine Sendung von Martin Alioth mit
    Texten von Gabrielle Alioth. Am Mikrofon begrüßt Sie Thilo Kößler.


    Die Einheimischen auf Orkney behaupten, die wahre Schönheit ihrer Inselwelt lasse sich nur wirklich erfassen, wenn man vorher die kargen und fast menschenleeren schottischen Highlands hinter sich gelassen habe. Bei schönem Wetter kann man die Orkneys vom schottischen Festland aus sehen - und irgendwann vor sechstausend Jahren müssen die Siedler der jüngeren Steinzeit die Hauptinsel Mainland als Paradies mitten im stürmischen Atlantik ausgemacht haben: Die saftig-grünen Wiesen in der Ferne sprachen für fruchtbare Böden und reiche Weidegründe für das Vieh, es waren kaum Bäume zu sehen, die man hätte roden müssen und das Klima, geprägt vom Golfstrom, war wohl noch um einige Grad milder als heute. Vermutlich setzten zunächst nur ein paar besonders starke Männer über, um die Insel zu erkunden - dann holten sie ihre Familien nach.

    Stein ist weniger vergänglich als Holz - und so lässt sich auf Orkney besonders gut nachvollziehen, wie der Mensch der Jungsteinzeit gelebt und gearbeitet hat. An steinernen Zeugnissen dieser Vergangenheit ist die Insel reich - und im Stein lässt sich lesen wie in einem Buch, sagt einer, der es wissen muss: Er ist Steinbaumeister auf der Insel Orkney - und fühlt sich schon aus diesem Grunde den steinzeitlichen Meistern seines Faches sehr verbunden.


    Mauern aus Stein - Ein unvergängliches Handwerk: ein Steinbaumeister auf Orkney
    Diese Mauer, sagt Colin Wishart verächtlich, ist Schrott. Während seine Bauhandwerker ihre Werkzeuge und Stosskarren zum Arbeitsort bringen, deutet er auf ein Mäuerchen von unbestimmbarem Alter und weist auf Mängel hin, auf fehlerhafte Fugenlinien und zu wenige Verklammerungen.

    "Die Arbeit mit Stein sei wesentlich interessanter als mit normiertem Klinker oder Fertigsteinen. Dauernd muss man nachdenken, was man als nächstes tut. Vor sich hat man den leeren Raum, der mit einer Mauer gefüllt werden soll, hinter sich hundert Tonnen Schutt, aus dem man exakt den Stein herausfischen muss, den man braucht. Und das Problem wiederholt sich bei jedem Stein."

    Wishart ist ein athletischer, großer Mann, ein Wikinger, geradezu, der auch in der kühlen Brise von Orkney bloß ein Hemd trägt. Aus dem offenen Kragen quillt ein regelrechter Brustpelz. Für seinesgleichen ist Orkney ein Paradies:

    " In gewissen Gegenden von Orkney erscheint der Stein wie die Seiten eines Buches, in flachen Platten, und ein Hammerschlag spaltet den Stein an jedem beliebigen Ort."

    Geradezu schwärmerisch lobt er seinen Stein, der anderswo Neid erregen würde. Und was braucht es, um ein guter Steinbaumeister zu werden? Geduld, sagt, er, sonst braucht man gar nicht anzufangen. Und Geduld, deklamiert er in Versform, kann man nicht kaufen, muss man lernen, aber man kann sie niemandem beibringen.

    Könnte er denn eine Mauer bauen wie sie vor 5000 Jahren hier in Orkney, in einer Landschaft, die ähnlich aussah wie heute, gebaut wurde - ganz ohne Stahl und Zement?

    " Die bauten gleich wie wir, sagt er, denn Stein bricht Stein. Heutzutage allerdings passen wir den Stein der Mauer an - vor 5000 Jahren gehorchte die Mauer den Gesetzen des Steins."

    Denn in der Zwischenzeit hat sich der Mensch dem Diktat der Zeit unterworfen.



    Die Steinzeit - der Werkstoff Stein hat einer ganzen Menschheitsepoche den Namen gegeben: Mit der Steinaxt und dem Steinbeil hat der Mensch der Vorzeit nicht nur eines der wichtigsten Geräte erfunden - er hat auch einen großen Zivilisationsschritt getan. Nun konnte er Bäume fällen, Häuser bauen, Tiere jagen und häuten. Schon im Paläolithikum, in der Altsteinzeit, lernte der frühe Mensch, sich mit dem Steinwerkzeug zu behaupten.

    Damals war er noch Jäger und Sammler und zog von Ort zu Ort, um sein Überleben zu sichern. Der Mensch des Neolithikums, der Jungsteinzeit, ist in vielem schon weiter - doch an seinem Werkzeug aus Stein hält er fest, bis er das Metall entdeckt. Gabrielle Alioth, Schriftstellerin und Wahl-Irin aus der Schweiz, mit Gedanken über einen Werkstoff, der das Geschick der Menschheit bestimmte.


