Rüdiger Achenbach: Wenn man nicht beansprucht, eine absolute Wahrheit zu besitzen, dann geht man auch anders mit den Heiligen Schriften um. Im Judentum betrifft das das Verständnis von mündlicher und schriftlicher Thora. Was ist genau damit gemeint?
Edna Brocke: Im engsten Sinne sind es die fünf Bücher Mose. Im etwas weiteren Sinne ist es die gesamte jüdische Bibel, was die Christen Altes Testament nennen. Weil diese beiden Teile in der jüdischen Geschichte und in der jüdischen Tradition ja mehr als nur eine religiöse Komponente haben, sondern ein Menschenbild und ein Gesellschaftsbild mitprägen oder sogar mitgestalten, hat es sehr schnell nach Entstehen dieser ersten Schriften den Wunsch gegeben, diese Schriften auszulegen und zu aktualisieren, wie soll ich das jetzt umsetzen.
Achenbach: Also jede Generation hat im Grunde genommen die Aufgabe, das wieder zu aktualisieren.
Brocke: Genau. Ich gebe Ihnen mal gern so ein Beispiel. In der Thora steht, du sollst am Sabbat-Tag keine Arbeit verrichten. Klingt plausibel. Sehr früh haben die Rabbinen verstanden, wir müssen uns zusammensetzen und definieren, was verstehen wir unter Arbeit. Denn das, was für mich Arbeit ist, kann für Sie zum Beispiel ein Hobby sein oder umgekehrt. Also, wenn wir eine Gemeinschaft bilden, in der wir sagen, am Sabbat-Tag soll keine Arbeit verrichtet werden, müssen wir uns erst einmal einig werden, was verstehen wir unter Arbeit und was nicht. Das ist eine juristische Definitionsfrage. Das ist ein plausibles Beispiel. Davon gibt es ganz viele. Das hat aber Eingang gefunden in die mündliche Thora. Und diese Auslegung, wie verstehe ich - bleiben wir bei diesem Beispiel - Arbeit am Sabbat, wird von Generation zu Generation neu interpretiert, anders interpretiert. Bestimmte Grundlagen werden immer beibehalten. Das würde jetzt zu weit führen, um in die Details zu gehen. Aber es gibt einen Gesamtrahmen. Aber ansonsten muss erläutert werden.
Diese Tradition der mündlichen Thora ist deshalb notwendig geworden, weil mit dem Entstehen des Christentums hat der innerbiblische Kommentierungsprozess ein Ende finden müssen. Man musste entscheiden, welche Bücher kommen in einen Kanon hinein. Die anderen müssen dann draußen bleiben. Denn die Jesus nachfolgenden Juden und die Juden-Juden standen miteinander in Konkurrenz. Die ersten Nachfolger Jesu aus dem Judentum waren ja ontisch gesprochen noch Juden, waren noch Teil des jüdischen Volkes. Und dieser bis dann übliche Prozess, bestimmte Auslegungen schon in die Schriften aufzunehmen und andere wieder fallen zu lassen, dieser Prozess der Verschriftlichung von Diskussionen musste unterbrochen werden, nicht abgebrochen, indem man einen Kanon gebildet hat - also Altes Testament oder die jüdische Bibel. Aber man hatte sofort das Bedürfnis, die Buchdeckel wieder aufzumachen. Sozusagen den Prozess setzten wir fort, aber nicht mehr in der gleichen Dignität wie die schriftliche Thora, sondern dann wie die mündliche Thora.
Achenbach: Man besitzt die Wahrheit nicht. Das heißt, man versucht sich der Wahrheit zu nähern, aber es gibt nie den absoluten Anspruch an einer bestimmten Stelle. Das heißt also, es kann Widersprüche geben in der Auslegung. Und auch das gehört eigentlich damit dazu, wenn man auf der Suche nach der Wahrheit ist, gibt es auch widersprüchliche Auslegungen. Nun gibt es im Judentum kein verbindliches Lehramt.
Brocke: Ja.
Achenbach: Was ist denn dann das Kriterium für die Akzeptanz bestimmter Auslegungen?
