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Die Stimme der Jasmin-Revolution

Gut fünf Monate nach der Flucht von Tunesiens Diktator Ben Ali ist mit dem Buch "Vernetzt Euch" der erste Augenzeugenbericht über den Aufstand in der arabischen Welt auf dem deutschen Buchmarkt erschienen: Lina Ben Mhenni wird die "Stimme der Jasmin-Revolution" genannt.

Von Andreas Noll | 27.06.2011
    Dass sie so schnell aufgeben würde, hätte Lina Ben Mhenni vor wenigen Wochen wohl selbst nicht für möglich gehalten. Doch in diesen Tagen ist die tunesische Bloggerin sichtlich frustriert. Nach der friedlichen Revolution ist ihr Land in alte, träge Muster zurückgefallen. Es läuft in Tunesien nicht mehr so, wie die 28-Jährige lange gehofft hatte. Aus dem Komitee zur Reform der tunesischen Medien hat sie sich deshalb vor wenigen Tagen zurückgezogen:

    "Ich bin zurückgetreten, weil ich hart gearbeitet habe, aber keine Ergebnisse erkennbar wurden. In einigen Monaten wird bei uns gewählt. Aber wir werden diese Wahlen mit denselben Medien haben, die schon mit Ben Ali gearbeitet haben. Das kann ich nicht akzeptieren","

    so die Bloggerin vor einer Woche in Bonn bei ihrer Auszeichnung mit dem internationalen Blogger-Award der Deutschen Welle. Der Preis dürfte sie auch beim deutschen Publikum bekannter machen - ihr erstes Buch erscheint also zum richtigen Zeitpunkt. In "Vernetzt Euch!" erzählt Lina Ben Mhenni ihre persönliche Revolutionsgeschichte und beschreibt Erwartungen an die Zukunft. Dazu zählt die Reform der Medien, für die sie in einer Kommission kämpfen wolle, wie die Autorin auf den letzten Zeilen des 46 Seiten umfassenden Büchleins noch behauptet. Die Realität hat nun das gedruckte Wort zum Verkaufsstart überholt. Auch das passt zu Lina Ben Mhenni und dem großen Thema ihres noch jungen Lebens: die politische Macht der schnellen digitalen Vernetzung. Die Kommunikation via Internet sieht sie dabei jugendlich idealisiert, fast naiv. Traditionelle Politik ödet sie an:

    "Bei der Parteiarbeit wird die Zeit streng eingeteilt, man ist eingespannt, gefesselt, an die politische Agenda gekettet und kann nicht sofort reagieren. Die Unmittelbarkeit geht verloren. Es gibt lauter Vorschriften, Protokolle, Grenzen. Ein freies Elektron kennt keine Grenzen. Ein Blogger ist tausend Mal schlagkräftiger, schneller."

    Doch alle Schlagkraft nutzt nichts ohne Überzeugung - Lina Ben Mhenni kämpft für die Freiheit. Und das hat wohl vor allem mit ihrer Familiengeschichte zu tun. Sechs Jahre verbrachte der Vater als Mitglied der tunesischen Linken im Gefängnis - die Spuren der Folter blieben auch der Tochter nicht verborgen. In die Welt des Bloggens gelangt sie zufällig. Bei einem Studienaufenthalt in den USA 2007, als ihr ein Artikel über Blogs in die Hände fällt. Nach ersten persönlichen Texten wird sie immer politischer: "A Tunisian Girl" nennt sie ihre Seite seit zwei Jahren. Seitdem ist auch sie im Visier der Geheimdienste:

    ""Die tunesische politische Polizei war überall. Sie haben die Aktivisten verfolgt. Viele Leute wurden verhaftet oder sogar verschleppt, gefoltert. Einige wurden sogar getötet. Es war wirklich gefährlich."

    Aber Ben Mhenni macht weiter. Als die ohnehin rigide Internetzensur auf Hunderte von Blogs, Nachrichten- und Videowebseiten ausgedehnt wird, organisiert ihre Gruppe via Internet eine friedliche Großdemonstration in Tunis. Dieser 22. Mai 2010 ist für die Bloggerin heute der eigentliche Startschuss zur Revolution. Eine landesweite Empörungswelle entsteht aber erst ein halbes Jahr später, nachdem sich ein arbeitsloser Gemüsehändler aus Protest auf offener Straße selbst angezündet hatte. Der Name seines kleinen Heimatortes - Sidi Bouzid - wird im Internet zum Synonym für die tunesische Protestbewegung:

    "Cybernauten aus aller Welt richteten ihre Augen auf Tunesien, auf unsere Aktionen. Ich lebte nur noch für Sidi Bouzid. Meine Freundin Leila und ich schliefen höchstens drei Stunden pro Nacht. Den Rest der Zeit sammelten wir Informationen und schrieben pausenlos weiter."


    Twitter, Facebook, Blogs - die Aktivisten um Mhenni nutzen im Dezember 2010 sämtliche Kommunikationskanäle, um ihre Landsleute zu mobilisieren. Auf eigenen Reisen dokumentieren sie die Brutalität des Regimes. Die Blogger aus dem harten Kern fühlen sich mächtig und sind es wohl in diesem Moment auch, doch das tunesische Regime ist trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen über die Pläne und Mitglieder der Gruppe informiert. Einige Aktivisten werden verhaftet:

    "Als ich das Gerichtsgebäude betreten wollte, versuchten Polizisten, mich daran zu hindern, aber der monatelange Kampf hatte mich verändert. Früher wurde ich in solchen Fällen sofort rot und brachte kaum ein Wort heraus. Inzwischen hatte sich mein Selbstverständnis gewandelt, ich wusste genau, was ich als Bloggerin zu tun hatte: fotografieren, filmen, Augenzeugenberichte sammeln, um den verlogenen Unsinn zu entlarven."

    Es dauert nur noch wenige Tage, bis Machthaber Ben Ali den Machtkampf mit der Straße verliert und nach Saudi-Arabien flieht. Den Sieg der Revolution reklamiert die Cyberaktivistin auch für sich. Mitreißend und berührend schildert Mhenni in Vernetzt Euch! Wie virtuos ihre Generation die neuen Medien für politische Ziele einsetzen. "Erstmals in der Geschichte haben Blogs und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter ein diktatorisches Regime zu Fall gebracht", wirbt denn auch der Verlag auf dem Buchumschlag. Die Autorin selbst - mittlerweile Linguistik-Dozentin an der Universität Tunis - ist in dieser Frage zum Glück bescheidener und stellt schließlich klar:

    "Es ist keine Facebook- oder Internet- oder Twitter-Revolution. Es ist eine Revolution des Volkes, eine Revolution der Würde. In Tunesien hat es nicht im Internet begonnen, sondern auf der Straße. Das Internet war nur ein Hilfsmittel."

    Aber ein mächtiges, ob auch ein nachhaltiges, dass muss sich erst noch zeigen.

    Lina Ben Mhenni: Vernetzt Euch!
    Ullstein Hardcover
    48 Seiten
    3,99 Euro
    ISBN: 978-3-550-08893-3