    "Wenn Elemente sich verbünden, Erde sich im Wasser sammelt oder Feuer an der Luft verkühlt, entsteht Stein. Dauerhafter als Leben, härter als Zeit, zeugt er von Gewesenem. In ihm haben sich das Andenken der ersten Pflanzen bewahrt, Sporen und Farne zu Runen gepresst, die Erinnerung an die ersten Tiere, Schnecken, Fische zu Monumenten erstarrt, und wer seine Sprache entziffern kann, liest im ältesten Geschichtsbuch der Welt. Mit der ersten Linie, die der Mensch in den Stein schlug, löste er sein Dasein vom Augenblick, gab seiner Gegenwart eine Zukunft - und vielleicht war er der erste Mensch. Was bewahrenswert schien, wurde dem Stein anvertraut, die Gräber der Ahnen, die Gesetze der Götter, und im Stein überdauerten die Gedanken der Erschaffer ihr Leben, ihren Tod und ihre Vorstellung. Doch was versteinert die Zeit überwindet, ist nur Fossil, das uns - in unseren eigenen Vorstellungen gefangen - ein Rätsel bleibt. Das Leben selbst bleibt vergänglich."

    Der Schritt des frühen Menschen zum Neolithikum, der Jungsteinzeit des Homo sapiens, ist nicht nur eine Frage von Jahrtausenden. Diesen Schritt nennen Wissenschaftler einen Quantensprung der Zivilisation, nur noch vergleichbar mit der industriellen Revolution in der Neuzeit. Aus den Jägern und Sammlern werden Bauern und Viehzüchter - aus den Nomaden, die ums tägliche Überleben kämpfen, werden sesshafte Siedler, die planend und vorausschauend wirtschaften: Sie roden Wälder, um Weideland und Ackerfläche zu gewinnen, sie produzieren und reproduzieren Lebensmittel, züchten Pflanzen und Tiere, legen Vorräte an und organisieren das soziale Leben einer dörflichen Gemeinschaft, die nicht mehr permanent im Auf- und Umbruch leben möchte.

    Mehr noch: Sie wollen sich offenbar das Leben immer leichter und den Alltag immer schöner machen. Die Töpfertechnik wird verfeinert, die Verzierungen auf Krügen, Töpfen, Tassen werden immer kunstvoller. Und selbst das Steinwerkzeug wird aufwendig gestaltet - die Axt, die aus Stein geschlagen wird, um zum Schlagwerkzeug zu werden, wird nun auch geschliffen und verziert. In Dublin beschäftigt sich ein Archäologieprofessor nicht nur mit der technischen Seite des neolithischen Handwerks, sondern auch mit der ästhetischen.

    Die Steinerne Axt - Symbol einer Großen Welt: ein Werkzeug, das Epoche machte
    Wenn man den Flintstein richtig mit dem Hammerstein erwischt, splittert er wie Glas. Professor Gabriel Cooney vom University College Dublin hat Studenten und Kollegen in seinem Gärtchen in der Dubliner Vorstadt versammelt, um Steinäxte herzustellen. Aidan O'Sullivan ist einer der Dozenten. Eine Klinge aus Flintstein sei wesentlich schärfer als ein stählernes Skalpell, behauptet er unter Berufung auf mikroskopische Untersuchungen, aber sie stumpft auch viel schneller ab. Er selbst hat schon Bäume mit einer Steinaxt gefällt:

    "Wenn jemand - im Gegensatz zu uns - im Gebrauch der Steinaxt geübt ist, erzielt er denselben Wirkungsgrad wie heute, aber die Methode ist gänzlich anders. Als man modernen Holzfällern Steinäxte gab, zerbrachen sie das Werkzeug, denn es gehe nicht um Kraft sondern um die Technik."

    Mit seinen 47 Jahren ist Cooney ein verhältnismäßig junger Archäologieprofessor. Seine Bluejeans und Turnschuhe wirken durchaus nicht deplaziert. Während ringsum herzhaft Splitter von flachen Kieseln weggesprengt werden, erklärt Cooney die Bedeutung seines Forschungsprojektes, das sich hingebungsvoll mit der steinernen Axt der Jungsteinzeit beschäftigt:

    "Die Äxte geben uns Aufschluss über das Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Regionen vor über 5000 Jahren. Sie dokumentieren den Austausch zwischen Irland, Großbritannien und dem europäischen Kontinent. Die Äxte illustrieren ein Netz von Kontakten."

    Steve Mandel ist der Geologe, der gemeinsam mit Cooney bewiesen hat, dass die Porzellanit-Äxte aus der nordirischen Grafschaft Antrim über die gesamten britischen Inseln verteilt waren. Warum waren die denn so beliebt?

    "Porzellanit bricht dort, wo man will. Es sei einfach, einen Rohling aus diesem Gestein zu gewinnen."

    Im Gegensatz zum Flintstein - aus dem man auch Feuer schlagen kann - ist das Porzellanit aber nicht brüchig. Deshalb sei das Werkzeug viel widerstandsfähiger. Aber mindestens ebenso wichtig seien die Seltenheit des Steins und seine Attraktivität für das menschliche Auge. Diese Äxte waren ungewöhnlich.

    Cooney ist überzeugt, dass die Steinaxt nicht nur in unserem Klischee sondern auch für die damaligen Menschen von außergewöhnlicher Bedeutung war. Er erzählt von norditalienischen Äxten aus einem grünen, jadeartigem Gestein, die in ganz Europa gefunden werden. Die waren indessen nicht für den Hausgebrauch bestimmt.