Brocke: Allein im Talmud - nehmen wir jetzt nur den babylonischen Talmud - können Sie zu verschiedenen Themen und zu verschiedenen Formen, die in der Thora schriftlich vorliegen, gegensätzliche Interpretationen finden, die im Laufe der Jahrhunderte einfach entstanden sind. Und in der Responsen-Literatur, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts üblich war, haben verschiedene Rabbiner von einer Stadt und von einer anderen Stadt gegensätzliche Meinungen gehabt. Am Ende steht dann immer, wir haben die Position und die Position, wir richten uns heute nach der Mehrheit.
Achenbach: So kann derjenige, der heute in dem Prozess der Auslegung einsteigt, sich dem einen oder dem anderen anschließen.
Brocke: Genauso. Und das, was die Akzeptanz ausmacht, ist die Gruppe, in die man sich dann selber einfindet - das kann eine sehr orthodoxe sein, das kann eine traditionelle sein, das kann eine Reform sein. In der Gruppe wird man einen Konsens finden. Das kann zum Beispiel hier in der Bundesrepublik von Gemeinde zu Gemeinde verschieden sein. Aber in der Gruppe findet man diesen Konsens und an den hält man sich vor Ort, weil man sagt: Unsere Mitglieder haben sich darauf verständigt. Natürlich ist in der Diaspora die Schwierigkeit, wenn mir der Konsens in der Gemeinde A nicht passt, aber ich wohne im Ort A, habe ich ein Problem, weil um die Ecke gibt es nicht eine zweite oder dritte Gemeinde. Da müssen ganz andere Kompromisse noch eingegangen werden - der Not gehorchend, aber nicht der Einsicht, dass der andere Weg der richtigere ist. Aber gut, ich habe dann keine Wahl. Entweder ich bin hier Mitglied oder ich lasse es sein. Aber ich habe keine Alternative mit einer anderen Gemeinde.
Achenbach: Das würde dann entsprechen dem Konzept der Einheitsgemeinde heute, wo man versucht auch unterschiedliche Strömungen aber dennoch in einer Gemeinde zusammenzuhalten.
Brocke: Das ist die Nachkriegsvariante hier in der Bundesrepublik, genau. Aus der Not heraus, dass es zahlenmäßig keine Optionen gibt, einen anderen Weg zu gehen.
Achenbach: Kann dieser fortwährende Auslegungsprozess, den Sie gerade dargestellt haben, das Judentum auch vor einem Schrift-Fundamentalismus schützen?
Brocke: Ich würde gerne mit einem glatten Ja antworten, aber wahrheitsgemäß muss ich sagen, es gibt in der orthodoxen und ultra-orthodoxen Szenerie - also meine Formulierung dazu ist - Auswüchse von solchen fundamentalistischen Richtungen. Eine kleine Gruppe von denen, die vielleicht hier oder die Sie auch schon mal gehört haben, ist so eine Gruppe, die eine Vision hat, den Dritten Tempel wieder errichten zu wollen. Das sind Menschen, das sind Juden, die aus den Texten sehr fundamentalistisch ableiten, was sie gerne politisch durchgesetzt hätten. Aber sie sind - jetzt meine Wertung - Gott sei Dank nur eine kleine Minderheit. Aber die gibt es.
Achenbach: Und es ist natürlich eine Minderheit, die an diesem fortwährenden Auslegungsprozess nicht teilhat, sondern die bestimmte Schriftformen konserviert und so stehen lässt, wie man es ähnlich aus manchen christlichen und manchen muslimischen Gemeinden kennt.
Brocke: Genauso. Ein zweites Beispiel sind die hierzulande optisch am besten bekannten Juden, nämlich ältere Männer mit schwarzen langen Mänteln, mit Bart und Schläfenlocken und mit so einer Pelzmütze. Das hat mit Judentum überhaupt nichts zu tun. Das ist die Tracht des polnischen Adels im 17. Jahrhundert. Und weil im 17. Jahrhundert die Juden in Polen ökonomisch eine höhere Stufe erreicht haben, gestattete man ihm diese Adelstracht zu tragen. Hat also mit jüdischer Tradition nichts zu tun. Den polnischen Adel gibt es nicht mehr. Polnische Adlige, die in so einer Tracht rumlaufen, gibt es auch nicht mehr. Nur die ultra-orthodoxen Juden laufen weiterhin so rum und halten ganz - jetzt würde ich fast sagen fundamentalistisch - an dieser Tracht fest, weil sie sie inzwischen als ihre Markenkleidung betrachten.
Achenbach: Für die gehört sie mit zur jüdischen Identität.
