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Die Stunden

"Die Stunden" - so lautete der Arbeitstitel von Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway". Virginia Woolf folgt dem regelmäßigen Glockenschlag des Big Ben und erzählt einen Tag im Leben einer Frau, die gefangen in der Konvention lebt, abends eine Gesellschaft geben muss und sich in all ihrer Gewöhnlichkeit geradezu überwältigende Momente des Glücks bewahrt. Wenn der 1952 geborene Michael Cunningham jetzt diesen Titel für seinem Roman wählt, Motive dieses Buchs aufgreift und Virginia Woolf zur literarischen Figur macht, wehrt er sich dennoch dagegen, so etwas wie eine Hommage an die große Autorin geschrieben zu haben. Cunningham:

Detlef Grumbach | 07.03.2000
    "Eine Hommage ist für mich so etwas wie eine Trophäe, die man jemandem darbringt, der so alt und ehrwürdig ist, dass er jenseits von Gut und Böse ist. Ich denke über mein Buch eher in musikalischen Begriffen, als eine Art Jazz-Irnprovisation, als eine Improvisation auf ein bekanntes, großartiges Musikstück."

    Cunningham, der den deutschen Lesern schon durch die Bücher "Fünf Meilen von Woodstock" und "Fleisch und Blut" bekannt ist, verknüpft die Geschichten dreier geheimnisvoll miteinander verbundener Frauen und erzählt jeweils einen Tags in ihrem Leben: Zum einen erzählt er, wie Virginia Woolf im Jahr 1923 beginnt, ihren berühmten Roman zu schreiben. Dann springt er ins Jahr 1943, zu Mrs. Brown, einer frustrierten amerikanischen Hausfrau, die morgens am liebsten im Bett liegen bleiben würde um ,Mrs, Dalloway' zu lesen, die dann aber doch aufsteht und aus Liebe zu ihrem Mann eine Geburtstagstorte für ihn backt. Und schließlich erzählt er von Clarissa Vaughari, einer relativ spießigen Lesbe aus dem New York der neunziger Jahre, die von ihrer Jugendliebe Richard "Mrs. Dalloway" genannt wird. Richard, ein Schriftsteller, ist aidskrank, soll am Abend einen Literaturpreis erhalten und Clarissa bereitet, wie seinerzeit Mrs. Dalloway, eine Party vor. Dazu Michael Cunningham:

    "Meine Beziehung zu Virginia Woolf geht zurück auf meine Schulzeit. "Mrs Dalloway" war das erste, große Buch, das ich überhaupt gelesen habe. Ich habe es mit fünfzehn gelesen, gedrängt von einem älteren Mädchen, in das ich mich etwas verliebt hatte. Ich weiß gar nicht genau, was ich von ihm wollte, aber ich habe versucht, mit meinem Wissen über Bob Dylan Eindruck zu schinden. Da verdrehte sie die Augen und sagte, na schön, aber hast Du noch nichts von T- S. Eliot oder Virginias Woolf gehört."

    Da konnte der Junge nicht mithalten und ging also in die Schulbibliothek. Eliot kannte man dort auch nicht, doch von Virginia Woolf fand sich immerhin ein einziges Buch im Bestand: "Mrs Dalloway". Michael Cunningham:

    "Ich habe es ausgeliehen und gelesen, und es war natürlich viel zu hoch für mich mit fünfzehn. Ich habe aber etwas von der Sprache verstanden, von der Tiefe und Dichte und von der Schönheit der Sätze. Das war eine Offenbarung für mich. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass man so etwas allein mit Papier und Tinte bewerkstelligen konnte. Das Buch hat ein Licht in mir angezündet, und so hat mich "Mrs. Dalloway" von da an begleitet. Ich bin quasi verheiratet mit ihr, es ist das einzige Buch, über das ich in dieser Form schreiben könnte.

    Virginia Woolf lebt mit ihrem Mann in der Nähe von London und empfindet für einen Augenblick eine unglaubliche, auch erotische Liebe zu ihrer Schwester. Vor allem jedoch will sie einen guten Roman schreiben. Mrs. Brown opfert sich für die Familie, aber auch sie - trotz aller Banalität ihres Alltags - spürt eine höhere Bestimmung- Fünfzig Jahre später, den Frauen stehen mittlerweile ganz andere Möglichkeiten offen, lebt Clarissa mit ihrer Freundin zusammen und tut doch alles für den kranken Richard. Einzelne Motive stellen einen inneren Zusammenhang zwischen den Handlungsebenen her. Sie berühren den Leser und zeigen das Schicksal dreier Frauen, die in völlig unterschiedlichen Situationen zwischen ihrer Pflicht und geradezu maßlosen Wünschen hin- und herpendeln, nach den sich bietenden Möglichkeiten greifen und sich dabei stets am Abgrund des Scheiterns bewegen. Michael Cunningham:

    "Dies sind alle drei Frauen mit riesengroßen Ambitionen, auch wenn die von Laura Brown eher bescheiden aussehen, Aber sie ist nicht nur die Hausfrau, die ihre Pflicht erfüllt. Sie versucht, perfekt zu sein. Sie versucht, ihren Haushalt besser zu führen als möglich, sie versucht, einen besseren Kuchen zu backen, als man überhaupt backen kann. Und je höher das Ziel gesteckt ist, desto größer kann der Misserfolg sein. Jeder, der etwas besonderes tun möchte, einen großen Roman schreiben, einen besonderen Kuchen backen oder einen anderen Menschen richtig lieben, riskiert die totale Niederlage, aber das ist für mich heroisch. Jeder Mensch, der etwas riskiert für die Liebe, für die Kunst, wofür auch immer, ist ein Held für mich. Über solche Menschen möchte ich schreiben, auch wenn sie sehr gewöhnlich erscheinen."

    In seinen bisherigen Romanen standen schwule Figuren im Mittelpunkt. Solche Bücher werden auch in den USA in spezielle Schubladen gesteckt und gut verschlossen, lacht er. Den Pulitzer-Preis und auch den PEN/Faulkner Award hätte er dafür nie bekommen. Mit "Die Stunden" hat er es nun geschafft: raus aus dem Getto - hinein in die literarische Normalität. Dabei habe er sich immer gegen Zuschreibungen gewehrt, die einem Autor einen bestimmten Stempel aufdrücken, habe immer nur das beste aller Bücher geschrieben, das er gerade schreiben konnte:

    "Ich bin eher in etwas interessiert, das ich von Virginia Woolf gelernt habe. Das ist der entscheidende Punkt für ihre Brillanz, wie sie darauf besteht, dar, jede Stunde im Leben eines jeden Menschen alles Zeug für große Literatur enthält, die ganze Geschichte eines Menschen, so wie jede Zelle des Menschen den gesamten Gencode enthält. Virginia Woolf war die erste, die Anfang des Jahrhunderts mit ihrem Werk vermittelt hat, dass Kriege und der Tod des Königs zwar wichtig sind, dass aber jede Stunde in unserem Leben genauso bedeutend ist- Und sie bestand darauf, über ganz gewöhnliche Leute zu schreiben und in die ganze Tragik und Komik ihres Lebens in jeder einzelnen Stunde herauszufinden.