    "Natürlich seien die Äxte im Alltag wichtig gewesen für die Holzbearbeitung. Aber aus dieser Bedeutung leiteten sich andere ab. Farbe war wichtig, Größe war wichtig. Diese grünen italienischen Äxte sind zum Teil so dünn, dass sie unmöglich zum Gebrauch geeignet sind. Die Form nimmt überhand, die Axt wird zur Ikone."

    Die Axt beweist schlüssig, dass der Horizont des neolithischen Menschen keineswegs von der nächsten Hügelkette bestimmt wurde. Die irische Forschungsgruppe unterstellt indessen keinen Handel, sondern gesellschaftlichen und kulturellen Austausch, den Reiz des Andersartigen. Die Axt, so kann Cooney nachweisen, genoss dabei ein besonderes Ansehen, denn die zeremoniellen, geschliffenen Spitzenprodukte wurden oft begraben, für sich allein oder mit menschlichen Knochen. Wir denken "Staub zu Staub", vor 5000 Jahren dachten unsere Vorfahren vielleicht "Stein zu Stein". An ihrer Fähigkeit zur Abstraktion ist dabei nicht zu zweifeln. Aber konnten sie sich denn diesen Luxus überhaupt leisten?

    "Darüber brauchten sie sich nicht zu sorgen, sie waren wohlhabend", stellt Cooney in einer Arbeitspause fest. Er weist die Vorstellung eines Lebens am Rande des Hungers zurück. Die Frage nach der Kunst als Luxus, der in einem Gegensatz zur alltäglichen Notwendigkeit steht, sei eine moderne Fragestellung. Vielleicht stand ja die Ehrung der toten Vorfahren im Zentrum des neolithischen Lebens.



    Über 6000 Jahre ist es her, dass sich die frühen Bauern und Viehzüchter im Norden Europas ansiedelten - der Einblick in die Jahrtausende alte Lebenswelt des Neolithikums, den uns die Archäologen ermöglichen, relativiert die Errungenschaften einer kurzlebigen Computergeneration und stellt die Maßstäbe unserer Gesellschaft, einer Zivilisation im Sekundentakt, in Frage. Gabrielle Alioth: Zeit.

    "Was wir als Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft erleben, was uns als Entstehen und Vergehen erscheint, nennen wir Zeit. Alles was wir sehen, hören und fühlen treibt in ihrem Strom und unser eigenes Treiben in ihr ist unser Dasein. Doch wir haben keinen Sinn für sie, kein Organ, mit dem wir sie messen können. Wünsche und Ängste bestimmen, wie schnell die Zeit für uns vergeht, und erst der Versuch sie abseits unseres Erlebens zu messen, hat uns von ihrer Willkür befreit. Die Zeit - so Francis Bacon - war die erste große Erfindung des Menschen, sie erlaubte ihm seine Erfahrungen zu ordnen, und die Zeit - so Kant - bildet die Grundlage jeder Erkenntnis. Von Sonne und Mond hat der Mensch seine eigenen Zyklen abgeleitet, und mit der Messung der Zeit begann die Messung der Welt. Zeit wurde Geschichte, die Uhr die ersten Maschine. Unterdessen lässt sich der Moment auf Nanosekunden genau bestimmen, und dennoch wird er uns stets entgehen zwischen Vorher und Nachher. Denn im Moment lässt sich nicht leben, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft kann niemand bestehen."

    Die Archäologen versuchen, der Zeit des neolithischen Menschen so nahe wie möglich zu kommen - ihr Ziel ist es, die Lebensgewohnheiten und die Umwelt der Steinzeitbewohner zu rekonstruieren und die verschiedenen Funde chronologisch einzuordnen. Da arbeiten längst viele wissenschaftliche Disziplinen zusammen.

    Dendrochronologen wie Professor Mike Baillie in Belfast zum Beispiel versuchen anhand der Jahresringe von Bäumen, das Alter der Fundorte so genau wie möglich zu bestimmen.

    Der Mann, der mit toten Eichen redet: Der Dendrologe Mike Baillie
    Zehntausend Stücke von irischen Eichen, dreieckige Ausschnitte aus Baum-Scheiben, wie Orangenschnitze, lagern in aufgetürmten Kartonschachteln: ein internationales Archiv.

    Professor Mike Baillie von der Queen's Universität Belfast misst die Zeit, indem er Baumringe zählt. Paläoökologe, nennt er sich:

    Nach kurzem Suchen findet der gelernte Physiker die gewünschte Schachtel. Liebevoll nimmt Baillie ein Stück Eiche in die Hand. Jemand hat Kreide auf die Oberfläche gerieben, die im Frühling gebildeten Gefäße werden auf der polierten Holzfläche deutlich sichtbar. Das gesunde Holzstück, in Irland wie meist aus einem Moor geborgen, stammt dennoch aus der Jungsteinzeit.

    Baillie hat sich mit der verständnislosen Reaktion abgefunden, die auf die Erwähnung von Dendrochronologie fast unweigerlich folgt. In langjähriger Kleinarbeit, wie ein endloses Puzzle, hat er eine kontinuierliche Linie von 7200 Jahrringen zusammengestellt. Wann immer jetzt ein altes Stück Eiche in Irland auftaucht, wandert der Finder nach Belfast zu Baillie.