Brocke: Für diese Kreise gehört diese Adelstracht des 17. Jahrhunderts Polens zur jüdischen Identität. Ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Edna Brocke: Im engsten Sinne sind es die fünf Bücher Mose. Im etwas weiteren Sinne ist es die gesamte jüdische Bibel, was die Christen Altes Testament nennen. Weil diese beiden Teile in der jüdischen Geschichte und in der jüdischen Tradition ja mehr als nur eine religiöse Komponente haben, sondern ein Menschenbild und ein Gesellschaftsbild mitprägen oder sogar mitgestalten, hat es sehr schnell nach Entstehen dieser ersten Schriften den Wunsch gegeben, diese Schriften auszulegen und zu aktualisieren, wie soll ich das jetzt umsetzen.
Achenbach: Also jede Generation hat im Grunde genommen die Aufgabe, das wieder zu aktualisieren.
Brocke: Genau. Ich gebe Ihnen mal gern so ein Beispiel. In der Thora steht, du sollst am Sabbat-Tag keine Arbeit verrichten. Klingt plausibel. Sehr früh haben die Rabbinen verstanden, wir müssen uns zusammensetzen und definieren, was verstehen wir unter Arbeit. Denn das, was für mich Arbeit ist, kann für Sie zum Beispiel ein Hobby sein oder umgekehrt. Also, wenn wir eine Gemeinschaft bilden, in der wir sagen, am Sabbat-Tag soll keine Arbeit verrichtet werden, müssen wir uns erst einmal einig werden, was verstehen wir unter Arbeit und was nicht. Das ist eine juristische Definitionsfrage. Das ist ein plausibles Beispiel. Davon gibt es ganz viele. Das hat aber Eingang gefunden in die mündliche Thora. Und diese Auslegung, wie verstehe ich - bleiben wir bei diesem Beispiel - Arbeit am Sabbat, wird von Generation zu Generation neu interpretiert, anders interpretiert. Bestimmte Grundlagen werden immer beibehalten. Das würde jetzt zu weit führen, um in die Details zu gehen. Aber es gibt einen Gesamtrahmen. Aber ansonsten muss erläutert werden.
Diese Tradition der mündlichen Thora ist deshalb notwendig geworden, weil mit dem Entstehen des Christentums hat der innerbiblische Kommentierungsprozess ein Ende finden müssen. Man musste entscheiden, welche Bücher kommen in einen Kanon hinein. Die anderen müssen dann draußen bleiben. Denn die Jesus nachfolgenden Juden und die Juden-Juden standen miteinander in Konkurrenz. Die ersten Nachfolger Jesu aus dem Judentum waren ja ontisch gesprochen noch Juden, waren noch Teil des jüdischen Volkes. Und dieser bis dann übliche Prozess, bestimmte Auslegungen schon in die Schriften aufzunehmen und andere wieder fallen zu lassen, dieser Prozess der Verschriftlichung von Diskussionen musste unterbrochen werden, nicht abgebrochen, indem man einen Kanon gebildet hat - also Altes Testament oder die jüdische Bibel. Aber man hatte sofort das Bedürfnis, die Buchdeckel wieder aufzumachen. Sozusagen den Prozess setzten wir fort, aber nicht mehr in der gleichen Dignität wie die schriftliche Thora, sondern dann wie die mündliche Thora.
Achenbach: Man besitzt die Wahrheit nicht. Das heißt, man versucht sich der Wahrheit zu nähern, aber es gibt nie den absoluten Anspruch an einer bestimmten Stelle. Das heißt also, es kann Widersprüche geben in der Auslegung. Und auch das gehört eigentlich damit dazu, wenn man auf der Suche nach der Wahrheit ist, gibt es auch widersprüchliche Auslegungen. Nun gibt es im Judentum kein verbindliches Lehramt.
Brocke: Ja.
Achenbach: Was ist denn dann das Kriterium für die Akzeptanz bestimmter Auslegungen?
Brocke: Allein im Talmud - nehmen wir jetzt nur den babylonischen Talmud - können Sie zu verschiedenen Themen und zu verschiedenen Formen, die in der Thora schriftlich vorliegen, gegensätzliche Interpretationen finden, die im Laufe der Jahrhunderte einfach entstanden sind. Und in der Responsen-Literatur, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts üblich war, haben verschiedene Rabbiner von einer Stadt und von einer anderen Stadt gegensätzliche Meinungen gehabt. Am Ende steht dann immer, wir haben die Position und die Position, wir richten uns heute nach der Mehrheit.