    Ursprünglich sollten die Baumringe ja bloß helfen, die unvermeidlichen Verzerrungen und Unschärfen bei der Datierung mit dem Radiokarbon-Verfahren, der sogenannten C14-Methode, auszubügeln. Hier im Belfaster Labor werden Substanzen verdampft und in großen Glasbehältern gesammelt.

    Während wieder mal eine Pumpe verschnauft, kommt Baillie auf seinen neuen Forschungsgegenstand zu sprechen. Die Bäume erzählen nämlich Geschichten. Die Bäume weisen auf besondere Ereignisse hin, erklärt Baillie aufgeregt und weist mit spitzem Finger auf eine markante weiße Linie bei einer Eiche, die vor über 5000 Jahren lebte. Nach dem normalen Ring für das Jahr 3200 vor Christus folgen mikroskopisch dünne Ringe. Die Bäume, sagt der grauhaarige Forscher einfühlsam, ringen offenkundig ums Überleben.

    Er spricht von Veränderungen im Meeresspiegel, von neuen Mustern bei atlantischem Wind, kurz, von einem ökologischen Einschnitt. Und dann erinnert er an die traditionellen Archäologen, die schon lange von einer Übergangszeit zwischen dem älteren Neolithikum und einer späteren Phase sprachen.

    Der Bruch wurde bislang grob auf 3200 datiert. Baillie ist präziser: Der Epochenwechsel begann 3199 vor Christus. Sein spitzbübisches Vergnügen ist unverkennbar. Doch dann wird er gleich wieder bescheiden:

    Man solle nie die Bäume belehren, sondern ihnen bloß zuhören. So beschränkt er sich darauf festzustellen, dass eine ökologische Katastrophe für die ersten Bauern weitreichende Konsequenzen hatte. Baillie studiert nun irische Sagen, die von immer neuen Völkern erzählen, von den Firbolg, den Tuatha de Danaan, den Milesiern und anderen, die nacheinander Irland bevölkerten. Grönländisches Eis bestätigt periodische Vulkanausbrüche, Kometenschauer, Fluten. Vielleicht, regt der Mann, der den Bäumen zuhört, an, müssen wir uns vom linearen Fortschrittsdenken lösen.

    Die Resultate der sorgfältig erarbeiteten Zeitachse werden wie eine Fieberkurve auf Papierrollen eingetragen:

    "Das Raster wurde so bestimmt, dass hundert Jahre durch zwanzig Zentimeter abgebildet werden. Menschen lebten und starben, fünf Generationen wurden alle 20 Zentimeter geboren. Und die Kurve geht ewig weiter."

    Das gibt ihm ein ungewöhnliches Zeitverständnis. Der Mann, der sich mit katastrophalen Überraschungen beschäftigt, hält sich streng an den immer gleich unterteilten Ablauf der Zeit über die Jahrtausende.

    Historiker, rügt er, springen in der Zeit herum, wie wenn es sich um eine biegsame Größe handle. Wer Baumringe studiert, weiß, dass man mit der Zeit nicht spielen kann. Das zwingt zu peinlicher Sorgfalt und festigt sein Verständnis von der Zeit als unaufhaltsamem Ablauf, in dem ein Jahr auf das nächste folgt. Aber die meisten Menschen sähen die Zeit anders.



    Christian Jürgensen Thomsen konnte Ende des 18. Jahrhunderts allerdings noch nicht wissen, warum ein neolithischer Fund aus Nordeuropa absolut gesehen so viel jünger ist als ein neolithischer Fund aus dem Vorderen Orient. Beide entstammen aus demselben Kulturhorizont der jüngeren Steinzeit - und doch liegen gut und gerne dreitausend Jahre dazwischen. Solange dauerte es, bis die frühen Bauern und Viehzüchter über die Ägäis und Griechenland, über Südfrankreich und Donautiefland bis nach Süddeutschland und weiter an die Nordseeküste bis nach Nordeuropa an die Ufer des Atlantik gezogen waren. Vermutlich war das Land an ihren Siedlungsplätzen knapp geworden und die Dorfgemeinschaften zu groß, so dass die sesshaften Stämme zu Migranten wurden - doch auf ihrem Weg in den Nordwesten Europas hinterließen sie die immergleichen Spuren ihrer Kultur: die typischen Siedlungsplätze mit rechtwinkligen Langhäusern, die typischen Steinwerkzeuge, die typische Keramik,

    aber von den wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Revolution wussten wir bislang wenig. Das ließ Seamus Caulfield schon seit Kindertagen nicht mehr los. Sein Vater entdeckte 1934 im äußersten Westen Irlands die ersten rätselhaften Steine im Moor. Seamus wurde Archäologe und seine Grabungen machten Céide Fields zu einem der spektakulärsten Fundorte des Neolithikums.

    Die Welt unter dem Moor: Neolithische Spurensuche in Céide Fields
    Der frisch emeritierte Archäologieprofessor Séamus Caulfield sagt gelegentlich Dinge, die auf Anhieb befremdlich wirken:

    Das Tragen von Schuhen trennt uns vom Boden, bemerkt er, und schließt damit seine Ausführungen über seine Jugend ab, als er hier in der Grafschaft Mayo, im äußersten Westen Irland, noch barfuss durch Wiesen und Moor stapfte. Seine Fußsohlen erinnern sich noch heute an Temperaturen und Beschaffenheit. Caulfield betreibt seine Archäologie immer noch so. Ganzheitlich, würde man wohl dazu sagen.

    Es begann im Jahre 1934, als sein Vater, der Dorfschullehrer, exakt hier Torf stach. Er bemerkte lose Steine in einer Linie, nachdem er den Torf entfernt hatte. Er zog den logischen Schluss, dass diese Mauer vor der Bildung des Moors gebaut worden war. Das Moor ist prähistorisch, also ist die Mauer noch älter. Jetzt versucht sein Sohn, diese ursprüngliche Beobachtung zu erweitern.

    Er ist im Auftreten der bescheidene Sohn des Dorfschullehrers geblieben. Der vierschrötige Mann im karierten Hemd fällt in der Menge nicht auf. Erst wenn er spricht, steckt er jeden mit seiner Begeisterung an. Seit über 30 Jahren arbeitet Caulfield an der Nordküste von Mayo. Zuerst grub er noch im Moor nach den steinzeitlichen Feldmauern, dann wurde er raffinierter.

    Seine ehemalige Schülerin Greta Byrne leitet heute das Besucherzentrum in Céide Fields. Sie stochert gerade mit einer langen Stahlrute im butterweichen Torf.

    "Da", stößt sie - auch beim hundertsten Mal noch aufgeregt - hervor: "Man kann es spüren, man kann es hören: kein Zweifel, wenn man auf Grund trifft."

    Weiße Stäbe ziehen sich jetzt den Hügel hinauf, in langen, parallelen Linien. Sie bilden, wie ein Negativ, das Gitterwerk der unterirdischen Mauern ab, die von den ersten Bauern für ihr Vieh und ihre Äcker gebaut wurden, als sie endlich das Ende Europas erreicht hatten.

    Er bezeichnet das zwölf Quadratkilometer große, einstige Siedlungsgebiet als das großflächigste steinzeitliche Monument der Welt. Mehr noch als Gräber, Wälle und Steinkreise vielleicht illustrieren diese verborgenen Mauern den Willen des neolithischen Menschen, seine Umwelt dauerhaft zu verändern - und die Fähigkeit dazu. Was damals begann, hat sich bis heute nicht geändert:

    Und Caulfield zitiert seinen Namensvetter, den irischen Literaturnobelpreisträger Séamus Heaney, der über diese Landschaft schrieb:

    "You know, when he talks about:
    A landscape fossilized
    its stonewall patternings
    repeated before our eyes
    in the stone walls of Mayo. "

    Eine versteinerte Landschaft, deren Muster vor unseren Augen in den heutigen Steinmauern von Mayo wiederholt werden. Und Caulfield selbst denkt genau so. Er sieht Landschaft als Wechselspiel zwischen Sehendem und Gesehenem, als Gewebe zwischen Bild und Gedächtnis.

    Er weist auf seinen Heimatort Belderg, wo er jetzt Besucher und Forscher empfängt, und spricht von Kindheitserinnerungen, die seine Wahrnehmung der Landschaft prägen. Der Tagesbesucher sieht etwas gänzlich anderes. Handkehrum springt Caulfield von seinem komplexen Verständnis von Zeit und Raum zu konkreten Erkenntnissen:

    Er deutet auf den Stumpf einer subfossilen Tanne, deren Wurzeln mehrheitlich ins Moor wuchsen. Ihre Datierung machte die hiesige Besiedlung noch einmal 500 Jahre älter - vor 5000 Jahren war alles schon vorbei und verlassen, das Moor wuchs.

    Fallende Temperaturen und vielleicht auch veränderte Windmuster begünstigen das Moor um 3200 vor Christus, Céide Fields wird dem Pflug entrissen. Caulfield wirft grundsätzliche Fragen auf:

    "Sind diese frühneolithischen Siedlungsmuster einzigartig für diese Gegend, oder sind sie nur einzigartig gut erhalten? So könnte es sich durchaus um ein Modell für ganz Europa handeln, anstatt nur um eine lokale Besonderheit."

    Es sind nur ein paar Steinhaufen im Boden, aber sie erzählen aufregende Geschichten, wenn man so genau hinhört wie Séamus Caulfield. Er geht davon aus, dass die Bauern von Céide Fields den letzten Ausläufer jenes langen Wanderungsstroms bilden, der Europa in nordwestlicher Richtung erschließt. Diese Kultur glaubte an ein Weiterleben nach dem Tod, den sie widmete ihren Gräbern weit mehr Energie als ihren Behausungen.



    The Source, die Quelle: Ein Stück des irischen Komponisten und Archäologen Michael Holohan, der mit seiner Musik versucht, der Klangwelt unserer Vorfahren nachzuspüren.