Achenbach: So kann derjenige, der heute in dem Prozess der Auslegung einsteigt, sich dem einen oder dem anderen anschließen.
Brocke: Genauso. Und das, was die Akzeptanz ausmacht, ist die Gruppe, in die man sich dann selber einfindet - das kann eine sehr orthodoxe sein, das kann eine traditionelle sein, das kann eine Reform sein. In der Gruppe wird man einen Konsens finden. Das kann zum Beispiel hier in der Bundesrepublik von Gemeinde zu Gemeinde verschieden sein. Aber in der Gruppe findet man diesen Konsens und an den hält man sich vor Ort, weil man sagt: Unsere Mitglieder haben sich darauf verständigt. Natürlich ist in der Diaspora die Schwierigkeit, wenn mir der Konsens in der Gemeinde A nicht passt, aber ich wohne im Ort A, habe ich ein Problem, weil um die Ecke gibt es nicht eine zweite oder dritte Gemeinde. Da müssen ganz andere Kompromisse noch eingegangen werden - der Not gehorchend, aber nicht der Einsicht, dass der andere Weg der richtigere ist. Aber gut, ich habe dann keine Wahl. Entweder ich bin hier Mitglied oder ich lasse es sein. Aber ich habe keine Alternative mit einer anderen Gemeinde.
Achenbach: Das würde dann entsprechen dem Konzept der Einheitsgemeinde heute, wo man versucht auch unterschiedliche Strömungen aber dennoch in einer Gemeinde zusammenzuhalten.
Brocke: Das ist die Nachkriegsvariante hier in der Bundesrepublik, genau. Aus der Not heraus, dass es zahlenmäßig keine Optionen gibt, einen anderen Weg zu gehen.
Achenbach: Kann dieser fortwährende Auslegungsprozess, den Sie gerade dargestellt haben, das Judentum auch vor einem Schrift-Fundamentalismus schützen?
Brocke: Ich würde gerne mit einem glatten Ja antworten, aber wahrheitsgemäß muss ich sagen, es gibt in der orthodoxen und ultra-orthodoxen Szenerie - also meine Formulierung dazu ist - Auswüchse von solchen fundamentalistischen Richtungen. Eine kleine Gruppe von denen, die vielleicht hier oder die Sie auch schon mal gehört haben, ist so eine Gruppe, die eine Vision hat, den Dritten Tempel wieder errichten zu wollen. Das sind Menschen, das sind Juden, die aus den Texten sehr fundamentalistisch ableiten, was sie gerne politisch durchgesetzt hätten. Aber sie sind - jetzt meine Wertung - Gott sei Dank nur eine kleine Minderheit. Aber die gibt es.
Achenbach: Und es ist natürlich eine Minderheit, die an diesem fortwährenden Auslegungsprozess nicht teilhat, sondern die bestimmte Schriftformen konserviert und so stehen lässt, wie man es ähnlich aus manchen christlichen und manchen muslimischen Gemeinden kennt.
Brocke: Genauso. Ein zweites Beispiel sind die hierzulande optisch am besten bekannten Juden, nämlich ältere Männer mit schwarzen langen Mänteln, mit Bart und Schläfenlocken und mit so einer Pelzmütze. Das hat mit Judentum überhaupt nichts zu tun. Das ist die Tracht des polnischen Adels im 17. Jahrhundert. Und weil im 17. Jahrhundert die Juden in Polen ökonomisch eine höhere Stufe erreicht haben, gestattete man ihm diese Adelstracht zu tragen. Hat also mit jüdischer Tradition nichts zu tun. Den polnischen Adel gibt es nicht mehr. Polnische Adlige, die in so einer Tracht rumlaufen, gibt es auch nicht mehr. Nur die ultra-orthodoxen Juden laufen weiterhin so rum und halten ganz - jetzt würde ich fast sagen fundamentalistisch - an dieser Tracht fest, weil sie sie inzwischen als ihre Markenkleidung betrachten.
Achenbach: Für die gehört sie mit zur jüdischen Identität.
Brocke: Für diese Kreise gehört diese Adelstracht des 17. Jahrhunderts Polens zur jüdischen Identität. Ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.