    Würden wir heute einem unserer Urahnen aus der jüngeren Steinzeit an einer Straßenbahnhaltestelle begegnen, wir würden ihn kaum als solchen erkennen: Der Mensch des Neolitihikums war etwa so groß wie wir, hatte dieselben Gesichtszüge, vielleicht war er ein bisschen dunkelhäutiger, mediterraner. Auch sein Sozialverhalten dürfte sich kaum von unserem unterschieden haben - man sprach miteinander in einer indoeuropäischen Sprache, stritt und vertrug sich wieder. Dafür, dass der Mensch aus der jüngeren Steinzeit besonders kriegerisch und aggressiv gewesen sei, gibt es keinerlei Hinweise - die Siedlungen auf Orkney etwa zeigen keine Reste einer Befestigung.

    Dafür geben sie unzählige Hinweise auf eine sozial differenzierte dörfliche Gemeinschaft. Der Schritt zur Sesshaftigkeit hatte für einen tiefgreifenden sozialen Wandel gesorgt. Hatten die Jäger und Sammler der Altsteinzeit noch von der Hand in den Mund gelebt, so erlaubte es die neue Wirtschaftsweise der neolithischen Siedler, Nahrungsmittel im Überschuss zu produzieren. Damit wurden Kräfte frei, die der Gesellschaft Raum für Ideen ließen - die Jungsteinzeit war das erste Zeitalter der Spezialisten: Töpfer, Steinhauer, Werkzeugmacher, Baumeister - sie alle fügten sich ein in eine Gesellschaft, die immer stärker auf die schöpferischen Fähigkeiten des Einzelnen setzte.

    Für all das gibt es natürlich keine schriftlichen Zeugnisse - sonst wäre das Neolithikum kein Forschungsobjekt der Vor- und Frühgeschichte. Aber das soziale Miteinander lässt sich erschließen. Aus einem so einzigartigen Fundort wie Skara Brae an der Ostküste der Orkney-Insel Mainland zum Beispiel: ein Sturm hatte diese Siedlung in grauer Vorzeit unter Sanddünen begraben, ein Sturm gab sie 1850 wieder frei: Heute erlaubt Skara Brae wie kein zweiter Fundort Einblicke in den Alltag neolithischen Lebens.


    Tisch und Bett aus Stein im hohen Norden: Ansichten eines steinzeitlichen Dorfes
    Von den grasbewachsenen Sanddünen fällt der Blick hinab in die gute Stube: Ein gutes Beispiel für ein typisches Haus aus der Jungsteinzeit in Orkney, erklärt die Archäologin Janes Downes, und weist auf die Feuerstelle im Zentrum des großen Raumes.

    Es ist einfach, sich diese Herdstellen als Brennpunkt des Lebens vorzustellen, denn die Häuser in Skara Brae sind komplett eingerichtet: Zu beiden Seiten der Feuerstelle bilden hochkant gestellte Steinplatten einen rechteckigen Verschlag - das sind die Betten. Und an der Stirnseite erhebt sich ein steinernes Möbelstück - Dresser, nennen es die Archäologen, Schrank oder gar Buffet. Sind diese Funktionszuschreibungen nicht gar zu einfach?

    Den Leuten gefallen diese Bezeichnungen eben, gibt Jane Downes zu, es klingt gemütlich, aber es könnte sich durchaus um Abteile für Haustiere handeln. - Steinerne Schachteln, in den Fußboden eingelassen, enthielten Trinkwasser und lebenden Köder zum Fischen. Alles ist aus Stein, denn auf den Orkney-Inseln im Norden Schottlands gibt es kaum Holz. Wo anderswo bloß Pfostenlöcher vom menschlichen Alltag künden, stehen in Skara Brae die Mauern bis zur Regenrinne. Unter der kundigen Führung der Universitätsdozentin zwängen wir uns durch enge Gänge und Türöffnungen:

    Da meine man immer, diese Menschen seien winzig gewesen - aber das stimmt nicht. Die Gedanken gehen zurück zum Adlergrab, auf der andern Seite Orkneys, wo der inzwischen über 80-jährige Bauer Ronald Simison eigenhändig ein steinzeitliches Massengrab freilegte.

    "Ein Mann war wesentlich größer als Simison selbst, sein Oberschenkelknochen war viel länger. Der war 1.75 groß."

    Jahrelang grub der Nachfahre wikingischer Siedler in seiner Freizeit oben auf dem Kliff. Empfand er denn eine Bindung an jene ersten Bauern, die dasselbe Land 5000 Jahre früher beackert hatten?

    Wir gehen auf derselben Scholle, sagt der wettergegerbte Mann, der aber unter seiner Mütze die Spuren seines Kindergesichts und der entsprechenden Neugier behalten hat, wir sind verwandt mit denen.

    Zurück im eng verschachtelten Dorf von Skara Brae springt diese Kontinuität über 150 Generationen hinweg bei jedem Schritt ins Auge. Jane Downes ist in eine kleine Kammer vorangegangen, die neben dem sogenannten Schrank in die dicke Hausmauer eingelassen ist:

    Das könnte, vermutet sie, eine frühe Toilette sein, denn es führt ein Abflussgraben raus. Das ganze Dorf stehe auf einem Netzwerk von Entwässerungsgräben - der angeblich moderne Mensch wird stracks zu einer Art von Gully geführt: Hilfreich bietet sie an, man könne da auch hinuntersteigen, in die steingefassten Kanäle und Schächte.

    Etwa sechshundert Jahre lang lebten die Fischer und Bauern von Skara Brae in ihren verrauchten, dunklen Häusern. Zu Fuß hätten sie bloß zwei Stunden gebraucht, um zum riesigen Steinkreis von Brodgar zu gelangen, wo diese Gesellschaft ihre Rituale feierte. Bis heute werfen die dünnen Steinplatten ihre Schatten auf die nahen Bucht. Von Brodgar aus kann man den etwas älteren Steinkreis von Stenness an der Landenge sehen, mit seiner riesigen Feuerstelle, und dahinter das Grab von Maes Howe, fast fugenlos gebaut aus tonnenschweren Steinplatten. Dieser heilige Bezirk im Herzen Orkneys kündet heute noch von einer raffiniert organisierten Gesellschaft. Ihre Monumente und ihre Dörfer verkörpern den Lohn der Sesshaftigkeit. Die ergiebigste Quelle für den Alltag der Bewohner von Skara Brae ist ihr Kompost, mit dem sie ihre Häuser isolierten. Da finden Jane Downes und ihre Kolleginnen die Knochen von Schweinen, Rindern, Schafen, die Reste von gemahlenem Korn, Äpfeln, Nüssen, Fisch:

    "Das große Rätsel ist, wie diese Haustiere - ja selbst das Rotwild für die Jagd - plötzlich in Orkney erschienen. Denn vor der Ankunft des neolithischen Menschen auf den nördlichen Inseln, also etwa vor dem Jahr 4000 vor Christus, gibt es keines dieser Tiere. Die heutige Forschung geht davon aus, dass diese ersten Bauern ihren ganzen Tierbestand mit sich brachten, in Booten über den heimtückischen Pentland Firth setzten - sie importierten alles, mit Stumpf und Stiel."



    Der Mensch der Jungsteinzeit in Europa war mehr als Bauer und Viehzüchter, meisterhafter Töpfer und Steinhandwerker: Er dachte, plante, fühlte - und glaubte. Denn seine Kunstfertigkeit im Diesseits setzte der Mensch für die Zukunft im Jenseits ein.

    "Jahrhunderte wissenschaftlicher Forschung haben die Grenzen zwischen Tier und Mensch zur Unkenntlichkeit verwischt. Genetiker versichern, dass wir der Spinne näher stehen als dem Pantoffeltier, doch im Begriff Mensch lässt sich heute höchstens noch der Stand aktuellen Unwissens definieren. Was die Elster denkt, die den Fleck auf ihren Gefieder im Spiegel sieht und sich zu putzen beginnt, liegt auf der Hand, und jeder Hamster hat mehr Phantasie als deutsche Fernsehproduzenten. Von Seele ist schon lange keine Rede mehr. Wo die Wissenschaft versagt, mag die Geschichte helfen. Was hat den Menschen zum Menschen gemacht? Auch Hirsche verteidigen ihre Reviere, Termiten bauen Städte, Fledermäuse gebrauchen Ultraschall, und doch ist jener, der vor 5000 Jahren Spiralen in den Stein meißelt ein Mensch. Genau wie jener, der eine Axt schleift, die er niemals brauchen wird, nur um sie in ein Grab zu legen. So mögen es das Wissen um Symbole und den Ablauf der Zeit sein, das Vermögen, sein Dasein über dessen Grenzen hinaus zu kommunizieren, und das Unvermögen, den Tod als Ende zu akzeptieren, die den Menschen zum Menschen machen."

    Die geheimnisvollen Steinkreise von Brodgar, die mächtigen Megalithe von Stennéss, die gigantischen Grabhügel mit verzierten Ganggräbern, in denen die Verstorbenen kollektiv bestattet wurden: Auch die jungsteinzeitlichen Bewohner von Orkney verwandten enorme Energien und Mühen auf Kult, Ritus, symbolische Opfer und Ahnengedenken. Eine magische Welt, die offenbar immer differenzierter wurde, je weiter sich das soziale Leben fortentwickelte. Anthropologen haben dafür eine Erklärung: Der Mensch der Jungsteinzeit war zwar zunehmend in der Lage, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und seine Umwelt zu seinen Gunsten zu verändern. Doch gleichzeitig musste er immer wieder die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit erkennen - Sturm und Unwetter, Gefahren und Unglücke, Fruchtbarkeit, Krankheit oder Tod: Das alles war nicht zu erklären, geschweige denn zu verändern. Man konnte allenfalls versuchen, fremde Mächte mit Opfern und Riten der Beschwörung günstig zu stimmen. Die Steinzeit, das zeigen die Fundstellen in ganz Europa, ist die Geburtsstunde der Magie.

    Und Orte wie Newgrange, Knowth oder Dowth sind die Wiege des jungsteinzeitlichen Götterhimmels. Hier an der Ostküste Irlands, in einer Biegung des Flusses Boyne, haben Archäologen nicht nur monumentale Steingräber der neolithischen Megalithkultur gefunden, sondern auch Kultplätze, Tempelbezirke, Stätten des rituellen Lebens.

    Spirituelle Nahrung aus Spiralen: Die monumentalen Gräber am Flusslauf des Boyne
    Morrigu, die keltische Todesgöttin, hat Krähengestalt, und vielleicht reicht diese Tradition ja noch viel weiter zurück. Sie tummeln sich jedenfalls zu Hunderten in der neolithischen Nekropolis, dem über 5000 Jahre alten Begräbnisbezirk in der Schlaufe des irischen Flusses Boyne. Drei riesige künstliche Hügel enthalten sogenannte Ganggräber: Newgrange, Knowth und Dowth. Darum herum gruppieren sich kleinere Grabhügel. Diese Begräbnisform erstreckte sich einst von den Shetlandinseln bis Andalusien. Professor George Eogan hat vierzig Jahre lang in Knowth gegraben und geforscht.

    Er nennt es einen Kernbezirk dieser atlantischen Kultur. Es gebe nichts, was mit den riesigen Gräbern im Boyne-Tal verglichen werden könne.

    Eogan ist ein reservierter, vorsichtiger Mann, ein Buchhalter eher, oder ein Herrenschneider vielleicht. Extravagante Spekulationen weist er weit von sich, er hält sich streng an die Tatsachen. Und doch benutzt selbst er wertende Ausdrücke, wenn er die Leistungen dieser Zivilisation zu beschreiben versucht:

    "Diese Gesellschaft war unglaublich erneuerungsfreudig, kraftvoll und wohlhabend. Zudem entdeckt er einen strengen Ordnungssinn. Was sich heute noch an ihren Gräbern ablesen lässt, galt bestimmt auch für ihre Wiesen und Äcker."

    Und er schließt seine geradezu leidenschaftlichen Bemerkungen mit dem Hinweis auf den Bildungsgrad. Fortgeschritten nennt er diese Gesellschaft.

    Bru na Boinne, wie der Bezirk heute genannt wird, war indessen weit mehr als ein Friedhof. Eogan spricht von Ritualen und Prozessionen, die er sich vorstellt. Die Erbauer von Newgrange waren so raffiniert, dass sie den ersten Sonnenstrahl zur Wintersonnwende durch einen Schlitz über dem Eingang des Grabes einfingen. Das Licht wandert dann - auch heute noch - als schmaler Streifen den Gang entlang bis zur kreuzförmigen Grabkammer, deren sechs Meter hohe Kuppel kurz in mattgoldenen Umrissen erkennbar wird. Einmal im Jahr kommt die Sonne zu den Toten. Die Sonne, die für diese ersten Bauern eine Leben spendende Bedeutung haben musste.

    Allein in dieser Flussschlaufe habe man bisher über tausend von Menschenhand verzierte Steine gefunden, es sei die reichhaltigste neolithische Kunstsammlung Europas.

    Spiralen und Kreise, Rhomben und Winkel sind in die Oberfläche der riesigen Steine gehauen und gestichelt, zum Teil in raffiniertem Spiel mit Licht und Schatten. Hufeisenförmige Flächen vereinen sich zu ausgewogenen Kompositionen und die dreifache Spirale kündet von der Untrennbarkeit von Anfang und Ende.

    Es war nicht Kunst zur Verzierung, glaubt Eogan, sondern Symbolik. Jeder Stein, meint er, vermittelte eine eigene Botschaft, eine spirituelle Botschaft. Die rätselhafte Kunst des Boynetales bildet damit, räumt der vorsichtige Professor fast etwas zögernd ein, eine Vorläuferin der Schrift:

    "Sobald eine Form, eine Figur, eine eindeutige Bedeutung erhält, dann liegt der nächste Schritt auf der Hand: die Abstimmung dieser Formen, um eine Botschaft zu vermitteln."

    Es war, in der Tat, eine komplexe, reiche und nachdenkliche Gesellschaft, die hier vor über 5000 Jahren die Asche ihrer Toten ehrte. Sie meißelte ihre Einsicht in die Einzigartigkeit des Menschen unvergänglich in den Stein.



    "Weder Geburt noch Tod werden sich anders angefühlt haben vor 5000 Jahren und dazwischen lag ein Leben in einer Gemeinschaft, von Notwendigkeit, Alltäglichkeit, Ritualen bestimmt, Liebe, Trauer, Freude und Schmerz. Es muss kürzer gewesen sein, das Leben des Steinzeitmenschen, kälter, härter, schwieriger vielleicht - oder auch nicht, denn woran hätte es sich messen sollen, wenn nicht an dem Gegebenen, dem damals Normalen. Und die Zwänge der Vergangenheit formen die Gegenwart. Die Fähigkeit etwa, in kurzer Zeit große Mengen von Nährstoffen aufzunehmen, im Körper zu lagern und davon zu zehren, wird einst die Überlebenschancen des Einzelnen bestimmt und zu jener Auswahl geführt haben, die heute Schlankheitsinstitute und Ärzte beschäftigt. Wenn die Spinne in der Evolution nur ein paar Schritte von uns entfernt ist, dann steht der Steinzeitmensch praktisch in unseren Schuhen und betrachtet man die Monumente, die er uns zurückgelassen hat, das Fehlen aller kriegerischen Spuren, so war er uns in manchem vielleicht voraus."

    Und das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Die Sonne als Kompass und die Steinaxt als Werkzeug - auf den Spuren der ersten Bauern an den Ufern des Atlantik. Eine Sendung von Martin Alioth mit Texten von Gabrielle Alioth. Musik und Regie: Ehrhard Gehl. Redakteur am Mikrofon war Thilo Kößler.